Nachweis des Tatentschlusses im Rahmen einer Verurteilung wegen versuchten Mordes; Beweiserwägungen zur Annahme bedingten Tötungsvorsatzes; gefährliche Körperverletzung mittels eines Fahrzeugs
Gesetze: § 15 StGB, § 23 Abs 1 StGB, § 211 Abs 2 StGB, § 212 Abs 1 StGB, § 224 Abs 1 Nr 2 StGB, § 224 Abs 1 Nr 5 StGB
Instanzenzug: Az: 1 Ks 21/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr, mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, mit Körperverletzung und mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr sowie wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte unter Einbeziehung einer Strafe aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Außerdem hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von zwei Jahren verhängt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
2Soweit hier von Relevanz hat das Landgericht zum Fall II.1.b) der Urteilsgründe folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3Der infolge vorangegangenen Kokainkonsums fahruntüchtige Angeklagte befuhr mit einem nicht auf ihn zugelassenen Pkw Volvo, in dem sich die Zeugin W. auf dem Beifahrersitz befand, die Bundesautobahn 6 in Fahrtrichtung S. . Hierbei überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit um über 40 km/h. Die eine Geschwindigkeitsmessung durchführenden Polizeibeamten PKin K. und POK B. entschlossen sich daraufhin, das Fahrzeug einer Verkehrskontrolle zu unterziehen. Im Verlauf dieser auf einem Rastplatz durchgeführten Maßnahme forderten die Beamten den Angeklagten zum Aussteigen auf. Da dieser befürchtete, dass bei der polizeilichen Kontrolle seine Personalien sowie seine drogenbedingte Fahruntüchtigkeit festgestellt würden, startete er den Motor, um zu flüchten. Die Zeugin K. griff daraufhin mit ihrem linken Arm durch das geöffnete Fenster nach dem Fahrzeugschlüssel, um den Angeklagten am Wegfahren zu hindern. In diesem Moment gab der Angeklagte Gas und fuhr ruckartig rückwärts, wobei er den Eintritt von Verletzungen der Polizeibeamten billigend in Kauf nahm, die durch das anfahrende Fahrzeug massiv zur Seite gestoßen wurden. Die Zeugin K. , deren linker Arm sich im Inneren des Fahrzeugs befand, wurde an der linken Körperhälfte und am Kopf von dem anfahrenden Fahrzeug getroffen. Der sie festhaltende Zeuge B. zog sich eine Knieverletzung mit einem Meniskusriss zu und erlitt in der Folge einen schwerwiegenden Knorpelschaden. Der Angeklagte fuhr mit sehr hoher Geschwindigkeit davon.
4Auf die wiederholte Aufforderung der Zeugin W. , sie aussteigen zu lassen, verlangsamte der Angeklagte kurz sein Fahrzeug, wobei er es nie gänzlich zum Stehen brachte. Die Zeugin stieg bei geringer Geschwindigkeit aus dem fahrenden Fahrzeug aus, stürzte dabei und zog sich hierdurch schmerzhafte Prellungen zu, was der Angeklagte billigend in Kauf nahm.
5Im weiteren Verlauf gelang es den Beamten K. und B. , die den Angeklagten verfolgten, ihn wieder einzuholen. Aufgrund seiner Flucht war durch andere Polizeikräfte zwischenzeitlich eine erste Straßensperre errichtet und ein Polizeifahrzeug an einem Fahrbahnteiler auf der Fahrbahn abgestellt worden, auf welches der Angeklagte mit unvermindert hoher Geschwindigkeit zufuhr. Um eine unmittelbar bevorstehende Kollision zu vermeiden, fuhr ein Polizeibeamter das Polizeifahrzeug auf die gegenüberliegende Fahrspur und gab damit den Richtungsfahrstreifen des Angeklagten frei. Dieser passierte die Stelle daraufhin unfallfrei und setzte seine Flucht ungehindert fort.
6Mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h erreichte der Angeklagte eine zweite, durch den Nebenkläger PK O. und die Zeugin PKin M. errichtete Straßensperre. Um die Fluchtfahrt des Angeklagten zu beenden, hatten die Beamten ein Polizeifahrzeug vom Typ Mercedes Benz Vito quer auf die Straße gestellt, die aus Fahrtrichtung des Angeklagten gesehen linksseitig von großen Steinen gesäumt wurde. Rechts von dem Polizeifahrzeug befand sich ein Bürgersteig, an den eine Hecke angrenzte. Der Angeklagte fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit zunächst auf das Polizeifahrzeug zu, lenkte sein Fahrzeug jedoch dann nach rechts und fuhr auf den Nebenkläger, welcher sich mit seiner dienstlichen – mit Reflektoren versehenen – Bekleidung in Fahrtrichtung rechts neben dem Polizeifahrzeug befand, zu. Ziel des Angeklagten war es nach wie vor, einer polizeilichen Kontrolle und der hiermit verbundenen Einleitung eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens zu entgehen. Der Nebenkläger konnte sich im letzten Moment durch einen schnellen Ausfallschritt auf den Bürgersteig einer Kollision entziehen. Das Fahrzeug des Angeklagten verfehlte den Nebenkläger lediglich um die Länge eines ausgestreckten Armes, wobei der Angeklagte den Tod des Nebenklägers billigend in Kauf nahm und anschließend seine Flucht weiter fortsetzte. Sachverständig beraten ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt im Sinne des § 21 StGB aufgrund vorangegangenen Kokainkonsums erheblich vermindert war.
II.
7Während die Schuld- und Strafaussprüche in den Fällen II.1.a) und II.1.c) der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweisen, kann die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.1.b) der Urteilsgründe nicht bestehen bleiben.
81. Die tateinheitliche Verurteilung wegen versuchten Mordes zum Nachteil des Nebenklägers hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
9Das Landgericht hat einen Tatentschluss des Angeklagten nicht tragfähig belegt.
10a) Der Tatbestand eines versuchten Delikts verlangt in subjektiver Hinsicht (Tatentschluss) das Vorliegen einer vorsatzgleichen Vorstellung, die sich auf alle Umstände des äußeren Tatbestandes bezieht (vgl. Rn. 24). Der Tatentschluss im Hinblick auf einen Totschlag (§ 212 StGB) oder Mord (§ 211 Abs. 2 StGB) setzt daher voraus, dass der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten. Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Vorsatzelemente umfassend zu prüfen und ggf. durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivlage und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht zieht. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung wenngleich nicht den alleinigen, so doch einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 10 mwN; Urteil vom – 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900, 2902; Urteil vom – 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93 mwN).
11b) Gemessen hieran hält die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiserwägungen zur voluntativen Seite sind lückenhaft.
12aa) Das Landgericht hat mögliche Auswirkungen der akuten Intoxikation des Angeklagten zwar im Hinblick auf das Wissenselement des Vorsatzes erörtert. Hingegen fehlen entsprechende vorsatzkritische Erwägungen bei der Prüfung des voluntativen Vorsatzelements (vgl. , juris Rn. 5, 8; Urteil vom – 2 StR 428/17, juris Rn. 10), obwohl hierzu aufgrund der getroffenen Feststellungen zu den Wirkungen der akuten Kokain-Intoxikation Anlass bestand. Diese führte nach den tatgerichtlichen Feststellungen neben einer erhöhten Risikobereitschaft zu „erhöhtem Selbstvertrauen“ bzw. zu einer „Selbstüberschätzung“ und hätte daher Anlass zur Prüfung und Erörterung geben müssen, ob der Angeklagte seine Fähigkeit zur Vermeidung einer Kollision überschätzte.
13bb) Ferner greift die Auffassung des Tatgerichts, es spreche „nichts“ dafür, dass der Angeklagte darauf gehofft oder darauf vertraut habe, dass der Polizeibeamte rechtzeitig beiseite springe, unter den hier gegebenen Umständen zu kurz. Denn erfahrungsgemäß weichen Polizeibeamte Kraftfahrern aus, die eine Polizeisperre durchbrechen wollen, wobei Täter im Allgemeinen mit derartigen Fluchtreaktionen rechnen (vgl. , juris Rn. 13; Beschluss vom – 4 StR 628/95, NStZ-RR 1996, 97 mwN) und um ihres Zieles Willen zwar eine Gefährdung der Polizeibeamten in Kauf nehmen, nicht aber deren Tötung (, NStZ-RR 1996, 97 mwN). Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte Grund zu der Annahme hatte, der Nebenkläger werde im vorliegenden Fall ein erhöhtes Eigenrisiko eingehen, sind weder festgestellt noch ergeben sie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe.
14cc) Weiterhin hätte sich das Landgericht zu einer näheren Erörterung des voluntativen Vorsatzelements auch aufgrund der unmittelbaren Vorerfahrung des Angeklagten anlässlich der ersten polizeilichen Straßensperre gedrängt sehen müssen. Denn dort haben die Beamten die Fahrbahn letztlich freigegeben, ohne dass es zu einer Kollision kam.
152. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes. Dies hat auch die Aufhebung der tateinheitlichen Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zur Folge (vgl. , NJW 2012, 325, 328).
163. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II.1.b) der Urteilsgründe entzieht auch der Gesamtstrafe und dem Maßregelausspruch die Grundlage. Die Sache bedarf auch insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.
III.
17Für die neue Hauptverhandlung sieht der Senat Anlass zu folgendem Hinweis:
18Sollte das neue Tatgericht zu ähnlichen Feststellungen gelangen, wird es bei der Prüfung einer gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der Zeugen K. und B. auch eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB in Betracht zu ziehen haben. Dabei wird zu beachten sein, dass die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB und nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB jeweils ein spezifisches Unmittelbarkeitserfordernis („mittels“) voraussetzt. Wird ein Kraftfahrzeug als Werkzeug eingesetzt, muss die körperliche Misshandlung also bereits durch den Anstoß selbst ausgelöst und die Verletzung auf einen unmittelbaren Kontakt zwischen Fahrzeug und Körper zurückzuführen sein. Verletzungen, die erst durch ein anschließendes Sturzgeschehen oder eine Ausweichbewegung des Tatopfers verursacht worden sind, genügen insoweit nicht (vgl. mwN; Urteil vom – 4 StR 442/18, juris Rn. 24). Eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB setzt voraus, dass die Art der Behandlung des jeweiligen Geschädigten durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls (generell) geeignet wäre, das Leben zu gefährden. Eine Lebensgefahr, die sich erst aus weiteren äußeren Umständen ergibt, reicht dafür nicht aus (vgl. Rn. 4 mwN). Das „Zur-Seite-Stoßen“ durch das anfahrende Fahrzeug trägt diese Bewertung ohne nähere Feststellungen bereits in objektiver Hinsicht jedenfalls hinsichtlich des Zeugen B. nicht ohne Weiteres. Soweit ein Körperverletzungserfolg erst durch ein durch das Ergreifen seiner Kollegin K. verursachtes Sturzgeschehen ausgelöst wurde, wäre zudem nicht belegt, dass dieser „mittels“ einer das Leben gefährdenden Behandlung durch den Angeklagten eingetreten ist (vgl. , juris Rn. 6) bzw. die Körperverletzung „mittels“ des Fahrzeugs als anderes gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB begangen wurde (vgl. ).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:051223B4STR170.23.0
Fundstelle(n):
SAAAJ-66178