Anforderungen an tatrichterliche Feststellung zum Strafvorwurf des Bestimmens zur Vornahme sexueller Handlungen
Gesetze: § 32a StPO, § 158 Abs 2 StPO, § 176 Abs 4 Nr 3 Buchst b StGB vom , § 176 Abs 2 StGB vom , § 176 Abs 6 S 1 StGB vom , § 184h Nr 1 StGB, § 194 Abs 1 S 1 StGB
Instanzenzug: LG Essen Az: 65 KLs 33/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, wegen Verleumdung in drei Fällen und wegen Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
2In den Fällen II.5, II.7 und II.8 der Urteilsgründe war das Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß § 206a StPO einzustellen, weil der Verurteilung wegen Verleumdung in drei Fällen gemäß § 187 StGB ein Verfahrenshindernis entgegensteht. Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 158 Abs. 2 StPO erforderlichen schriftlichen Strafantrag der Verletzten.
31. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
4Am erstattete die Zeugin G. online auf dem Portal des Polizeipräsidiums Anzeige und schilderte, dass ein ihr unbekannter Mann am Vortag an ihrer Arbeitsstelle, in der Personalabteilung und in einer anderen Filiale ihres Arbeitgebers angerufen und behauptet habe, die Zeugin habe seinen Sohn sexuell belästigt und missbraucht. Zur Vorgeschichte schildert die Zeugin in der Online-Anzeige, dass dieser Mann ihre Cousine zwei Monate zuvor auf Snapchat kontaktiert und sie aufgefordert habe, ihr Trikot hochzuheben. Nach dem Telefonat habe sie den Mann aufgefordert damit aufzuhören und mit dem Gang zur Polizei gedroht. In der Folge wurde die Zeugin am in dem daraufhin eingeleiteten Verfahren wegen versuchten sexuellen Missbrauchs zum Nachteil ihrer Cousine polizeilich vernommen. Dabei machte sie auch Angaben zu der Verleumdung an ihrer Arbeitsstelle, die Anlass für ihre Anzeige war. Das Vernehmungsprotokoll wurde von der Zeugin unterschrieben. In dem weiteren Ermittlungsverfahren wegen Verleumdung zu ihrem Nachteil erschien die Zeugin dann nicht mehr zur Vernehmung.
52. Damit ist dem sich aus § 158 Abs. 2 StPO ergebenden Schriftformerfordernis für einen Strafantrag nicht genügt.
6a) § 158 Abs. 2 StPO verlangt grundsätzlich die Unterschrift des Antragsstellers (vgl. Rn. 6 mwN). Dazu kann auch ein unterschriebenes Vernehmungsprotokoll ausreichen, sofern dadurch der Verfolgungswille unmissverständlich und schriftlich zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Rn. 6). Für eine vergleichbare zweckorientierte Abschwächung des Formerfordernisses, wie sie für die Einreichung in Papierform anerkannt ist, lässt die für die Einreichung elektronischer Dokumente allein maßgebliche Vorschrift des § 32a StPO keinen Raum (vgl. , BGHSt 67, 69 Rn. 9).
7b) Daran gemessen genügen weder die online auf dem Portal des Polizeipräsidiums erstattete Anzeige noch das unterschriebene Vernehmungsprotokoll den Formerfordernissen eines Strafantrags.
8Die Anzeige, die die Geschädigte am online auf dem Portal des Polizeipräsidiums erstattet hat, enthält keine Unterschrift. Auch das unterschriebene Vernehmungsprotokoll genügt den Anforderungen nicht, denn ein unmissverständlicher Verfolgungswille hinsichtlich des Antragsdelikts der Verleumdung lässt sich dem Protokoll nicht entnehmen. Soweit sich die Zeugin bei dieser Vernehmung zu den Verleumdungen äußert, beschreibt sie lediglich den Grund für ihre Anzeige; dass sie aber auch hinsichtlich dieser Delikte zu ihrem Nachteil eine Strafverfolgung erstrebt, ergibt sich daraus nicht.
II.
9Die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. b) StGB aF in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2 StGB aF im Fall II.2 der Urteilsgründe sowie wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 StGB aF im Fall II.3 der Urteilsgründe hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
101. Nach den hierzu getroffenen Feststellungen forderte der Angeklagte in einem Videotelefonat im Oktober 2020 die dreizehnjährige Geschädigte auf, sich auszuziehen, damit er sie nackt betrachten und dies dokumentieren könne. Die Geschädigte, die zu dieser Zeit eine Jogginghose und ein Bustier trug, kam dem Verlangen nicht nach (Fall II.1 der Urteilsgründe). Im Februar oder März 2021 rief der Angeklagte die beiden zwölfjährigen Geschädigten über Snapchat dazu auf, sich zu küssen. Die Geschädigten küssten sich daraufhin gegenseitig auf den Mund. Anschließend forderte der Angeklagte die beiden Geschädigten zu einem Zungenkuss auf, woraufhin sie das Telefonat abbrachen (Fall II.2 der Urteilsgründe). Bei einem persönlichen Treffen am folgenden Tag verlangte der Angeklagte von den Geschädigten erneut, dass sie sich küssen sollten. Die Geschädigten kamen der Aufforderung nicht nach (Fall II.3 der Urteilsgründe). In einem Videotelefonat im Mai 2021 rief der Angeklagte die zwölfjährige Geschädigte dazu auf, ihr Trikot hochzuheben, damit er ihre Brüste sehen und dies dokumentieren könne. Die Geschädigte kam der Forderung nicht nach (Fall II.4 der Urteilsgründe).
112. Die in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe jeweils erfolgten Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. b) StGB in der ab bzw. ab geltenden Fassung werden von den Feststellungen nicht getragen, denn diese ergeben nicht, dass die Einwirkung des Angeklagten auf die Herstellung einer kinderpornographischen Schrift bzw. (ab ) eines kinderpornographischen Inhalts gerichtet war.
12a) Nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. b) StGB in den Fassungen vom (BGBl. I S. 431) und vom (BGBl. I S. 2600) wird wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern bestraft, wer auf ein Kind mittels Schriften oder mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie (so die Fassung vom ) bzw. mittels eines Inhalts (so die Fassung vom ) einwirkt, um eine Tat nach § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB (Herstellen einer kinderpornographischen Schrift) oder nach § 184b Abs. 3 StGB (Besitz einer kinderpornographischen Schrift) zu begehen. Eine kinderpornographische Schrift (bzw. ein kinderpornographischer Inhalt) liegt vor, wenn die Schrift sexuelle Handlungen von, an oder vor einem Kind, die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich bzw. aufreizend geschlechtsbetonter Körperhaltung oder die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes zum Gegenstand hat. Die Aufnahme des nur unbekleideten Körpers eines Kindes erfüllt für sich diese Voraussetzungen noch nicht (vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 3 StR 275/20; Hörnle in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 184b Rn. 19; Nestler in LK-StGB, 13. Aufl., § 184b Rn. 16; Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 184b Rn. 13).
13b) Daran gemessen tragen die Feststellungen in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe die Annahme nicht, der Angeklagte habe auf ein Kind eingewirkt, um eine kinderpornographische Schrift herzustellen. Denn den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass die Geschädigten nach dem Ausziehen bzw. Hochziehen des Trikots in unnatürlich oder aufreizend geschlechtsbetonter Weise zu sehen gewesen wären oder dies vom Angeklagten beabsichtigt war.
143. In den Fällen II.2 und II.3 der Urteilsgründe ist ein (versuchtes) Bestimmen gemäß § 176 Abs. 2 StGB zur Vornahme sexueller Handlungen in der von § 184h Nr. 1 StGB geforderten Erheblichkeit nicht festgestellt.
15a) Gemäß § 176 Abs. 2 StGB in der ab geltenden Fassung macht sich strafbar, wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt. Sexuelle Handlungen sind nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind (§ 184h Nr. 1 StGB). Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. ‒ 2 StR 490/18 Rn. 4; Urteil vom – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336 Rn. 5). Dazu bedarf es regelmäßig einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. , BGHSt 61, 173 Rn. 8). Bei Tatbeständen, die dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit der sexuellen Handlung zwar geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener (vgl. Rn. 15; Urteil vom – 1 StR 201/07 Rn. 12). Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen für das geschützte Rechtsgut unbedeutende Berührungen genügen jedoch auch hier regelmäßig nicht (st. Rspr.; vgl. Rn. 6; Urteil vom ‒ 2 StR 574/16 Rn. 7 mwN). Die Schwelle zur Erheblichkeit kann jedoch überschritten sein, wenn über die bloße kurze Berührung hinaus weitere Umstände hinzukommen, die das Gewicht des Übergriffes erhöhen (vgl. Rn. 6).
16b) Gemessen hieran kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass ein einfacher Kuss auf den Mund zwischen zwei 12-Jährigen seiner Art nach eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit darstellt (vgl. dazu auch Rn. 9 [kurzer Kuss eines Erwachsenen auf Stirn und Mund eines vierjährigen Kindes]). Feststellungen zu einer besonderen Intensität oder Dauer, die eine andere Bewertung rechtfertigen könnten, lassen sich dem Urteil nicht entnehmen.
17c) Auch die Voraussetzungen eines versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2, Abs. 6 Satz 1 StGB in der ab geltenden Fassung, §§ 22, 23 StGB durch die Aufforderung zu einem Zungenkuss sind nicht festgestellt.
18aa) Zwar kommt ein Zungenkuss als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit in Betracht (vgl. , BGHSt 56, 223 Rn. 7). Die Feststellungen tragen jedoch nicht die Annahme eines unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung im Sinne des § 22 StGB. Ein unmittelbares Ansetzen besteht in einem Verhalten des Täters, das nach seinem Tatplan in ungestörtem Fortgang ohne weitere Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung führen oder in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen soll (vgl. Rn. 4; Beschluss vom – 4 StR 397/19, jeweils mwN).
19bb) Hieran gemessen hat der Angeklagte noch nicht im Sinne des § 22 StGB unmittelbar zur Verwirklichung des § 176 Abs. 2 StGB angesetzt. Die Vornahme des Zungenkusses war nach der Vorstellung des Angeklagten ersichtlich von der Bereitschaft der Geschädigten, sich auf das sexuelle Ansinnen des Angeklagten einzulassen, und damit von einem wesentlichen Zwischenakt abhängig (vgl. Rn. 4; Urteil vom – 4 StR 258/13 Rn. 17).
204. Der Senat hebt in den Fällen II.1 bis II.4 der Urteilsgründe die zugrundeliegenden Feststellungen mit auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass im Fall II.3 der Urteilsgründe bei Verneinung eines versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2, Abs. 6 Satz 1 StGB aF zu prüfen sein wird, ob ein Einwirken auf ein Kind mittels Informations- und Kommunikationstechnologie nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. a) StGB in der ab geltenden Fassung in Betracht kommt.
III.
21Der Wegfall der Einzelstrafen durch die Verfahrenseinstellung in den Fällen II.5, II.7 und II.8 der Urteilsgründe sowie die Aufhebung der Verurteilung in den Fällen II.1 bis II.4 der Urteilsgründe entziehen der Gesamtstrafe die Grundlage. Das Landgericht hat bei der Zumessung der Gesamtstrafe auch die Vorgehensweise des Angeklagten in den Fällen II.1, II.2 und II.4 der Urteilsgründe strafschärfend berücksichtigt.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:211123B4STR72.23.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-60724