BGH Beschluss v. - 4 StR 352/23

Anforderungen an Urteilsgründe bei Tatvorwurf u.a. der Vergewaltigung; Verhängung von Jugendstrafe; minder schwerer Fall

Gesetze: § 261 StPO, § 267 StPO, § 177 Abs 1 StGB vom , § 177 Abs 2 Nr 1 StGB vom , § 177 Abs 5 StGB vom , § 31 Abs 2 JGG

Instanzenzug: Az: 1 KLs 3/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung, wegen unterlassener Hilfeleistung in zwei Fällen, wegen sexueller Belästigung und wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften unter Einbeziehung eines früheren Urteils zu der Einheitsjugendstrafe von sieben Jahren verurteilt. Ferner hat es Adhäsionsentscheidungen getroffen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

21. Nach den Feststellungen gab der Angeklagte der Nebenklägerin im August 2015 eine Ohrfeige, drückte sie auf das Bett in seinem Zimmer und vollzog mit ihr den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss, obwohl er erkannt hatte, dass er die sexuellen Handlungen gegen den Willen der Geschädigten ausübte (Fall II.1 der Urteilsgründe). Im Winter 2015 vollzog der Angeklagte auf einem Autobahnrastplatz den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin, wobei er sie derart auf einen Tisch drückte, dass die Nebenklägerin der Situation nicht entkommen konnte (Fall II.2 der Urteilsgründe). Am 24. oder führte der Angeklagte den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin in einem Zimmer des Krankenhauses durch, in dem sie wenige Tage zuvor den gemeinsamen Sohn entbunden hatte. Dazu drückte er sie auf das Bett; die Nebenklägerin litt aufgrund der frischen Operation unter starken Schmerzen (Fall II.3 der Urteilsgründe). Am zog der Angeklagte die Nebenklägerin an den Haaren aus dem Bett und an ihrem Arm bis in sein Auto. Er fuhr sie in ein Waldstück und kündigte an, sie bekomme jetzt, was sie verdiene; in einem Telefonat sagte er zu seinem Gesprächspartner, dieser wisse, was er jetzt zu tun habe. Der Angeklagte hatte bereits mehrfach geäußert, dieser Gesprächspartner werde die Nebenklägerin umbringen, sollte sie den Angeklagten verlassen (Fall II.4 der Urteilsgründe). Im November 2019 besuchte der Angeklagte mit dem gesondert verfolgten G.   die Geschädigte B.        in deren Wohnung, wo der gesondert Verfolgte die Geschädigte würgte. Der Angeklagte griff nicht ein, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, seinen Freund von den Handlungen abzuhalten (Fall II.5 der Urteilsgründe). Bei einem weiteren Besuch Mitte Dezember 2019 führte der gesondert verfolgte G.   zunächst einen Finger in die Vagina der Geschädigten B.        ein und vollzog anschließend mit ihr den vaginalen Geschlechtsverkehr, obwohl sie mehrfach sagte, dass sie das nicht wolle. Der Angeklagte, der mit seiner Begleiterin S.      den beiden in das Zimmer der Geschädigten gefolgt war, griff nicht ein, obwohl er ohne Weiteres seinen Freund von den Handlungen hätte abhalten können. Zudem fasste der Angeklagte während dieses Treffens der Zeugin S.     mehrfach gegen ihren Willen über ihrer Leggings an das Gesäß, wodurch sich die Geschädigte erheblich belästigt fühlte (Fälle II.6 und II.7 der Urteilsgründe). Schließlich schickte der Angeklagte Anfang Mai 2020 von seinem Mobiltelefon der Zeugin B.        ein kinderpornographisches Video zu (Fall II.8 der Urteilsgründe).

32. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe II.1 bis II.7 der Urteilsgründe in Abrede gestellt. Im Fall II.8 der Urteilsgründe hat er angegeben, das Video zwar erhalten, aber nicht weitergeleitet zu haben. Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tatgeschehen im Wesentlichen jeweils auf die als vollumfänglich glaubhaft bewerteten Angaben der Nebenklägerin sowie der Zeuginnen B.        und S.      gestützt.

II.

4Die Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg. Denn die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs – sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

51. Im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen gelten besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung (vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 1 StR 331/21 Rn. 9, jeweils mwN). Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist der entscheidende Teil der Aussage der einzigen Belastungszeugin in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben (vgl. etwa Rn. 11; Urteil vom – 1 StR 114/11 Rn. 14). Die Darstellung hat auch vorangegangene, frühere Aussagen der Zeugin zu umfassen, denn anderenfalls kann das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat (vgl. Rn. 6; Beschluss vom – 2 StR 409/16 Rn. 20 mwN). Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht bei der Würdigung der erhobenen Beweise alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. Rn. 11 mwN).

62. Gemessen hieran erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts zu den Taten zum Nachteil der Nebenklägerin (Fälle II.1 bis II.4 der Urteilsgründe) als nicht tragfähig, denn sie leidet sowohl an einem Darstellungs- als auch an einem Erörterungsmangel.

7a) Die Strafkammer hat zur Begründung ihrer Überzeugungsbildung unter anderem auf die Konstanz in den Aussagen der Nebenklägerin abgestellt, dazu aber lediglich ausgeführt, dass diese das Kerngeschehen in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe bei zwei polizeilichen Vernehmungen sowie vor der Strafkammer im Wesentlichen übereinstimmend und ohne im Ergebnis relevante Widersprüche geschildert habe. Hinsichtlich der Fälle II.2 und II.3 der Urteilsgründe habe die Nebenklägerin bei der Polizei keine Angaben gemacht. Dies setzte aber die anderen Qualitätsmerkmale nicht außer Kraft.

8Auf Grundlage dieser Ausführungen kann der Senat die Bewertung des Landgerichts zur Konstanz der Angaben der Nebenklägerin in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe nicht nachvollziehen. Dieser Darstellungsmangel erstreckt sich auch auf die Beweiswürdigung hinsichtlich der Fälle II.2 und II.3 der Urteilsgründe, weil eine etwaige gravierende Inkonstanz im Fall II.1 oder II.4 der Urteilsgründe auch bei den beiden anderen Tatvorwürfen im Rahmen der umfassend vorzunehmenden Glaubhaftigkeitsbeurteilung als Indiz von Bedeutung sein kann.

9b) Hinsichtlich sämtlicher Taten zum Nachteil der Nebenklägerin liegt zudem ein Erörterungsmangel vor. Denn das Landgericht hat vierzehn weitere Tatvorwürfe der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin (Taten 2 bis 15 der Anklageschrift) gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, ohne die Gründe hierfür mitzuteilen. Dessen bedarf es aber, weil diese im Rahmen der notwendigen umfassenden Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Angaben der Nebenklägerin von Bedeutung sein können (vgl. Rn. 4; Beschluss vom – 1 StR 53/16 Rn. 3, jeweils mwN).

103. Hinsichtlich des Falls II.5 der Urteilsgründe hat das Landgericht seine Überzeugung auf die Angaben der Zeugin B.        in der Hauptverhandlung gestützt. Ihre Aussage hat es als konstant bewertet, weil sie das konkrete Kerngeschehen und das Randgeschehen wie bei polizeilichen Vernehmungen und wie im Verfahren gegen den gesondert verfolgten G.    im Wesentlichen übereinstimmend und im Ergebnis ohne relevante Widersprüche geschildert habe. Auch insoweit leidet das Urteil an einem Darstellungsmangel, denn auch hier werden die früheren Angaben der Zeugin B.      nicht mitgeteilt, so dass die Konstanzanalyse des Landgerichts für den Senat nicht überprüfbar ist.

11Hinsichtlich des Falls II.5 der Urteilsgründe fehlt zudem die Erörterung des Umstands, dass die Zeugin in der Hauptverhandlung angegeben hat, sich kaum noch an den Vorfall am (Fall II.6 der Urteilsgründe) erinnern zu können. Die behauptete Erinnerungslücke versteht sich angesichts des massiven Tatvorwurfs einer zweifachen Penetration nicht von selbst und hätte der Auseinandersetzung im Rahmen der Bewertung der Erinnerung der Zeugin an den weniger intensiven Fall II.5 der Urteilsgründe am selben Tatort im Monat zuvor bedurft.

124. Bei seiner Überzeugungsbildung zu den Fällen II.6 und II.7 der Urteilsgründe hat sich das Landgericht auf die Angaben der Zeugin S.     gestützt. Eine nachvollziehbare Konstanzanalyse lässt sich den Urteilsgründen auch hier nicht entnehmen. Denn es fehlt eine Darstellung der Angaben der Zeugin bei der Polizei. Die bloße Mitteilung, die Zeugin habe sich in der Hauptverhandlung nicht mehr an ihre Angabe in der polizeilichen Vernehmung erinnern können, wonach sie der Angeklagte vor die Tür geschoben und sie dadurch daran gehindert habe zu helfen, genügt für eine revisionsgerichtliche Überprüfung nicht. Das Landgericht hat diesen Umstand bei der Erörterung von Erinnerungslücken und einer fehlenden Belastungstendenz mitgeteilt, weshalb unklar bleibt, ob es sich um die einzige Abweichung einer ansonsten übereinstimmenden Aussage handelt. Einer eingehenden Darstellung und Auseinandersetzung mit den früheren Angaben der Zeugin S.     hätte es auch deshalb bedurft, weil nach ihren Angaben in der Hauptverhandlung die durch die Tat Geschädigte B.       das Geschehen im Fall II.6 der Urteilsgründe unmittelbar danach heruntergespielt habe.

135. Hinsichtlich des Falls II.8 der Urteilsgründe stützt sich das Landgericht ebenfalls auf die Angaben der Zeugin B.       , die die Tathandlung des Zuschickens durch den Angeklagten in der Hauptverhandlung berichtet habe. Eine Beweiswürdigung ihres Aussageverhaltens hinsichtlich des Versendens des kinderpornographischen Videos durch den Angeklagten lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Eine Berücksichtigung der Bewertung der Aussage der Zeugin im Fall II.5 kommt schon angesichts der dortigen Mängel nicht in Betracht.

14Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung, ohne dass es des Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf.

156. Die Aufhebung des Urteils erfasst unter den hier gegebenen Umständen auch den ‒ seinerseits nicht rechtsfehlerfreien ‒ Adhäsionsausspruch, da der der Neben- und Adhäsionsklägerin zuerkannte Schmerzensgeldanspruch sowie die Feststellungsentscheidungen in den Straftaten gründen, auf die sich die Aufhebung bezieht (vgl. ‒ 5 StR 373/18 Rn. 7).

167. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

17a) Im Fall II.7 der Urteilsgründe ist ein mehrfaches Anfassen durch den Angeklagten mit den bisherigen Angaben der Zeugin S.     nicht belegt, die ausgesagt hat, der Angeklagte habe ihr nur einmal „in den Po gekniffen“.

18b) Hinsichtlich schädlicher Neigungen als Voraussetzung für die Verhängung von Jugendstrafe müssen die Urteilsgründe Angaben dazu enthalten, dass erhebliche Persönlichkeitsmängel nicht nur vor der Tat angelegt waren, sondern auch im Zeitpunkt des Urteils noch gegeben sind und deshalb weitere Straftaten befürchten lassen (st. Rspr.; vgl. Rn. 3; Beschluss vom – 3 StR 581/14 Rn. 5).

19c) Soweit für die Bewertung des Tatunrechts im Jugendstrafrecht von Bedeutung ist, ob sich die Tat, falls sie nach allgemeinem Strafrecht zu bewerten wäre, als minder schwerer Fall darstellen würde (vgl. Rn. 9 mwN), ist ein minder schwerer Fall gemäß § 177 Abs. 5 StGB in der bis geltenden Fassung erst dann in Betracht zu ziehen, wenn die gebotene Gesamtwürdigung ergibt, dass trotz des tatbestandlichen Vorliegens des Regelbeispiels gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB aF die Regelwirkung entfällt und der Regelstrafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB gleichwohl noch unangemessen wäre (vgl. Rn. 10).

20d) Bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 JGG ist nicht lediglich die frühere Ahndung einzubeziehen, sondern eine neue, von der früheren Beurteilung unabhängige einheitliche Rechtsfolgenbemessung für sämtliche Taten vorzunehmen (vgl. Rn. 5 mwN). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind bei der Einbeziehung eines früheren Urteils auch die bereits in jenes Urteil einbezogenen Urteile im Tenor des neuen Urteils aufzuführen (vgl. Rn. 1).

21e) Die Verpflichtung zur Zinszahlung beginnt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gemäß § 404 Abs. 2 StPO, § 291 Satz 1, § 187 Abs. 1 BGB analog erst ab dem auf den Eintritt der Rechtshängigkeit des Zahlungsanspruchs folgenden Tag (vgl. Rn. 3 mwN).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:211123B4STR352.23.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-59202