BGH Beschluss v. - X ZB 18/22

Instanzenzug: Az: 19 W (pat) 7/22 Beschluss

Gründe

1I. Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die Zurückweisung der Patentanmeldung 10 2018 205 050.3.

2Die Anmeldung wurde am eingereicht und betrifft eine Vorrichtung und ein Verfahren zum Trainieren eines künstlichen neuronalen Netzwerks bezüglich des Erkennens des Wunsches einer Person nach Beförderung mit einem Fahrzeug.

3Das Patentamt hat die Anmeldung wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen. Mit ihrer dagegen gerichteten Beschwerde hat die Anmelderin ihre Anmeldung mit einem Haupt- und einem Hilfsantrag weiterverfolgt. Das Patentgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen.

4Gegen den am zugestellten Beschluss des Patentgerichts richtet sich die Anmelderin mit ihrer am eingelegten Rechtsbeschwerde, mit der sie ihre Anträge aus der Beschwerdeinstanz weiterverfolgt. Ferner beantragt sie Wiedereinsetzung nach Versäumung der Fristen für die Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde.

5II. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist zulässig und begründet.

6a) Das Gesuch ist nach der im Verfahren über die Rechtsbeschwerde gemäß § 106 Abs. 1 Satz 1 PatG entsprechend anzuwendenden Regelung in § 233 ZPO statthaft und innerhalb der Fristen des § 234 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO eingelegt worden.

7b) Die Anmelderin hat dargetan und glaubhaft gemacht, dass die Versäumung der Fristen nicht auf einem eigenen oder ihr zurechenbaren fremden Verschulden beruht.

8aa) Eine Partei hat nach ständiger Rechtsprechung ein Verschulden von Büropersonal nicht zu vertreten, wenn kein Organisationsverschulden vorliegt. Dies setzt voraus, dass im Rahmen der Büroorganisation durch eine allgemeine Arbeitsanweisung dafür Vorsorge getroffen wurde, dass bei normalem Verlauf der Dinge die Frist mit Sicherheit gewahrt worden wäre (, NJW-RR 2022, 135 Rn. 16; Beschluss vom - XI ZB 13/22, NJW 2023, 1224 Rn. 10 ff., 17). Ferner ist dafür Sorge zu tragen, dass die Bearbeitung des Posteingangs in Rechtsmittelsachen durch zuverlässiges und erprobtes Büropersonal vorgenommen wird. Durch organisatorische Anordnungen muss sichergestellt werden, dass eine erfahrene Bürokraft die Eingangspost darauf überprüft, ob sich darunter eine Fristsache befindet, auf die hin unverzüglich etwas veranlasst werden muss (, NJW-RR 2022, 135 Rn. 17).

9bb) Im Streitfall hat die Anmelderin vorgetragen und glaubhaft gemacht, dass Empfang und Weiterleitung der zentral eingehenden Post in ihrem Unternehmen durch eine schriftliche Organisationsanweisung geregelt ist, dass der zugestellte Beschluss des Patentgerichts in der in dieser Anweisung für gerichtliche Zustellungen vorgesehenen Weise an die zuständige Abteilung weitergeleitet worden ist, dass die Postfächer für die einzelnen Abteilungen in einer schriftlichen Liste hinterlegt sind und dass der für den Verlust der Sendung wahrscheinlich ursächliche, kurz vor dem Tag der Zustellung erfolgte Umzug der zuständigen Abteilung in dieser Liste vermerkt war.

10cc) Auf dieser Grundlage beruht die Versäumung der Fristen nicht auf einem eigenen Verschulden der Anmelderin.

11Die getroffenen organisatorischen Vorkehrungen ließen erwarten, dass der zugestellte Beschluss bei normalem Verlauf der Dinge rechtzeitig bei dem zuständigen Mitarbeiter eingegangen wäre.

12dd) Für ein eventuelles Verschulden ihrer Mitarbeiter oder externer Dienstleister hat die Anmelderin bei dieser Ausgangslage nicht einzustehen.

13III. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil die nicht an eine Zulassung gebundenen Rechtsbeschwerdegründe des § 100 Abs. 3 Nr. 3 und 6 PatG geltend gemacht werden, und aufgrund der Wiedereinsetzung auch im Übrigen zulässig. Sie ist aber unbegründet.

141. Das Patentgericht hat angenommen, der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 5 sei durch den Stand der Technik nahegelegt.

15Der Gegenstand von Anspruch 4 beruhe ausgehend von der deutschen Patentanmeldung 10 2016 217 770 (D1) nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die Entgegenhaltung beschreibe, dass eine Kameraeinrichtung des Fahrzeugs kontinuierlich Bilder vom Fahrzeugvorfeld aufnehme, die in einer Steuerungseinrichtung auf das Vorhandensein einer Person und insbesondere auf Bewegungsmuster der Person ausgewertet würden. Werde eine Geste erkannt, steuere das Fahrzeug vollautomatisiert die aufzunehmende Person an. Die erfasste Handbewegung werde von der Steuerungseinrichtung mit vorab definierten Mustern verglichen, die schon im Speicher des Fahrzeugs vorlägen oder zuvor angelernt würden. Der Fachmann lese mit, dass das in der Entgegenhaltung beschriebene "Anlernen" sich auf maschinelles Lernen beziehe. Beim maschinellen Lernen ziehe der Fachmann auf dem Gebiet der Mustererkennung eine Realisierung durch künstliche neuronale Netze in Betracht. Der Einsatz künstlicher neuronaler Netzwerke in der Bildverarbeitung teil- oder vollautonom fahrender Fahrzeuge gehöre schon seit vielen Jahren zum üblichen Vorgehen des Fachmanns wie die deutsche Patentanmeldung 40 01 493 (D3) belege.

16Vor diesem Hintergrund sei auch der Gegenstand von Anspruch 5 nahegelegt.

17Der Gegenstand der Ansprüche 1, 2 und 3 beruhe ebenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit. D1 lehre sowohl den Anlernvorgang als auch eine Klassifizierung einer erfassten Handbewegung. Dabei könnten auch negative Trainingsdaten verwendet werden, wie beispielsweise das Verwerfen einer Handgeste mangels Haltewunsches, indem die Geste als eine "nicht zum Anhalten führende Handbewegung" erkannt und entsprechend klassifiziert werde. Der Einsatz eines trainierten künstlichen neuronalen Netzwerks könne aus den dargestellten Erwägungen keine erfinderische Tätigkeit begründen. Für das Trainieren eines Netzwerks sei die Verwendung eines ersten und mehrerer zweiter Signale fachüblich. Die Berechnung der zweiten Steuerbefehle durch das künstliche neuronale Netzwerk und die Anpassung der Gewichtsfaktoren ergäben sich für den Fachmann aus einer Kombination von D1 mit der deutschen Patentanmeldung 10 2017 100 609 (D2). Entsprechendes gelte für das korrespondierende Verfahren zum Trainieren des Netzwerks nach Anspruch 2 und das Computerprogrammprodukt nach Anspruch 3.

18Die Gegenstände von Anspruch 1 bis 5 in der Fassung des Hilfsantrags ergäben sich in naheliegender Weise aus D1 und D2.

192. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde stand.

20a) Die Rechtsbeschwerde macht geltend, das Patentgericht habe angenommen, der Fachmann verstehe die Begriffe "Trainingsauswerteeinrichtung" und "Einsatzauswerteinrichtung" dahin, dass es sich jeweils um dieselbe Auswerteeinrichtung handele. Hierbei habe es Vorbringen der Anmelderin übergangen, dass Trainings- und Einsatzphase eines künstlichen neuronalen Netzwerks hinsichtlich erforderlicher Hardware und Eingangsdaten grundsätzlich verschieden seien. Das Patentgericht lege schon nicht dar, worauf es das von ihm zugrunde gelegte Fachwissen stütze. Zudem sei es zu einem Hinweis verpflichtet gewesen.

21Diese Rüge ist unbegründet.

22aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt jedem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern und dem Gericht seine Auffassung zu den erheblichen Rechtsfragen darzulegen. Das Gericht ist verpflichtet, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und auf seine sachlich-rechtliche und verfahrensrechtliche Entscheidungserheblichkeit zu prüfen. Es darf ferner keine Erkenntnisse verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten nicht äußern konnten (vgl. nur , GRUR 2013, 318 Rn. 9 - Sorbitol).

23Das Gericht muss den Verfahrensbeteiligten hingegen nicht mitteilen, wie es den die Grundlage seiner Entscheidung bildenden Sachverhalt voraussichtlich würdigen wird. Es reicht in der Regel aus, wenn die Sach- und Rechtslage erörtert und den Beteiligten dadurch aufgezeigt wird, welche Gesichtspunkte für die Entscheidung voraussichtlich von Bedeutung sein werden. Ein Hinweis kann lediglich geboten sein, wenn für die Beteiligten auch bei sorgfältiger Prozessführung nicht vorhersehbar ist, auf welche Erwägungen das Gericht seine Entscheidung stützen wird, und deshalb, weil diese Gesichtspunkte nicht angesprochen wurden, ein für die Entscheidung relevanter Sachvortrag unterbleibt (vgl. nur , Rn. 11; Beschluss vom - X ZB 19/12, GRUR 2014, 1235 Rn. 11 - Kommunikationsrouter; Beschluss vom - X ZB 7/99, GRUR 2000, 792, 793 - Spiralbohrer).

24bb) Nach diesen Grundsätzen liegt im Streitfall keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG vor.

25Das Patentgericht hat seine Würdigung, die Auswerteeinrichtungen für Training und Einsatz seien identisch, auf Ausführungen in der Beschreibung gestützt und festgestellt, dass sich diese mit dem Fachwissen decken.

26Daraus ergibt sich, dass das Patentgericht die abweichende Auffassung der Anmelderin nicht übersehen, sondern für unzutreffend erachtet hat. Darin liegt kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Ob die Würdigung durch das Patentgericht inhaltlich zutrifft, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidungserheblich.

27Jedenfalls angesichts des Umstands, dass sich das vom Patentgericht zugrunde gelegte Fachwissen mit den von ihm herangezogenen Ausführungen in der Beschreibung deckt, war das Patentgericht auch nicht gehalten, einen Hinweis zu erteilen.

28b) Die Rechtsbeschwerde macht geltend, das Patentgericht habe angenommen, es sei selbstverständlich, dass in der Lernphase auch Steuerbefehle eines Fahrers zugeführt würden, weil ansonsten kein Lernen möglich sei. Damit habe das Patentgericht Vortrag der Anmelderin übergangen, wonach D1 keinen Hinweis dazu gebe, wie die Steuereinrichtung die Signale zur Ansteuerung des Kraftfahrzeugs berechne, insbesondere, wie ein erster Steuerbefehl gelernt werden könne.

29Diese Rüge ist ebenfalls unbegründet.

30Aus den Ausführungen des Patentgerichts ergibt sich, dass dieses wie die Anmelderin davon ausgegangen ist, dass D1 die Frage der Zuführung von Steuerbefehlen eines Fahrers in der Lernphase nicht ausdrücklich anspricht, abweichend von der Anmelderin aber der Auffassung war, dass der Fachmann eine Eingangsschnittstelle für solche Befehle auch in der Lernphase als selbstverständlich mitliest.

31Damit hat das Patentgericht den Vortrag der Anmelderin nicht übergangen, sondern als unzutreffend beurteilt. Dies begründet keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.

32Die Verletzung einer Hinweispflicht macht die Anmelderin in diesem Zusammenhang nicht geltend.

33c) Die Rechtsbeschwerde rügt, das Patentgericht habe ohne weiteres die Entgegenhaltungen D1 und D2 miteinander kombiniert. Dadurch habe es Vortrag der Anmelderin übergangen, wonach der Fachmann keine Veranlassung gehabt habe, D2 zu konsultieren.

34Diese Rüge ist ebenfalls unbegründet.

35Das Patentgericht hat ausgeführt, die nicht explizit aus D1 entnehmbaren Merkmale hätten sich für den Fachmann in naheliegender Weise unter Zuhilfenahme seines Fachwissens ergeben, wie dieses beispielsweise durch D2 belegt sei. D2 befasse sich wie D1 und die Anmeldung mit dem Erkennen und Klassifizieren von menschlichen Gesten.

36Daraus ergibt sich, dass sich das Patentgericht mit der Frage der Veranlassung befasst hat. Damit fehlt es an einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Ob die Auffassung des Patentgerichts, die in D1 offenbarten Merkmale seien schon aufgrund des Fachwissens nahegelegt, inhaltlich zutrifft, ist in diesem Zusammenhang nicht erheblich.

37d) Die Rechtsbeschwerde rügt, die angefochtene Entscheidung sei teilweise nicht mit Gründen versehen, weil das Patentgericht sich nicht mit der Frage befasst habe, ob der Gegenstand der Erfindung in der Gesamtheit seiner Lösungsmerkmale eine erfinderische Tätigkeit begründe.

38Diese Rüge ist ebenfalls unbegründet.

39aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats rechtfertigt eine sachlich fehlerhafte, unvollständige oder unschlüssige Begründung nicht die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde nach § 100 Abs. 3 Nr. 6 PatG. Eine Entscheidung ist vielmehr nur dann im Sinne der genannten Vorschrift nicht mit Gründen versehen, wenn eines von mehreren selbstständigen Angriffs- oder Verteidigungsmitteln bei der Begründung übergangen worden ist (, BGHZ 173, 47 = GRUR 2007, 862 Rn. 16 - Informationsübermittlungsverfahren II).

40Ein selbstständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel in diesem Sinne ist nur bei einem Tatbestand gegeben, der für sich allein rechtsbegründend, rechtsvernichtend, rechtshindernd oder rechtserhaltend wäre. Dazu gehört die Frage der erfinderischen Tätigkeit bzw. des erfinderischen Schritts, nicht jedoch ein einzelner Gesichtspunkt, der für deren Bejahung oder Verneinung in Betracht zu ziehen ist ( Xa ZB 10/09, GRUR 2010, 950 Rn. 8 - Walzenformgebungsmaschine).

41bb) Danach mangelt es der angefochtenen Entscheidung nicht an einer Begründung.

42Das Patentgericht hat dargelegt, weshalb es den Gegenstand der Anmeldung nicht für erfinderisch hält. Der von der Rechtsbeschwerde als nicht behandelt angesehene Aspekt betrifft nur einen einzelnen Gesichtspunkt, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von Bedeutung sein kann, und damit kein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Sinne der aufgezeigten Rechtsprechung.

43IV. Eine Kostenentscheidung ist im Hinblick auf § 109 Abs. 1 Satz 1 PatG nicht angezeigt. Die Anmelderin ist die einzige Verfahrensbeteiligte.

44V. Eine mündliche Verhandlung hält der Senat nicht für erforderlich (§ 107 Abs. 1 Halbsatz 2 PatG).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230124BXZB18.22.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-60064