Freiheitsentziehungssache: Zulässigkeit eines Antrags auf Haftanordnung im Hauptsacheverfahren nach fehlerhafter Haftanordnung im Verfahren über eine einstweilige Anordnung
Leitsatz
Ein Antrag auf Haftordnung im Hauptsacheverfahren ist auch dann zulässig, wenn zuvor im Verfahren über eine einstweilige Anordnung nach § 427 FamFG irrtümlich Haft in der Hauptsache angeordnet worden ist.
Gesetze: § 417 FamFG, § 427 FamFG
Instanzenzug: LG Darmstadt Az: 5 T 91/21vorgehend AG Darmstadt Az: 271 XIV 44/21
Gründe
1I. Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste 2015 ohne gültigen Pass oder Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom ab. Zugleich wurde ihm die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der dagegen in Anspruch genommene verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz blieb ohne Erfolg. Jedenfalls zwischen dem und dem war der Betroffene untergetaucht. Er hielt sich am in Italien auf, um dort Asyl zu beantragen. Am wurde der Betroffene in O. aufgegriffen und vorläufig in Polizeigewahrsam genommen.
2Die beteiligte Behörde beantragte beim Amtsgericht O. zunächst die vorläufige Freiheitsentziehung im Wege der einstweiligen Anordnung. Mit Beschluss vom ordnete das Amtsgericht O. Sicherungshaft bis zum an. Dagegen legte der Betroffene Beschwerde ein. Mit Schriftsatz vom beantragte die beteiligte Behörde die Aufhebung des Beschlusses und dessen Neuerlass gemäß Antrag vom .
3Auf weiteren Haftantrag der beteiligten Behörde vom hat das Amtsgericht D. mit Beschluss vom gegen den Betroffenen Abschiebungshaft bis zum angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat das zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung, in seinen Rechten verletzt worden zu sein.
4II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
51. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. Ihr habe insbesondere ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Es bestehe Fluchtgefahr, weil der Betroffene seinen Aufenthaltsort ohne Mitteilung der neuen Anschrift gewechselt habe. Bis zu seiner Festnahme sei er mehrmals und auch über einen längeren Zeitraum unbekannten Aufenthalts gewesen.
62. Das hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.
7a) Ein Verfahrenshindernis bestand nicht. Der beim Amtsgericht O. am von der beteiligten Behörde gestellte und auf Freiheitsentziehung im Wege der einstweiligen Anordnung gerichtete Haftantrag stand dem hier maßgeblichen, am in der Hauptsache eingeleiteten Haftanordnungsverfahren nicht entgegen. Bei dem Verfahren nach § 427 FamFG handelt es sich um ein selbständiges, von der Hauptsache unabhängiges Verfahren (§ 51 Abs. 3 Satz 1 FamFG), das auch andere Voraussetzungen als das Hauptsacheverfahren hat (, InfAuslR 2016, 55 Rn. 7). Eine Sperrwirkung für die Einleitung des Hauptsacheverfahrens kann eine Haftentscheidung im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 427 FamFG daher nicht entfalten. Das gilt auch dann, wenn - wie hier - ein anderes, früher angerufenes Haftgericht in Verkennung der Reichweite des dort gestellten Antrags statt einer vorläufigen Freiheitsentziehung eine Haftanordnung in der Hauptsache erlässt. Zwar bestimmt der Inhalt der Entscheidung des Gerichts den Gegenstand des anschließenden Rechtsmittelverfahrens (BGH, InfAuslR 2016, 55 Rn. 8). Eine solche fehlerhafte Haftanordnung führt aber nicht zur Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens, weil eine Haftanordnung - im Gegensatz zu einem Beschluss über die Feststellung der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit der Haft - nicht in materielle Rechtskraft erwachsen kann (BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 93/20, juris Rn. 20; vom - XIII ZB 6/21, juris Rn. 9; vom - XIII ZB 11/21, juris Rn. 11).
8b) Der Haftantrag war zulässig. Er erfüllt die Voraussetzungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG.
9aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7). Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7; vom - XIII ZB 116/19, NVwZ 2023, 1523 Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (st. Rspr. vgl. nur BGH, Beschlüsse vom - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; vom - XIII ZB 116/19, NVwZ 2023, 1523 Rn. 7 mwN; vom - XIII ZB 40/20, juris Rn. 7).
10bb) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag vom gerecht.
11Die beteiligte Behörde hat im Haftantrag zur Durchführbarkeit der Abschiebung ausgeführt, ein durch das pakistanische Generalkonsulat zwischenzeitlich verlängertes Passersatzpapier liege vor, ebenso die Zusage und der Reiseplan für den Rückflug in der Kalenderwoche 17 seitens des Reisebüros. Diese Angaben reichten zur Erklärung der beantragten Dauer der Haft aus. Sie erlaubten dem Haftgericht konkrete Nachfragen und genügten den Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG. Eine Erwähnung des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Islamischen Republik Pakistan geschlossenen Rücknahmeübereinkommens vom (ABl. EU Nr. L 287 vom , S. 52) war bei einer solchen Sachlage - anders als es etwa bei danach noch durchzuführenden Bearbeitungsschritten der Fall sein kann - nicht erforderlich (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 38/19, juris Rn. 8 bis 11; vom - XIII ZB 114/19, InfAuslR 2021, 243 Rn. 10; vom - XIII ZB 93/22, zur Veröffentlichung bestimmt). Soweit der Entscheidung vom (XIII ZB 28/19, juris Rn. 8 bis 10) etwas Anderes entnommen werden könnte, hält der Senat daran nicht fest.
12c) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, hat sich das Beschwerdegericht mit Recht auf die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom gestützt. Weder durch eine freiwillige Ausreise noch durch eine Abschiebung des Betroffenen konnte diese "verbraucht" werden (, juris Rn. 18, mwN).
13d) Es lag auch der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG vor. Danach wird Fluchtgefahr vermutet, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Dabei kann offenbleiben, ob der Betroffene, wie das Beschwerdegericht festgestellt hat, im Verlauf des Asylverfahrens mehrmals unbekannten Aufenthalts war. Jedenfalls hielt er sich längere Zeit in Italien auf. Wie sich den Feststellungen des Beschwerdegerichts entnehmen lässt, war der Betroffene zwischen dem und untergetaucht und hielt sich am in Italien auf. Dazu hat er in seiner persönlichen Anhörung vor dem Amtsgericht O. im Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anhörung erklärt, er habe nach Entlassung aus der Abschiebungshaft eine erneute Festnahme befürchtet. Aus diesem Grund sei er nach Stuttgart zu Freunden gegangen und von dort nach Italien gereist, wo er einen Asylantrag gestellt habe. Dort sei er wegen der Corona-Pandemie dreieinhalb Monate geblieben. Das trägt bereits die Annahme der Fluchtgefahr, auch wenn sich der Betroffene, wie die Rechtsbeschwerde geltend macht, ab August 2020 durchgehend in der ihm zugewiesenen Unterkunft befunden haben sollte, und begründet zudem die Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung. Der Betroffene ist zu diesem Umstand vor dem Amtsgericht auch angehört worden. Die Behörde hatte ihren Haftantrag darauf gestützt.
143. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:051223BXIIIZB14.21.0
Fundstelle(n):
NAAAJ-61035