Instanzenzug: Az: 8 U 3001/21vorgehend LG Ansbach Az: 3 O 412/20 Ver
Gründe
1I. Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Mitte der 1980er-Jahre mit deren Rechtsvorgängerin abgeschlossene Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, welcher "Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung nach dem Tarif BUZ" zugrunde liegen.
2Er macht geltend, nach einem am während seiner Tätigkeit als sogenannter "Filierer" in der Mozzarella-Produktion erlittenen Arbeitsunfall aufgrund von multiplen Beschwerden, insbesondere im Bereich der rechten oberen Extremität, einer Schmerzsymptomatik sowie eines psychovegetativen Erschöpfungssyndroms und einer psychischen Überlagerung in Form einer ängstlichen depressiven Symptomatik bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Von ihm im Juli 2017 beantragte Versicherungsleistungen verweigert die Beklagte.
3Das Landgericht hat die auf Zahlung rückständiger Renten und Erstattung überzahlter Beiträge nebst Zinsen und auf Zahlung künftiger Renten und Beiträge gerichtete Klage des Klägers abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben. Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil.
4II. Die Beschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
51. Dieses hat nach Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens angenommen, dem Kläger sei der Beweis nicht gelungen, dass er aus gesundheitlichen Gründen zu mindestens 50 % gehindert sei, seine zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte berufliche Tätigkeit oder eine andere gleichwertige Verweisungstätigkeit auszuüben. Die Sachverständige habe in ihrem schriftlichen Gutachten ausführlich dargelegt, dass der Kläger - unter Beachtung einer vertraglich vereinbarten Ausschlussklausel zu Wirbelsäulenschäden - in der Gesamttätigkeit deutlich zu weniger als 50 % beeinträchtigt sei und demnach ein Restleistungsvermögen von mehr als 50 % in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit aufweise. Auch einen ununterbrochenen Sechsmonatszeitraum, in welchem beim Kläger eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % vorgelegen habe, habe die Sachverständige nicht feststellen können. Die hierzu schriftlich gehörten Parteien hätten keine entscheidungserheblichen inhaltlichen Bedenken gegen das Gutachten vorgebracht, die eine weitere Sachaufklärung geboten hätten.
62. Das verletzt den Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Beschwerde rügt mit Recht, das Berufungsgericht habe insoweit eine überraschende Entscheidung getroffen, indem es die Berufung des Klägers unter alleinigem Verweis auf das Ergebnis der orthopädischen Begutachtung zurückgewiesen habe.
7a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Senatsbeschluss vom - IV ZR 125/23, NJW-RR 2024, 309 Rn. 11 m.w.N.). Es soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (, VersR 2024, 437 Rn. 11). Damit in engem Zusammenhang steht das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht einen Sachverhalt oder ein Vorbringen in einer Weise würdigt, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem vorherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen konnte (st. Rspr.; vgl. Senatsbeschluss vom - IV ZR 204/22, r+s 2023, 446 Rn. 11; BGH, Beschlüsse vom - I ZR 53/22, GRUR 2023, 421 Rn. 16; vom - VIII ZR 171/19, NJW 2020, 2730 Rn. 13; BVerfG FamRZ 2022, 1954 Rn. 23; jeweils m.w.N.).
8b) Das hat das Berufungsgericht nicht beachtet.
9aa) Wie die Beschwerde zu Recht beanstandet, hat der Kläger bereits in erster Instanz unter Verweis auf entsprechende Arztberichte vorgetragen, auch unter einem psychovegetativen Erschöpfungssyndrom sowie einer ängstlichen depressiven Symptomatik zu leiden, die zu einer psychischen Überlagerung der Symptomatik geführt habe. Im Rahmen des Berufungsverfahrens hat er zudem das in einem sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten vorgelegt, in dem der Gutachter eine von ihm angenommene Erwerbsunfähigkeit des Klägers auch mit dem Vorliegen einer - aktuell schwergradigen - chronifizierten Depression und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren begründet hat. In einem daraufhin durch das Berufungsgericht erteilten rechtlichen Hinweis vom hat dieses bemängelt, dass sich das erstinstanzliche Urteil und die ihm zugrunde liegende Beweiserhebung zu diesem Bereich einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nicht verhalte, die Beweisaufnahme des Landgerichts deshalb den schlüssigen Sachvortrag des beweispflichtigen Klägers nicht erschöpfe und die Einholung weiterer Sachverständigengutachten unumgänglich erscheine. In einem weiteren rechtlichen Hinweis vom hat das Berufungsgericht den Kläger zur Substantiierung seines Sachvortrags zu dem "Komplex einer psychischen Komponente der geltend gemachten Berufsunfähigkeit" aufgefordert. Dem ist der Kläger unter Vorlage von Behandlungsberichten nachgekommen.
10Rechtliche Hinweise hierzu hat das Berufungsgericht im Weiteren nicht erteilt. Stattdessen hat es nach Einholung eines Gutachtens, in dem die Sachverständige eine Berufsunfähigkeit des Klägers - nur - auf orthopädischem Gebiet verneint hat, dessen Berufung allein gestützt auf diese Bewertungen zurückgewiesen. Mit dem Vorbringen des Klägers zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet, das sich auch in den von ihm vorgelegten ärztlichen Unterlagen wiederfindet, und seiner Behauptung - auch - daraus resultierender bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit hat sich das Berufungsgericht dagegen nicht auseinandergesetzt. Hierdurch hat es dem Kläger zudem die Möglichkeit genommen, daran zu erinnern, dass auch die Sachverständige eine "Heilentgleisung mit chronifiziertem Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren und Depression" als naheliegend angesehen und - auch im Hinblick auf die ihr vorliegenden ärztlichen Unterlagen - eine psychiatrische bzw. psychosomatische Begutachtung angeregt hat.
11bb) Die Gehörsverletzung scheidet nicht deshalb aus, weil sich - wie die Beschwerdeerwiderung einwendet - dem auf den zweiten Hinweis des Berufungsgerichts gehaltenen Vortrag des Klägers nicht habe entnehmen lassen, wie sich die behaupteten psychischen Defizite äußerten, insbesondere wie sie sich auf seine Fähigkeit zur Ausübung des Berufes auswirkten, und ob ein Zusammenhang mit den behaupteten orthopädischen Beschwerden bestehe. Sofern das Berufungsgericht Schlüssigkeitsbedenken nicht als ausgeräumt ansah, musste es zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung den Kläger unmissverständlich darauf hinweisen und ihm Gelegenheit zum weiteren Vortrag geben (vgl. , NJW-RR 2004, 281 [juris Rn. 18] m.w.N.). Gemessen daran war der nach Vorlage des orthopädischen Gutachtens erfolgte pauschale Hinweis des Berufungsgerichts, es halte die Streitsache für entscheidungsreif, nicht ausreichend, zumal das Berufungsgericht in seinem ersten Hinweis vom noch ausgeführt hatte, die Einholung weiterer Sachverständigengutachten erscheine "unumgänglich". Dass beide Parteien daraufhin ihre Zustimmung zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben, ist - entgegen der Ansicht der Beschwerdeerwiderung - schon deshalb unerheblich, weil der Kläger mangels eines unmissverständlichen Hinweises des Berufungsgerichts auf etwaig weiter bestehende Schlüssigkeitsbedenken nicht von der Notwendigkeit weiteren Vortrags ausgehen musste.
12cc) Einem durchgreifenden Gehörsverstoß steht schließlich nicht der Grundsatz der materiellen Subsidiarität (vgl. dazu , VersR 2022, 399 Rn. 12 m.w.N.) entgegen. Der von der Beschwerdeerwiderung insoweit angeführte Hinweis des Berufungsgerichts, dass es die Streitsache als entscheidungsreif ansehe, gab dem Kläger - wie ausgeführt - keine Veranlassung, das Berufungsgericht erneut auf das Fehlen einer psychiatrischen bzw. psychosomatischen Begutachtung hinzuweisen.
13c) Das Berufungsurteil beruht auf dem dargestellten Gehörsverstoß, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht bei verfahrensfehlerfreiem Vorgehen anders entschieden hätte (vgl. Senatsbeschluss vom - IV ZR 12/23, r+s 2024, 125 Rn. 20 m.w.N.). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, wenn es den Inhalt des Parteivorbringens vollständig ausgeschöpft hätte, zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:100424BIVZR131.23.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-66099