Anspruch eines Beschuldigten auf Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer ihm verständlichen Sprache
Gesetze: Art 6 Abs 3 Buchst a MRK, Art 103 Abs 2 GG, § 187 Abs 2 GVG, § 200 StPO, § 265 StPO
Instanzenzug: Az: 1 Ks 20 Js 8158/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet er sich mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen sowie die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist bereits auf die – entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts unter Heranziehung des Urteilsinhalts zulässig erhobene – Rüge des Angeklagten aufzuheben, das Landgericht habe ihm unter Verletzung seiner Verfahrensrechte aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK, § 187 Abs. 2 GVG, §§ 200, 265 StPO und Art. 103 Abs. 2 GG keine in die türkische Sprache übersetzte Anklageschrift überlassen.
21. Der Beanstandung liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:
3a) Der der deutschen Sprache nur rudimentär mächtige Angeklagte beantragte zu Beginn der Hauptverhandlung deren Aussetzung. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass er, auch wenn er die kurdische Sprache besser spreche als die türkische, geschriebene Texte nur auf Türkisch verstehen könne. Eine türkische Übersetzung der Anklageschrift sei ihm nicht ausgehändigt worden.
4b) Mit Beschluss vom lehnte das Landgericht den Aussetzungsantrag unter näherer Darlegung im Einzelnen ab. Soweit der Angeklagte die Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache begehre, könne ihm eine solche im Laufe der anderweitig gebotenen Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zum zur Verfügung gestellt werden.
5c) Eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache erhielt der Angeklagte bis zum Schluss der Hauptverhandlung nicht. Der Anklagesatz wurde für den Angeklagten während seiner Verlesung mündlich übersetzt, ebenso der weitere Verlauf der Hauptverhandlung. Der Angeklagte ließ sich am sechsten von insgesamt elf Hauptverhandlungstagen zur Sache ein. Er bestritt die ihm zur Last gelegte Tat.
62. Die zulässig erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Verfahrensrüge ist begründet. Der Angeklagte wurde in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK verletzt, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden.
7a) Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK gewährt dem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich das Recht auf Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache. Dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen. Denn ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist, was nicht zuletzt die Kenntnis der Anklageschrift einschließlich des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen voraussetzt. Die mündliche Übersetzung allein des Anklagesatzes genügt nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist (vgl. , BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 23 f.; Beschluss vom – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 4).
8b) Letzteres trifft auf den dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurf des Mordes, zumal unter Annahme von zwei Mordmerkmalen, nicht zu. Jedenfalls angesichts der Schwere und Komplexität des konkret erhobenen Tatvorwurfs genügte auch der Haftbefehl vom , der dem Angeklagten in türkischer Übersetzung ausgehändigt worden war, nicht, um diesen über Art und Grund der in der Hauptverhandlung erhobenen Beschuldigung in allen Einzelheiten zu informieren; der Angeklagte ist nicht gehalten, den Haftbefehl mit der Anklage abzugleichen. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass dem Angeklagten mit dem Haftbefehl – anders als mit dem zu Beginn der Hauptverhandlung verlesenen Anklagesatz (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) – die Erfüllung von lediglich einem Mordmerkmal angelastet worden war. Ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist (, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 24).
9c) Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend mit Blick auf die gerügte Verletzung des § 187 Abs. 2 Satz 1, Satz 3 GVG.
10d) Dass der Angeklagte einen Verteidiger hat, führt unter den hier gegebenen Umständen – auch unter Berücksichtigung des § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG – zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung (vgl. aaO; Beschluss vom – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 4 mwN).
113. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf einem etwaigen Informationsdefizit des Angeklagten beruht. Es kann dahinstehen, in welchem Umfang und zu welchen Beweistatsachen zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte zur Sache eingelassen hat, die Beweisaufnahme bereits durchgeführt worden war. Denn nach der Wiedergabe seiner Einlassung in den Urteilsgründen hat er das Tatgeschehen in weiten Teilen abweichend vom Anklagevorwurf geschildert. Damit hat er sich in vollem Umfang gegen die ihm angelastete Beschuldigung gestellt, soweit diese sich im bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme bereits abgebildet hatte (insoweit anders: , BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 5 [umfassendes Geständnis]; vgl. Urteil vom – 2 StR 457/14 Rn. 12, 26 [überwiegendes Bestreiten]). Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte insgesamt in anderer Weise als tatsächlich erfolgt auf den Verfahrensverlauf Einfluss genommen hätte, wäre er gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK über Art und Umfang des Tatvorwurfs in allen Einzelheiten frühzeitig informiert worden.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:050324B1STR366.23.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-67159