Schadensersatz in einem sog. Dieselfall: Erforderlichkeit einer Anschlussberufung bei Übergang vom Antrag auf "großen" Schadensersatz zum Antrag auf Ersatz des Differenzschadens unter Aufgabe des Zug-um-Zug-Vorbehalts
Leitsatz
Der Übergang vom Antrag auf "großen" Schadensersatz zum Antrag auf Ersatz des Differenzschadens unter Aufgabe des Zug-um-Zug-Vorbehalts setzt eine Anschlussberufung grundsätzlich nicht voraus.
Gesetze: § 31 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 826 BGB, § 6 Abs 1 EG-FGV, § 27 Abs 1 EG-FGV, § 524 Abs 1 ZPO, § 524 Abs 2 ZPO, Art 5 Abs 2 S 1 EGV 715/2007
Instanzenzug: Az: VIa ZR 1132/22 Beschlussvorgehend Az: 24 U 278/21vorgehend Az: 14 O 281/21
Tatbestand
1Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Die Klägerin kaufte am von der Beklagten zum Preis von 35.500 € einen von dieser hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz C 300 h sowie gegen ein Entgelt von 836 € einen Satz Winterreifen nebst Felgen. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet. Die Abgasrückführung wird temperaturabhängig gesteuert und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" bei Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert. Das Fahrzeug verfügt über eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), die durch den Einsatz einer Kühlung die Erwärmung des Motoröls verzögert. Die Abgasnachbehandlung erfolgt über ein SCR-System unter Verwendung des Harnstoffgemischs "AdBlue".
3Die Klägerin hat die Beklagte unter den Gesichtspunkten der kaufrechtlichen Gewährleistung und ihrer deliktischen Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs in Anspruch genommen. Das Landgericht hat der Klage unter dem Aspekt einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung teilweise stattgegeben. Es hat die Beklagte zur Zahlung von 33.192,81 € (Kaufpreis für das Fahrzeug und Entgelt für die Winterreifen abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 3.143,19 €) nebst Zinsen abzüglich einer weiteren noch zu beziffernden Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nebst zugehörigem Winterreifensatz (Tenor zu 1) und zur Erstattung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen (Tenor zu 3) verurteilt sowie den Annahmeverzug der Beklagten festgestellt (Tenor zu 2). Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht insoweit zugelassenen Revision begehrt die Klägerin, gestützt auf ihre deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs, die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils mit der Maßgabe, dass sie statt des im Tenor zu 1 ausgeurteilten Betrags nur noch einen Betrag von 7.000 € (für das Fahrzeug gezahlter Kaufpreis in Höhe eines Teilbetrags von 10.143,19 € abzüglich der vom Landgericht mit 3.143,19 € berechneten Nutzungsentschädigung) verlangt.
Gründe
4Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
6Ein Anspruch aus § 826 BGB scheide aus. Die Klägerin habe weder tatsächliche Anhaltspunkte für eine prüfstandsbezogene Ausgestaltung - unterstellter - unzulässiger Abschalteinrichtungen in Form des Thermofensters, der KSR oder des Wechsels zwischen Online- und Füllstandsmodus der "AdBlue"-Dosierung aufgezeigt noch weitere Umstände angeführt, die für ein vorsätzliches Handeln von Repräsentanten der Beklagten sprächen. Eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6, 27 EG-FGV scheitere bereits daran, dass die Vorschriften der EG-FGV nicht den Schutz des individuellen Interesses bezweckten, kein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben.
II.
7Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
81. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
92. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
10Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , NJW 2024, 361 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
11Das angefochtene Urteil ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
12darzulegen. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245an den in den landgerichtlichen Tenor zu 1 aufgenommenen Zug-um-Zug-Vorbehalt nicht gebunden sein. Der Übergang vom Antrag auf "großen" Schadensersatz zum Antrag auf Ersatz des Differenzschadens unter Aufgabe des Zug-um-Zug-Vorbehalts setzt eine Anschlussberufung grundsätzlich nicht voraus (offen gelassen in VIa ZR 1031/22, NJOZ 2023, 1133 Rn. 26).
13a) Ein Anschluss des in erster Instanz erfolgreichen Klägers an die Berufung des Beklagten ist erforderlich, wenn er sich nicht auf die Abwehr der Berufung und die Verteidigung des erstinstanzlichen Urteils beschränken, sondern im Wege der Klageänderung einen neuen, erstinstanzlich nicht vorgebrachten Anspruch geltend machen oder den in erster Instanz gestellten Klageantrag - auch nach § 525 Satz 1, § 264 Nr. 2 ZPO - erweitern möchte (, NJW 2008, 1953 Rn. 13 ff.; Urteil vom - V ZR 197/10, WuM 2011, 311 Rn. 11; Urteil vom - VII ZR 145/12, NJW 2015, 2812 Rn. 28; Urteil vom - VIII ZR 233/21, NZM 2022, 922 Rn. 69; Urteil vom - VII ZR 363/21, juris Rn. 18).
14b) Der Übergang von einem auf §§ 826, 31 BGB gestützten Antrag auf "großen" Schadensersatz zu einem auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gestützten Antrag auf Ersatz des Differenzschadens führt nicht zur Änderung des Klagegrunds. Dem nach §§ 826, 31 BGB ersatzfähigen "großen" Schadensersatz und dem nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu ersetzenden Differenzschaden liegen lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde, die im Kern an die gescheiterte Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen ( VIa ZR 680/21, NJW-RR 2022, 1251 Rn. 26; VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 45; - VIa ZR 1031/22, NJOZ 2023, 1133 Rn. 10 und 25; Urteil vom - VIa ZR 45/22, juris Rn. 5; zum Wechsel vom "großen" zum "kleinen" Schadensersatz vgl. , BGHZ 115, 286, 291 f.; Urteil vom - VII ZR 46/17, BGHZ 218, 1 Rn. 53).
15c) Der Wegfall des Zug-um-Zug-Vorbehalts führt beim Übergang vom "großen" Schadensersatz zum Differenzschaden grundsätzlich nicht zu einer Erweiterung des Klagebegehrens. An die Stelle des nach dem Grundsatz der Vorteilsausgleichung Zug um Zug zu übergebenden und zu übereignenden Fahrzeugs ( VIa ZR 485/21, BGHZ 234, 246 Rn. 20; Urteil vom - VIa ZR 1517/22, NJW 2023, 2635 Rn. 7, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 237, 59) tritt in diesem Fall die schadensmindernde Anrechnung des Restwerts des Fahrzeugs, soweit (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 44 und 80). Der Kläger, der statt des bisher verlangten "großen" Schadensersatzes den Ersatz des Differenzschadens begehrt, gibt regelmäßig nicht nur den Zug-um-Zug-Vorbehalt auf, sondern verringert zugleich den ersetzt verlangten Betrag. Bei wirtschaftlicher Gesamtbetrachtung des Klageantrags geht der zu ersetzende Differenzschaden daher nicht über den "großen" Schadensersatz hinaus.
16Insofern gilt nichts anderes als in dem Fall, dass der Kläger im Berufungsverfahren nach der Veräußerung des Fahrzeugs auf den bisherigen Zug-um-Zug-Vorbehalt verzichtet, aber unter Anrechnung des erzielten marktgerechten Verkaufserlöses einen geringeren als den erstinstanzlich verlangten Betrag begehrt (vgl. , NJW 1990, 2683, 2684; Urteil vom - VI ZR 533/20, NJW 2021, 3594 Rn. 29), und in dem es einer Anschlussberufung grundsätzlich ebenfalls nicht bedarf. Soweit der Senat in der Entscheidung vom ausgeführt hat, dass bereits wegen des Wegfalls des Zug-um-Zug-Vorbehalts eine Anschlussberufung erforderlich sei (VIa ZR 83/23, juris Rn. 15), hält er daran nicht fest. Der dortige Kläger hatte sich indessen nicht auf die Verteidigung des erstinstanzlichen Urteils beschränkt, sondern die anrechenbare Nutzungsentschädigung aufgrund einer höheren Gesamtlaufleistung als vom Landgericht veranschlagt berechnet und so sein zweitinstanzliches Klagebegehren gegenüber der erstinstanzlichen Verurteilung erweitert.
17die erforderlichen
C. Fischer Möhring Krüger
Wille Liepin
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230424UVIAZR1132.22.0
Fundstelle(n):
WM 2024 S. 1143 Nr. 24
EAAAJ-67360