BSG Beschluss v. - B 4 AS 188/22 BH

Sozialgerichtliches Verfahren - Berufungsverfahren - Übertragung der Entscheidung auf den sog kleinen Senat - Zuständigkeit für die Entscheidung über während des Berufungsverfahrens erfolgte Klageänderungen

Leitsatz

Durch den Übertragungsbeschluss wird der Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern (sogenannter kleiner Senat) auch für die Entscheidung über Klageänderungen, die während des Berufungsverfahrens erfolgen, zuständig.

Gesetze: § 153 Abs 5 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 99 SGG, § 140 SGG

Instanzenzug: SG Gelsenkirchen Az: S 44 AS 2251/19vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 12 AS 329/21 Urteil

Gründe

1Nach § 73a SGG iVm § 114 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet; das ist hier nicht der Fall. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG) in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich zu begründen. Da kein Anspruch auf Bewilligung von PKH besteht, sind auch die Anträge auf Beiordnung eines Rechtsanwalts abzulehnen (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 ZPO).

2Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Solche Zulassungsgründe sind nach summarischer Prüfung des Streitstoffs auf der Grundlage des Inhalts der Gerichtsakten sowie unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers nicht erkennbar.

3Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist nur anzunehmen, wenn eine Rechtsfrage aufgeworfen wird, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Dies ist hier nicht der Fall. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht, weshalb eine Divergenzrüge keine Aussicht auf Erfolg verspricht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).

4Nach Aktenlage ist schließlich nicht ersichtlich, dass ein Verfahrensmangel geltend gemacht werden könnte, auf dem die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG). Insbesondere liegt kein Verfahrensmangel darin, dass das LSG durch den sog kleinen Senat mit dem Berichterstatter und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 153 Abs 5 SGG) entschieden hat (zu den Voraussetzungen des § 153 Abs 5 SGG zuletzt etwa - juris RdNr 3, 10 mwN), obwohl er nicht nur die Berufung zurückgewiesen, sondern auch über die im Berufungsverfahren erfolgte Klageänderung entschieden hat.

5Durch den Übertragungsbeschluss vom ist der kleine Senat zum gesetzlichen Richter für das Berufungsverfahren geworden. Der Übertragungsbeschluss bewirkt die Delegation der Zuständigkeiten des Gesamtsenats auf den kleinen Senat; Letzterer tritt an die Stelle des Gesamtsenats. Er ist nicht darauf beschränkt, nur über die Berufung im engeren Sinne zu entscheiden. Anders als § 153 Abs 4 Satz 1 SGG, der die Möglichkeit der Entscheidung durch Beschluss dem Wortlaut nach auf die Zurückweisung der Berufung beschränkt, ist § 153 Abs 5 SGG offen ohne Begrenzung auf einen bestimmten Entscheidungsinhalt formuliert: Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet. Entsprechend ist in der Rechtsprechung des BSG bzw Literatur bereits anerkannt, dass der kleine Senat - außerhalb der mündlichen Verhandlung damit nur der Berichterstatter (§ 33 Abs 1 Satz 2 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 SGG) - auch über Urteilsergänzungsanträge ( BH - juris RdNr 5; BH - juris RdNr 5), Klageänderungen iS des § 99 Abs 3 SGG ( BH - juris RdNr 5; BH - juris RdNr 9), Ordnungsmaßnahmen ( - juris RdNr 7) und Nebenentscheidungen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 153 RdNr 25d; Sommer in BeckOGK SGG, § 153 RdNr 48, Stand ) befinden darf und - da nur er gesetzlicher Richter ist - auch muss. Nach dieser Rechtsprechung erfasst § 153 Abs 5 SGG das gesamte Berufungsverfahren.

6Der kleine Senat des LSG ist daher auch befugt gewesen, über die Zulässigkeit der Klageänderung im Berufungsverfahren zu entscheiden. Bei dieser Entscheidung handelt es sich um eine Entscheidung "im Berufungsverfahren". Zwar geht das BSG davon aus, dass über eine Klageänderung "auf Klage" entschieden wird (etwa - juris RdNr 7), zugleich aber auch, dass im Wege der Klageänderung in das Verfahren eingeführte Streitgegenstände "Gegenstand des Berufungsverfahrens" werden ( - SozR 4-2500 § 13 Nr 48 RdNr 12; - juris RdNr 10; - BSGE 131, 22 = SozR 4-4200 § 22 Nr 111, RdNr 16; - juris RdNr 7). Es ist gerade Sinn der Regelungen über die gesetzliche und die gewillkürte Klageänderung, dass diese - auch im Berufungsverfahren - Gegenstand eines einheitlichen Rechtsstreits werden.

7Dies ergibt sich auch aus einem Erst-Recht-Schluss angesichts der Rechtsprechung des BSG zu § 153 Abs 4 Satz 1 SGG. Danach kann das LSG durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG nicht nur die Berufung zurückweisen, sondern auch darüber entscheiden, ob sich das Verfahren erledigt hat ( - juris RdNr 7; BH - juris RdNr 13; implizit auch - juris RdNr 10 ff), und über Urteilsergänzungsanträge ( - juris RdNr 10 mwN). Auch ist das LSG befugt, über die Zulässigkeit von Klageänderungen durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zu entscheiden (ausführlich - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; zuvor bereits - juris RdNr 6; - juris RdNr 6; - juris RdNr 11; vgl auch - juris RdNr 2 f). Für den weniger restriktiv formulierten § 153 Abs 5 SGG gilt dies erst recht.

8Eine andere Auslegung des § 153 Abs 5 SGG würde auch die mit der Einführung des kleinen Senats intendierte Zielsetzung konterkarieren. § 153 Abs 5 SGG wurde durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom (BGBl I 444) eingeführt. Ziel war es, die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten und zugleich eine Straffung der sozialgerichtlichen Verfahren herbeizuführen (Begründung des Gesetzentwurfs vom , BT-Drucks 16/7716, S 1). Der Anwendungsbereich des § 153 Abs 5 SGG würde leerlaufen, wenn Kläger es in der Hand hätten, allein durch eine - und sei es auch noch so sinnlose - Klageänderung die Entscheidungskompetenz des kleinen Senats zu beseitigen und damit zu manipulieren, wer gesetzlicher Richter ist. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter ist nicht nur ein Anspruch des Klägers, sondern auch des jeweiligen Beklagten und darüber hinaus eine objektivrechtliche Vorgabe der Verfassung. Die Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers steht daher nicht zur Disposition eines einzelnen Beteiligten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:131223BB4AS18822BH0

Fundstelle(n):
HAAAJ-67239