Nichtzulassungsbeschwerde - absoluter Revisionsgrund - gerichtsinterne Vorgänge - Darlegungslast
Gesetze: Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 72 Abs 2 Nr 3 Alt 1 ArbGG, § 72a Abs 3 S 2 Nr 3 Alt 1 ArbGG, § 547 Nr 1 ZPO, § 551 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst b ZPO
Instanzenzug: ArbG Braunschweig Az: 8 Ca 358/21 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen Az: 17 Sa 678/22 Urteil
Gründe
1Die Beschwerde ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen (§ 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG).
2I. Die Parteien streiten über eine Bonuszahlung für das Geschäftsjahr 2020. Der Kläger war bis zum bei der Beklagten beschäftigt. Im Jahr 2020 führte die Beklagte für den Managementkreis, zu dem auch der Kläger gehörte, ein neues Vergütungssystem ein. Dabei hatte die Beklagte den Arbeitnehmern, die in das neue Bonussystem gewechselt waren, eine Bestandssicherung für die Jahre 2020 bis 2022 zugesagt, die im Nachgang im Rahmen einer Betriebsvereinbarung abgeändert wurde. Der Kläger war ua. der Ansicht, ihm stehe ein Differenzanspruch aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Höhe von 18.971,00 Euro brutto nebst Zinsen zu. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage auf die Berufung des Klägers stattgegeben. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, die ua. auf den absoluten Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 1 ZPO) gestützt ist.
3Soweit für die Beschwerde von Bedeutung, sieht der Geschäftsverteilungsplan des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (GVP) für die Jahre 2022 und 2023 Folgendes vor:
4Die Beklagte hat vorgetragen, im Sinne des GVP habe es drei parallel gelagerte Berufungsverfahren beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen gegeben: zwei Verfahren vor der Kammer 17 und ein Verfahren vor der Kammer 10. Die Berufung im Verfahren vor der 10. Kammer sei beim Landesarbeitsgericht am um 14:15 Uhr eingegangen. Im vorliegenden - der Kammer 17 zugewiesenen - Verfahren habe der Kläger beim Landesarbeitsgericht Berufung am eingelegt. Eine spätere Abgabe an die 10. Kammer sei nicht erfolgt. Im Termin vor der 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts am habe der Prozessbevollmächtigte der Beklagten den dortigen Vorsitzenden darauf hingewiesen, dass es zwei Parallelverfahren vor der 17. Kammer gebe.
5II. Die geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 1 ZPO, § 72 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 Alt. 2 ArbGG) sind nicht hinreichend dargelegt.
61. Der absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 1 ZPO) ist nicht hinreichend vorgetragen.
7a) Die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens haben nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anspruch auf den gesetzlichen Richter, der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt (vgl. - zu C II 1 der Gründe, BVerfGE 89, 28). Die Verfahrensgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sichert nicht nur die Freiheit vor Eingriffen durch Organe der Legislative und Exekutive; ihre Schutzfunktion richtet sich auch nach „innen“, also darauf, dass niemand durch Maßnahmen der Gerichtsorganisation dem in seiner Sache gesetzlich berufenen Richter entzogen wird (vgl. , 1 BvR 985/87 - zu C II 2 der Gründe, BVerfGE 82, 286). Ziel des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist es, der Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung vorzubeugen, die durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter eröffnet sein könnte. Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden. Deshalb verpflichtet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG den Gesetzgeber, eine klare und abstrakt-generelle Zuständigkeitsordnung zu schaffen, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bezeichnet, der für die Entscheidung zuständig ist. Jede sachwidrige Einflussnahme auf die rechtsprechende Tätigkeit von innen und von außen soll dadurch verhindert werden. Die Gerichte sind bei der ihnen obliegenden Anwendung der vom Gesetzgeber geschaffenen Zuständigkeitsordnung verpflichtet, dem Gewährleistungsgehalt und der Schutzwirkung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angemessen Rechnung zu tragen ( - Rn. 20, BAGE 163, 183; - 10 AZN 67/16 - Rn. 12, BAGE 156, 359; vgl. - Rn. 7 f.).
8Geschäftsverteilungspläne der Gerichte müssen im Voraus abstrakt-generell die Zuständigkeit der Spruchkörper regeln. Es sind Vorkehrungen schon gegen die bloße Möglichkeit und den Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt zu treffen. Es gehört zum Begriff des gesetzlichen Richters, dass die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt. Das schließt allerdings unbestimmte Rechtsbegriffe nicht aus (vgl. - zu C I 3 und 4 der Gründe, BVerfGE 95, 322; vgl. auch - Rn. 9 mwN).
9b) Nicht schon jede bloß fehlerhafte Anwendung einfachgesetzlicher Zuständigkeitsvorschriften führt jedoch zu einer verfassungswidrigen Entziehung des gesetzlichen Richters. Durch einen schlichten Verfahrensverstoß - „error in procedendo“ - wird niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen ( - Rn. 11; vgl. - Rn. 71, BVerfGE 138, 64). Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die Entscheidung eines Gerichts von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist oder bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. - Rn. 89 mwN). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts beruht, oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur angesichts der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden ( - Rn. 21, BAGE 163, 183; vgl. - Rn. 10). Diese Maßstäbe gelten auch für die Frage, ob ein Gericht vorschriftsmäßig iSv. § 547 Nr. 1 ZPO besetzt gewesen ist ( - Rn. 13, BAGE 156, 359).
10c) Wird mit einer Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes nach § 547 Nr. 1 bis 5 ZPO geltend gemacht, muss nach § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG die Beschwerdebegründung die Darlegung eines solchen absoluten Revisionsgrundes enthalten. Die bloße Benennung des Zulassungsgrundes genügt nicht. Es sind vielmehr die Tatsachen substantiiert vorzutragen, aus denen sich der Verfahrensfehler des Berufungsgerichts ergeben soll ( - Rn. 20, BAGE 148, 206; - 5 AZN 1036/11 - Rn. 7 mwN). Das gilt auch für den absoluten Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 547 Nr. 1 ZPO). Zwar wird dessen Entscheidungserheblichkeit unwiderleglich vermutet. Das entbindet den Beschwerdeführer jedoch nicht von der Pflicht darzulegen, dass der gerügte absolute Revisionsgrund tatsächlich vorliegt. Die Anforderungen an die ordnungsgemäße Begründung der Rüge entsprechen denen bei Erhebung der Verfahrensrüge im Revisionsverfahren nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO ( - Rn. 5 mwN). Das setzt die Angabe von Tatsachen voraus, aus denen sich der behauptete Verfahrensmangel ergeben soll. Handelt es sich dabei - wie vorliegend - um gerichtsinterne Vorgänge, muss der Beschwerdeführer zumindest darlegen, dass er eine zweckentsprechende Aufklärung versucht hat. Die Rüge darf nicht auf den bloßen Verdacht des Vorliegens eines Verfahrensmangels iSd. § 547 Nr. 1 ZPO gestützt werden ( - Rn. 3 mwN; - 7 ABR 72/10 - Rn. 58; - 6 AZN 986/10 - Rn. 5 mwN; vgl. auch - Rn. 19).
11d) Gemessen daran fehlt es an einer ordnungsgemäßen Darlegung des behaupteten Revisionsgrundes. Die Beklagte stützt ihre Rüge lediglich auf den Verdacht eines Verfahrensmangels, ohne diesen durch einen ausreichend substantiierten Tatsachenvortrag zu untersetzen oder zumindest anzugeben, aus welchen Gründen ihr - trotz eines entsprechenden Aufklärungsversuchs - ein substantiierter Tatsachenvortrag nicht möglich war.
12aa) Die Beklagte hat Umstände dargelegt, die dafür sprechen, dass nach Nr. 2.4.1 GVP das hiesige Verfahren aufgrund der Parallelität an die Kammer 10 des Landesarbeitsgerichts hätte gelangen müssen. Tatsächlich ist es der Kammer 17 des Landesarbeitsgerichts zugeteilt worden. Das kann einen Verstoß gegen Nr. 2.4.1 GVP darstellen. Dieser Umstand allein deutet aber noch nicht auf Willkür, etwa eine bewusste oder grobe Fehlanwendung der Regelungen zum Geschäftsverteilungsplan hin, sondern für sich genommen nur auf einen einfachen Fehler oder Irrtum bei der Verteilung des Verfahrens.
13bb) Anderes folgt nicht aus dem Vortrag, wonach die Prozessbevollmächtigten der Beklagten in dem Verfahren vor der Kammer 10 auf die Parallelität der Verfahren hingewiesen haben. Dadurch mag zwar der Vorsitzende der Kammer 10 Kenntnis von der womöglich fehlerhaften Zuteilung des hiesigen Verfahrens an die Kammer 17 erlangt haben. Aus diesem Sachvortrag der Beklagten ergibt sich aber nicht, dass die Vorsitzende der Kammer 17 vor Verkündung der anzufechtenden Entscheidung Kenntnis von einer - möglichen - fehlenden Zuständigkeit ihrer Kammer erlangt hat. In der Beschwerde wird schon nicht behauptet, dass die Beklagte die Problematik gegenüber der Kammer 17 thematisiert und die Vorsitzende in die Lage versetzt hat, ihre Zuständigkeit zu prüfen. Die Beklagte legt auch nicht dar, dass sie durch Akteneinsichtnahme oder Einholung einer entsprechenden Auskunft bei Gericht versucht hat festzustellen, ob die Vorsitzende der Kammer 17 vom Vorsitzenden der Kammer 10 ggf. über die Zuständigkeitsproblematik informiert wurde oder auf andere Weise davon Kenntnis erlangt hat.
14cc) Umstände, die auf eine grundsätzlich fehlerhafte Handhabung bei der Auslegung und Anwendung des Geschäftsverteilungsplans durch das Landesarbeitsgericht hindeuten würden (vgl. zu einer solchen Fallkonstellation - Rn. 17 ff.), hat die Beklagte ebenso wenig dargelegt.
152. Soweit die Beschwerde auf die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, auf Divergenz und auf grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage gestützt wird (§ 72 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 Alt. 2 ArbGG), wird gemäß § 72a Abs. 5 Satz 5 Alt. 1 ArbGG von einer weiteren Begründung abgesehen, da sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist. Weitergehende Ausführungen sind weder von Verfassungs wegen noch aus konventionsrechtlichen Gründen geboten (vgl. - Rn. 19, 25; - 1 BvR 1382/10 - Rn. 12 ff.).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:250124.B.10AZN677.23.0
Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 850 Nr. 12
NJW 2024 S. 852 Nr. 12
TAAAJ-58967