BVerwG Beschluss v. - 20 F 9/23

Beratungen und Beschlussfassungen des Bundessicherheitsrats als Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung; zum Verhältnis von parlamentarischem Informationsbegehren und Vertraulichkeitsinteresse der Regierung

Leitsatz

1. Ein Geheimhaltungsgrund nach § 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 VwGO liegt vor, wenn der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung beeinträchtigt wird.

2. Die Beratungen und Beschlussfassungen des Bundessicherheitsrats betreffen originäres Regierungshandeln und gehören zum Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung.

Gesetze: § 99 Abs 1 S 3 Alt 1 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: OVG 12 B 30.22 Beschluss

Gründe

I

11. Die Klägerin ist Journalistin. Sie begehrte 2016 vom beklagten Bundeskanzleramt Zugang zu Unterlagen des Bundessicherheitsrates aus den Jahren 1972 - 1985 die Länder Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay betreffend sowie Einsicht in die zugehörigen Find- und Recherchemittel.

22. Da das Bundeskanzleramt dem nicht vollständig nachkam, erhob die Klägerin unter Hinweis auf ihre Tätigkeit als Journalistin und gestützt auf Ansprüche nach dem Archiv- sowie (später) dem Informationsfreiheitsgesetz Klage vor dem Verwaltungsgericht, das ihr nur teilweise stattgab. Auf die Berufung der Klägerin erging das teilweise stattgebende Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom , welches durch 10 C 3.21 - (BVerwGE 176, 1) teilweise aufgehoben wurde und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht führte.

33. Das Oberverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom - in der Fassung des Beschlusses vom - entschieden, Beweis zur Frage zu erheben, ob die Offenlegung der Dokumente Nummer 2, 3, 5, 8/9, 15/16, 19, 22/23, 26 und 27 für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland schädlich sein könne und deshalb deren Geheimhaltung erfordere. Dies solle geschehen durch Einsicht in jene Dokumente, die die Beklagte ihm vorzulegen habe.

44. Unter Freigabe der Dokumente Nr. 26 und teilweise 27 hat das beklagte Bundeskanzleramt unter dem eine Sperrerklärung abgegeben. Die Offenlegung weiterer Dokumente würde die auswärtigen Beziehungen Deutschlands gefährden und gleichzeitig den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung berühren. Im Rahmen einer Gesamtabwägung sei sowohl das öffentliche Interesse als auch das individuelle Interesse der Klägerin sowie die rechtsschutzverkürzende Wirkung der Weigerung der Aktenvorlage berücksichtigt worden. Danach würde eine weitergehende Offenlegung oder gar Herausgabe der Originaldokumente dem Wohl des Bundes im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO Nachteile bereiten. Wegen der fortgeltenden Geheimhaltungsbedürftigkeit käme eine Aufhebung der VS-Einstufung der Dokumente nicht in Betracht.

55. Die Klägerin hat den Rechtsstreit hinsichtlich der freigegebenen Dokumente unter dem für erledigt erklärt und im Übrigen beantragt, die Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung festzustellen. Die Geheimhaltungsgründe seien nur teilweise hinreichend belegt und den Aktenbestandteilen nicht hinreichend zugeordnet worden. Die Sperrerklärung lege ebenso wenig nachvollziehbar dar, warum eine teilweise Schwärzung nicht als milderes Mittel in Betracht gekommen sei. Darüber hinaus sei die vollständige Verweigerung des Informationszugangs auch materiell-rechtlich rechtswidrig. Die Schutzfrist des § 11 Abs. 3 ArchG sei unabhängig davon nicht anwendbar, ob die Voraussetzungen der Einstufung als Verschlusssache vorlägen.

66. Die Beklagte tritt dem entgegen und führt ergänzend aus, eine Teilschwärzung würde nur zu inhaltsleeren und nichtssagenden Restbeständen führen. Sämtliche streitgegenständlichen Dokumente seien auch als "VS-Geheim" eingestuft.

II

7Der Antrag hat teilweise Erfolg.

81. Er ist zulässig, insbesondere hat das Oberverwaltungsgericht die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Unterlagen durch Beweisbeschluss in ordnungsgemäßer Form bejaht (BVerwG, Beschlüsse vom - 20 F 6.19 - juris Rn. 10 sowie vom - 20 F 17.22 - NVwZ 2023, 1435 Rn. 14 m. w. N.).

92. Der Antrag ist nur zum Teil begründet.

10a) Er ist es jedoch nicht bereits deshalb, weil das Bundeskanzleramt in der Sperrerklärung die Gründe der Vorlageverweigerung nicht ordnungsgemäß dargelegt hätte (BVerwG, Beschlüsse vom - 20 F 6.19 - juris Rn. 15 und vom - 20 F 11.22 - juris Rn. 15 f.).

11aa) Grundsätzlich muss eine Sperrerklärung eine differenzierende Zuordnung der Geheimhaltungsgründe zu den jeweiligen Aktenbestandteilen enthalten. Sie muss hinreichend deutlich erkennen lassen, auf welche Weigerungsgründe die oberste Aufsichtsbehörde sie stützt. Eine konkrete Zuordnung von Geheimhaltungsgründen durch die oberste Aufsichtsbehörde ist von zentraler Bedeutung, weil der Fachsenat ausschließlich prüft, ob die von ihr in der Sperrerklärung behaupteten Gründe tatsächlich vorliegen; erst durch die Darlegung der konkreten Gründe wird somit effektiver Rechtsschutz ermöglicht. Eine differenzierende Aufbereitung der Unterlagen - unter Angabe von Blattzahlen, gegebenenfalls auch der Bezifferung von Absätzen oder der Gliederungspunkte eines Dokuments - erweist sich nur ausnahmsweise dann als entbehrlich, wenn der Umfang der Unterlagen überschaubar ist und sich bei Durchsicht der Akte die Zuordnung der Geheimhaltungsgründe ohne Weiteres erschließt (BVerwG, Beschlüsse vom - 20 F 4.23 - NVwZ 2023, 1504 Rn. 19 m. w. N. und vom - 20 F 11.22 - juris Rn. 15 f.).

12bb) Nach Maßgabe dessen hat das Bundeskanzleramt eine ausreichende Zuordnung der einzelnen Dokumente zu dem von ihm - mit der Begründung einer Verletzung des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung sowie des Schutzes auswärtiger Beziehungen - ausschließlich geltend gemachten Geheimhaltungsgrund des Staatswohls (§ 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 VwGO in der gemäß Art. 1 Nr. 9 des Gesetzes zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich vom <BGBl. I Nr. 71> mit Wirkung vom maßgeblichen Fassung) vorgenommen. Über die zuvor beschriebenen Anforderungen hinausgehende Darlegungen sind nicht zu verlangen, da dies im vorliegenden Fall die Gefahr in sich trägt, gerade jene Informationen preiszugeben, deren Geheimhaltung gewahrt bleiben sollen ( 20 F 5.20 - NVwZ 2021, 415 Rn. 25).

13b) Die von der Beklagten geltend gemachten Geheimhaltungsgründe liegen nahezu durchgehend vor.

14Nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO sind Behörden nicht zur Vorlage von Urkunden oder Akten, zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet, wenn das Bekanntwerden ihres Inhalts dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde (Alt. 1) oder die Vorgänge nach einem Gesetz (Alt. 2) oder ihrem Wesen nach (Alt. 3) geheim gehalten werden müssen. Nachdem die Beklagte ausschließlich Gründe des Staatswohls im Sinne der Alt. 1 des § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO angeführt hat, vermitteln allein sie den gerichtlichen Prüfungsmaßstab (BVerwG, Beschlüsse vom - 20 F 6.19 - juris Rn. 15 und vom - 20 F 11.22 - juris Rn. 15).

15aa) Nachteile für das Wohl des Bundes fordern gewichtige Gründe und setzen Beeinträchtigungen wesentlicher Bundesinteressen voraus ( 20 F 9.12 - juris Rn. 11). Die Sperrerklärung rechtfertigt sich grundsätzlich und fast vollständig mit dem durch eine Bekanntgabe der Akteninhalte ansonsten verbundenen Eingriff in den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (vgl. u. a. - BVerfGE 67, 100 <139>, - BVerfGE 124, 78 <120). Er wurzelt wie der Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung im Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) ( - BVerfGE 68, 1 <87>) und begründet damit einen Belang des Staatswohls ( 20 F 10.11 - juris Rn. 9).

16aaa) Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung beschreibt einen Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Regierung, der zum einen zur Wahrung der Funktionsfähigkeit und zum anderen wegen der Eigenverantwortung der Regierung selbst von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen nicht ausgeforscht werden darf ( - NVwZ 2023, 239 Rn. 61 sowie 7 C 3.11 - BVerwGE 141, 122 Rn. 30 und Beschluss vom - 20 F 9.06 - BVerwGE 128, 135 Rn. 10). Zu diesem Bereich gehört namentlich die Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungsprozessen vollzieht. Dabei sind vor allem laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen zur Wahrung der eigenverantwortlichen Ausübung der Regierungstätigkeit grundsätzlich geschützt ( 20 F 10.11 - juris Rn. 9 und Urteil vom - 7 C 19.17 - BVerwGE 164, 112 Rn. 18).

17Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Beratungen und Beschlussfassungen des Bundessicherheitsrats originäres Regierungshandeln betreffen und zum Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung gehören ( - BVerfGE 137, 185 Rn. 141 ff.). Der Bundessicherheitsrat (BSR) ist ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung, der sie in Fragen der Sicherheitspolitik berät, politische Entscheidungen des Bundeskanzlers und der Bundesregierung vorbereitet oder endgültig trifft. Als das zentrale Koordinationsorgan in Verteidigungs- und Rüstungsfragen steht er unter der Leitung des Bundeskanzlers. An den Beratungen des Bundessicherheitsrats nehmen traditionell zumindest der Chef des Bundeskanzleramts, der Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Wirtschaftsminister sowie der Generalinspekteur der Bundeswehr, der Beauftragte der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie der Chef des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung teil. Die Einzelheiten sind in der Geschäftsordnung des Bundessicherheitsrats (GO BSR) vom (BT-Drs. 18/5773) geregelt. Danach tagt er in geheimer Sitzung (§ 1 Abs. 2 Satz 4 GO BSR), weswegen seine Protokolle als Verschlusssache "geheim" eingestuft sind.

18bbb) Es liegt auf der Hand, dass der Bundessicherheitsrat Anfragen über laufende Beratungen zu Verteidigungsstrategien und Rüstungsgeschäften nicht beantworten muss. Selbst kleine und große Anfragen von Abgeordneten des Deutschen Bundestags zu aktuellen Beratungen können unter Berufung auf den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung verweigert werden, weil das Parlament nur zur Kontrolle von der Bundesregierung getroffener Entscheidungen berufen ist. Für die parlamentarische Kontrolle bildet die endgültige Beschlussfassung des Bundessicherheitsrats die entscheidende zeitliche Zäsur. Erst danach bestehen Informationspflichten gegenüber dem zur Kontrolle berufenen Parlament, die sich aber regelmäßig nur auf das Beratungsergebnis, z. B. die Genehmigung eines Rüstungsexports, nicht auf den Ablauf der Beratungen beziehen (ausführlich - a. a. O. Rn. 157 - 172). Denn auch bei abgeschlossenen Vorgängen, bei denen die Gefahr eines "Mitregierens Dritter" nicht mehr besteht, ist die Regierung nicht unbeschränkt verpflichtet, Tatsachen aus ihrem Kernbereich mitzuteilen ( - BVerfGE 124, 78 <122>, 7 C 3.11 - BVerwGE 141, 122 Rn. 30). Insoweit fällt als funktioneller Belang nicht mehr die Entscheidungsautonomie der Regierung ins Gewicht, sondern vor allem die Freiheit und Offenheit der Willensbildung innerhalb der Regierung, die durch "einengende Vorwirkungen" einer nachträglichen Publizität beeinträchtigt werden kann. Unter diesem Aspekt sind Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen, die Aufschluss über den Prozess der Willensbildung geben, umso schutzwürdiger, je näher sie der gubernativen Entscheidung stehen; demzufolge kommt Erörterungen im Kabinett eine besonders hohe Schutzwürdigkeit zu ( 7 C 3.11 - BVerwGE 141, 122 Rn. 30 und vom - 7 C 19.17 - BVerwGE 164, 112 Rn. 18). Je weiter ein parlamentarisches Informationsbegehren in den innersten Bereich der Willensbildung der Regierung eindringt, desto gewichtiger muss das Informationsbegehren sein, um sich gegen ein von der Regierung geltend gemachtes Interesse an Vertraulichkeit durchsetzen zu können. Besonders hohes Gewicht kommt dem Informationsinteresse zu, wenn es dem Parlament um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb der Regierung geht ( - BVerfGE 124, 78 <122 f.>).

19ccc) Der nach diesen Maßstäben gewährleistete Schutz der Regierungstätigkeit muss sich auch gegenüber einfachgesetzlichen Auskunftsansprüchen Dritter durchsetzen, damit er im Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander nicht unterlaufen wird und ins Leere geht. Daher ist der Kernbereichsschutz im Informationsfreiheitsrecht als Versagungsgrund anerkannt ( 7 C 3.11 - BVerwGE 141, 122 Rn. 31, BT-Drs. 15/4493, S. 12; Schirmer, BeckOK, Informations- und Medienrecht, Gersdorf/Paal, Stand: , IFG § 3 Rn. 22; Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 3 Rn. 27; Schnabel/Freund, DÖV 2012, 192 <195>). Ferner ist geklärt, dass die Einschränkungen der Geheimhaltung, die aus Gründen des parlamentarischen Kontrollrechts anerkannt sind, nicht auf die Informationsrechte des Bürgers übertragbar sind. Es gibt keinen Gleichlauf des Informationsrechts des privaten Antragstellers nach dem Informationsfreiheitsgesetz mit dem Informationsrecht des Parlaments. Dem verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung steht im Anwendungsbereich des Informationsfreiheitsgesetzes nur ein einfachgesetzlicher Informationsanspruch gegenüber, der weder über Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG noch sonst - etwa über das Demokratieprinzip - verfassungsrechtlich geboten ist (vgl. 7 C 30.15 - NVwZ 2018, 1401 Rn. 32 und vom - 7 C 19.17 - BVerwGE 164, 112 Rn. 20).

20Nichts grundlegend anderes gilt für die Überlassung der Akten des Bundessicherheitsrats zur prozessualen Akteneinsicht, weil auch das Bekanntwerden in diesem Rahmen im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 VwGO dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats insbesondere dann gegeben, wenn der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung beeinträchtigt wird ( 20 F 10.11 - juris Rn. 9) und wenn die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich ihrer Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren würde (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 und vom - 20 F 9.12 - juris Rn. 11). Ein solcher Nachteil für die künftige Aufgabenerfüllung ist insbesondere im Beschluss zu den Akten des bei der Entführung von Hans Martin Schleyer einberufenen Krisenstabs angenommen worden. Bei der Offenlegung dieser geheimen Protokolle hätte die Gefahr bestanden, dass in künftigen Krisenstäben eine Zurückhaltung geübt würde, die effektiver Beratung widerspräche. Zudem könne sich das Wissen um eine spätere Publizität negativ auf die Bereitschaft zur Mitarbeit in künftigen Ausnahmesituationen auswirken ( 20 F 9.12 - juris Rn. 12 mit Verweis auf - BVerfGE 124, 161 <194>).

21ddd) Nach Maßgabe dessen beruft sich die Beklagte als oberste Aufsichtsbehörde weitgehend zu Recht auf den Verweigerungsgrund des Staatswohls.

22(1) Die vom Senat gesichteten streitgegenständlichen und gem. § 99 Abs. 2 Satz 10 Halbs. 2 VwGO inhaltlich nicht näher zu beschreibenden Dokumente betreffen den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, da sie Informationen zu Erwägungen ihrer Mitglieder zu außen- und verteidigungspolitischen Fragestellungen, bei denen der Gubernative ohnehin ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht (vgl. die Nachweise bei Nußberger, VVDStRL 81 (2022), 7 (35), Fn. 135), enthalten. Dies gilt sowohl für Protokolle und Protokollentwürfe als auch für die Hinweise und Vermerke (zu einzelnen Tagesordnungspunkten), die dem Bundeskanzler als Spitze der Gubernative (Art. 65 Satz 1 GG) zur Sitzungsvorbereitung vorgelegt und von diesem partiell mit Hervorhebungen versehen worden sind. Die Dokumente stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Befassungen des Bundessicherheitsrats, der sowohl nach seiner sachlichen Aufgabenstellung als auch seiner personellen Zusammensetzung einen integralen Bestandteil gubernativer Entscheidungsfindung (vgl. Zähle, Der Staat 2005, S. 462 ff.; Meinel, DÖV 2015, 717 ff.) bildet.

23(2) Dass die Dokumente Jahrzehnte zurückliegende Vorgänge aus Zeiten des "Kalten Krieges" und weitgehend bereits verstorbene politische Akteure betreffen, schließt ihren Schutz nicht aus. Denn der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung erfasst nicht nur den Schutz der Entscheidungsautonomie der aktuellen Regierung bei konkreten Entscheidungen, sondern auch den Schutz der Funktionsfähigkeit zukünftiger Regierungen bei zukünftigen Entscheidungen ( 7 C 19.15 - NVwZ 2017, 1621 Rn. 11 m. w. N; Peters, Untersuchungsausschussrecht, 2. Aufl. 2020, B, Rn. 109; Schnabel/Freund, DÖV 2012, <194>). Dies verlangt, auch bei abgeschlossenen Vorgängen die mit deren Bekanntgabe verbundenen einengenden Vorwirkungen auf die freie Willensbildung und Entscheidungsfindung zukünftiger Regierungen einzustellen (zu den Begründungsanforderungen nach dem IFG: 7 C 19.15 - NVwZ 2017, 1621 Rn. 11).

24(3) Bei einer Veröffentlichung des Bundessicherheitsrats bestünde dieselbe Gefahr einer einengenden Vorwirkung wie bei der Zugänglichmachung von Kabinettsprotokollen. Denn die Sitzungen des Bundessicherheitsrats sind der genuine Raum der Bundesregierung für Beratungen und die durch deren Geschäftsordnung bestimmte strenge Geheimhaltung ist eine wesentliche Rahmenbedingung für die Funktionsfähigkeit des Bundessicherheitsrats. Sie garantiert und schützt einen unbefangenen und freien Meinungsaustausch der Kabinettsmitglieder. Dazu gehört auch, vorläufige und noch nicht ausgereifte oder pointierte Argumente in die Entscheidungsfindung einzubringen, die wegen anderer Überzeugungen oder mit Rücksicht auf eine Konsensfindung wieder verworfen werden können. Vor diesem Hintergrund ist evident, dass eine Offenlegung des Verlaufsprotokolls die Funktionsfähigkeit des Bundessicherheitsrats beeinträchtigen kann, weil Kabinettsmitglieder sich nicht mehr offen und unbefangen äußern, wenn sie damit rechnen müssten, dass die Sitzungsprotokolle nach der Beschlussfassung öffentlich zugänglich wären (vgl. 7 C 19.17 - BVerwGE 164, 112 Rn. 24). Die Preisgabe der Beratungsabläufe wäre daher ein erheblicher Eingriff in den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung ( - BVerfGE 137, 185 Rn. 171). Dabei kommt es für die Schutzwürdigkeit des Protokolls weder auf den konkreten Beratungsgegenstand bzw. dessen politische Brisanz noch auf den Zeitablauf seit der Beschlussfassung oder die fehlende Schutzwürdigkeit der Kabinettsmitglieder als "exponierte Spitzenpolitiker" an. Der Schutz zielt auf den Entscheidungsprozess und die Akzeptanz der getroffenen (einheitlichen) Entscheidung und - damit zusammenhängend - die Bewahrung der Autorität der sich beratenden Stelle (vgl. Jaus, Öffentliche Belange als Schranken von Informationsansprüchen, 2016, S. 79). Die Bundesregierung als das kollegial gebildete Verfassungsorgan, das maßgeblich an der Staatsleitung teilnimmt, kann nur dann gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften bestehen, wenn sie "mit einer Stimme spricht". Diese Einheitlichkeit der Politik der Bundesregierung würde infrage gestellt, wenn sich das Kabinettsgeheimnis nicht wahren ließe und interne Meinungsverschiedenheiten öffentlich würden. Die fortdauernde Geheimhaltung der Beratungsinterna dient damit dem präventiven Schutz der Funktionsfähigkeit des Bundessicherheitsrats (vgl. 7 C 19.17 - BVerwGE 164, 112 Rn. 25).

25(4) Dass im vorliegenden Fall die Beratungen des Bundessicherheitsrats vier bis fünf Jahrzehnte zurückliegen und die heutigen Mitglieder des Bundessicherheitsrats mit den damaligen Kabinettsmitgliedern nicht einmal mehr teilidentisch sind, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn bei den Beratungen des Bundessicherheitsrats zu Verteidigungsstrategien und Rüstungsexporten spielen naturgemäß außenpolitische Einschätzungen zu Absichten fremder Staatsoberhäupter und zur Vorgehensweise fremder Staaten eine zentrale Rolle. Im politischen Bereich kann auch das Bekanntwerden lange Zeit zurückliegender Äußerungen früherer deutscher Kabinettsmitglieder über fremde Staatsoberhäupter und Politiker zu außenpolitischen Verwicklungen führen und diplomatische Beziehungen belasten. Denn Staatsoberhäupter vergangener Jahrzehnte bleiben im kollektiven Gedächtnis lange Zeit verhaftet und prägen nicht selten die politische Einstellung nachfolgender Generationen in dem Sinne, dass die aktuellen Regierungsmitglieder anderer Staaten sie verehren oder ablehnen oder dass ihr Bild im nationalen Selbstbewusstsein anderer Nationen positiv oder negativ verankert ist. Je nachdem kann die Veröffentlichung positiver oder negativer Äußerungen die zwischenstaatlichen Beziehungen belasten. Nichts anderes gilt für die Offenlegung geheimer Regierungsbeschlüsse vergangener Jahrzehnte, die Kooperationen befürworten oder ablehnen.

26Bei der Prüfung, innerhalb welchen Zeitrahmens hochpolitische geheime Unterlagen der jüngeren Zeitgeschichte weiterhin geheimhaltungsbedürftig sind, erlangen mithin politische Implikationen in einem so hohen Maße Bedeutung, dass dies rechtfertigt, bei der Bestimmung des zeitlichen Schutzbereichs des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung rechtliche Einschätzungen des Parlaments als weiteren politischen Akteur insoweit indiziell mit in den Blick zu nehmen, auch wenn zum einen der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung gegenüber dem Parlament grundsätzlich zugriffsfest ist und zum anderen vorliegend der Informationsanspruch eines privaten Dritten im Raum steht, dessen Auskunftsanspruch nicht vergleichbar verfassungsrechtlich gewährleistet ist wie der des Parlaments. Rechtliche Einschätzungen folgen insbesondere aus § 11 Abs. 3 BArchG, der für geheime Regierungsunterlagen eine Schutzfrist von 60 Jahren vorsieht, die nach § 12 Abs. 3 BArchG im öffentlichen Interesse um drei Jahrzehnte verkürzt oder um drei Jahrzehnte verlängert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist der Umstand, dass die angeforderten Unterlagen vier bis fünf Jahrzehnte zurückliegen, noch kein schlagendes Argument dafür, dass kein öffentliches Interesse mehr an ihrer Geheimhaltung bestehen kann. Auch nach Durchsicht der ungeschwärzten Akten ist das öffentliche Interesse an der weiteren Geheimhaltung der angeforderten Protokolle des Bundessicherheitsrats zu den Beratungen über Kontakte mit südamerikanischen Regierungen in den Jahren 1972 bis 1985 nachvollziehbar. Die Beklagte hat sich zu Recht darauf berufen, dass das Bekanntwerden früherer verteidigungspolitischer Einschätzungen und Informationen im Raum steht, die nach der insoweit anzuerkennenden exekutiven Einschätzungsprärogative im Kontext mit der aktuellen Sicherheitslage auch gegenwärtig für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland noch von Nachteil sein können.

27eee) Etwas anderes gilt dann, wenn die Information bereits bekannt geworden ist oder die Gubernative in Ausübung ihres politischen Ermessens bereit ist oder Wert darauf legt, eine Information offenzulegen. Denn in diesem Fällen besteht keine Schutzbedürftigkeit mehr (vgl. 20 F 12.17 - juris Rn. 12 zu § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 VwGO a. F.).

28Nach Maßgabe dessen ist auf der Grundlage der Begründung der Sperrerklärung nicht ersichtlich, warum die Information im Dokument 19, Seite 2, 1. Absatz, letztes Wort in der ersten Zeile bis zur 8. Zeile geheimhaltungsbedürftig sein soll, obwohl bereits durch das von der Beklagten freigegebene Übersendungsschreiben des Bundesministeriums der Verteidigung vom (Dokument Nr. 27) die Thematik deutlich wird, zu der sich das Protokoll insoweit verhält. Ebenfalls sind die im Zeitraum 1972 bis 1985 amtierenden Minister, die nach der 2014 veröffentlichen GO BSR dem Bundessicherheitsrat zwingend angehörten, die Chefs des Bundeskanzleramts, Bundespresseamts, die Generalinspekteure sowie die Beauftragten für Abrüstung und Rüstungskontrolle allgemein bekannt. Danach besteht kein Anlass zur Geheimhaltung des dem Dokument Nr. 27 beigefügten Teilnehmerverzeichnisses, soweit es jene Amtsinhaber betrifft. Die Beklagte kann der Offenlegung der im Übrigen geheimhaltungsbedürftigen Informationen durch deren Schwärzung auf den entsprechenden Seiten Rechnung tragen.

29bb) Mit dieser Maßgabe ist die Informationsverweigerung auch unter dem Gesichtspunkt gegeben, dass eine Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen (vgl. auch § 14 Abs. 1 Nr. 4 PUAG) als weiterer Staatswohlbelang nicht ausgeschlossen werden kann.

30aaa) Bezweckt wird damit zum einen der Schutz der auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland; zum anderen sollen die Beziehungen zu anderen Staaten von Belastungen verschont und insbesondere das diplomatische Vertrauensverhältnis gewahrt bleiben ( 20 F 4.20 - juris Rn. 15). Nach dem Wortlaut des § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO kommt eine Verweigerung der Aktenvorlage zwar noch nicht bei der bloßen Möglichkeit eines Nachteils für das Wohl des Bundes in Betracht, sondern nur, wenn das Bekanntwerden des Akteninhalts einen solchen Nachteil (tatsächlich) bereiten würde, wenn also dafür eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht ( 20 F 4.20 - juris Rn. 17); da das Grundgesetz der Bundesregierung bei der Regelung der auswärtigen Beziehungen jedoch einen weiten Gestaltungsspielraum belässt, ist die Prognose, ob eine Offenlegung bestimmter Dokumente eine Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen erwarten lässt, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar (BVerwG, Beschlüsse vom - 20 F 5.21 - NWVBl. 2023, 319 Rn. 17 und vom - 20 F 4.20 - juris Rn. 18).

31bbb) Nach Sichtung der streitbefangenen Dokumente ist die Annahme der obersten Aufsichtsbehörde vertretbar, eine vollständige Offenlegung der Dokumente Nummer 2, 3, 5, 8/9, 15/16, 19, 22/23 würde auch das Vertrauen befreundeter Staaten und internationaler Organisationen - insbesondere der NATO - enttäuschen und die erforderliche Vertrauensbasis bei der Abstimmung zu aktuellen verteidigungspolitischen Themen beschädigen, sodass es nicht mehr zu einer Informationsübermittlung an die Bundesrepublik Deutschland käme. Ebenso ist die Einschätzung vertretbar, im Zusammenhang mit Rüstungsexporten angestellte Erwägungen könnten auch im Verhältnis zu nicht befreundeten Staaten zu Verstimmungen führen. Inwieweit einzelne Dokumente darüber hinaus Rückschlüsse auf die Erkenntnismöglichkeiten der Bundesrepublik auch gegenwärtig noch zulassen und eine etwaige Verletzbarkeit Deutschlands offenbar machten, kann nach alldem dahingestellt bleiben.

32c) Soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Weigerungsgrundes vorliegen, ist die nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO erforderliche Ermessensausübung rechtmäßig.

33Die oberste Aufsichtsbehörde ist im Rahmen einer Prüfung nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO gefordert, in besonderer Weise die rechtsschutzverkürzende Wirkung der Verweigerung der Aktenvorlage für den Betroffenen zu beachten. Darin liegt die Besonderheit ihrer Ermessensausübung nach dieser Regelung. Dementsprechend steht ihr selbst in den Fällen ein Ermessen zu, in denen das Fachgesetz es der jeweiligen Fachbehörde nicht einräumt ( 20 F 2.19 - NVwZ-RR 2020, 909 Rn. 31) oder Versagungsgründe nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO vorliegen. Eine darauf bezogene Ermessensentscheidung ist der Sperrerklärung unter Ziffer 4 entnehmbar ( 20 F 17.22 - NVwZ 2023, 1435 Rn. 17). Da die oberste Aufsichtsbehörde zugleich Beklagte im Hauptsacheverfahren ist, war ihr bei der Abwägung auch die journalistische Tätigkeit der Klägerin als abwägungserheblicher Belang bekannt (vgl. 20 F 21.22 - juris Rn. 15).

343. Einer eigenständigen Kostenentscheidung bedarf es im Verfahren vor dem Fachsenat nach § 99 Abs. 2 VwGO nicht, weil es sich im Verhältnis zum Hauptsacheverfahren um einen unselbstständigen Zwischenstreit handelt ( 20 F 13.17 u. a. - juris Rn. 48 m. w. N.).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:240124B20F9.23.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-63859