Instanzenzug: ArbG Mannheim Az: 11 Ca 369/19 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 12 Sa 41/20 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.
2Der Kläger leistete im streitgegenständlichen Zeitraum Nachtarbeit im Rahmen von Wechselschichtarbeit bei der Beklagten, einem Unternehmen der Getränkeindustrie. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die Beklagte ist durch den mit der NGG geschlossenen Unternehmenstarifvertrag „Geltung von Manteltarifverträgen“ (UTV) an den Rahmen-Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der Ernährungsindustrie in Baden-Württemberg vom (RMTV), den Zusatz-Tarifvertrag für die Erfrischungsgetränkeindustrie in Baden-Württemberg vom (ZTV) und den Ergänzungsvertrag zum ZTV vom (EV ZTV) gebunden.
3Der Kläger verrichtete von November 2018 bis Juni 2019 in der Zeit zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr Nachtarbeit in Wechselschicht, für die er einen Zuschlag in Höhe von 25 % des Stundenentgelts erhielt. Es handelt sich um 40,5 Stunden im November 2018, 66 Stunden im Dezember 2018, 42 Stunden im Januar 2019, 68 Stunden im Februar 2019, 50 Stunden im März 2019, 59 Stunden im April 2019, 50,5 Stunden im Mai 2019 und 37 Stunden im Juni 2019. Der Stundenlohn des Klägers betrug bis 18,16 Euro brutto, ab 18,88 Euro brutto.
4Mit seiner Klage begehrt der Kläger - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung - für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer Nachtarbeitszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für Schichtarbeit in der Nachtzeit in Höhe von 25 % und dem tariflichen Zuschlag für Nachtarbeit, die nicht Schichtarbeit ist, in Höhe von 50 %.
5Am Standort Mannheim der Beklagten, an dem der Kläger beschäftigt ist, gab es im streitgegenständlichen Zeitraum keinen Aushang am Schwarzen Brett, mit dem auf die tariflichen Ausschlussfristen hingewiesen wurde.
6Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a ZTV iVm. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge für Nachtarbeit von nur 20 %, für sonstige Nachtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Zudem sei die Teilhabe am sozialen Leben auch bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr deutlich erschwert. Planbarkeit könne sowohl bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr als auch bei Nachtarbeit vorliegen oder fehlen. Ein Zuschlag von nur 20 % für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr sei nicht vom Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt. Er verteuere die Nachtarbeit nicht ausreichend. Außerdem sei dieser Gestaltungsspielraum mit Blick darauf eingeschränkt, dass tarifvertragliche Regelungen für Nachtarbeitszuschläge der Durchführung von Unionsrecht iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) dienten und insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 GRC zu messen seien.
7Der Kläger hat zuletzt beantragt,
8Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehe zudem ein Regel-Ausnahmeverhältnis, weil die planbare Nachtschichtarbeit sehr viel häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Die Zuschlagsdifferenz verringere sich außerdem durch die Regelungen zu den Schichtfreizeiten und zur bezahlten Essenspause. Der Zuschlag von 50 % solle auch nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern kompensieren, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören, über ihre Freizeit zu disponieren. Arbeitgeber sollten von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abgehalten werden. Außerdem sei die Teilhabe am sozialen Leben, etwa die Organisation der Kinderbetreuung, bei unregelmäßiger Nachtarbeit wesentlich schwerer zu organisieren. Schließlich sei eine „Anpassung nach oben“ abzulehnen.
9Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger seine Zahlungsansprüche weiter.
10Der Senat hat das Revisionsverfahren im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausgesetzt. Der EuGH hat auf die dort gestellte Frage mit Urteil vom geantwortet (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]).
Gründe
11Die Revision des Klägers ist begründet. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts für die während der Nachtschichten geleisteten Arbeitsstunden Anspruch auf einen höheren Nachtarbeitszuschlag. Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Klage ist begründet, was der Senat selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).
12I. Der Rechtsstreit war nicht in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO wegen der gegen das Urteil des Senats vom - 10 AZR 369/20 - eingelegten Verfassungsbeschwerde (- 1 BvR 1823/23 -) auszusetzen (vgl. zur entsprechenden Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde (A) - Rn. 42 ff., BAGE 172, 175).
131. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf (vgl. - Rn. 20 mwN; - 6 AZR 136/19 (A) - Rn. 45 mwN, BAGE 172, 175).
142. In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des gerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. GVG) ist eine nochmalige Aussetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien nicht angezeigt.
15a) Streitgegenständlich sind vorliegend Ansprüche des Klägers auf höhere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum von November 2018 bis Juni 2019. Die der Beklagten am zugestellte Klage ist seit über vier Jahren rechtshängig. In dritter Instanz ist das Verfahren bereits im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV ausgesetzt worden. Dieser Aussetzungsgrund ist mit der Entscheidung des Gerichtshofs vom (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]) entfallen.
16b) Eine weitere Aussetzung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht würde unter Berücksichtigung der üblichen Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, dessen Abschluss nicht valide abzuschätzen ist, zu einer erheblichen Verlängerung der ohnehin bereits beträchtlichen Verfahrensdauer führen. Mit Blick darauf war dem Interesse des Klägers an einem zeitnahen Abschluss des Verfahrens vor einem Aussetzungsinteresse der Beklagten der Vorrang einzuräumen. Der Zweck der Aussetzung, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden, tritt insoweit zurück.
17II. Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte hat an den Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum für seine Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den Zuschlag für Nachtarbeit nach § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a ZTV in Höhe von 50 % des Stundenentgelts abzüglich der nach § 3 Abschn. II Nr. 4 ZTV geleisteten Zuschläge zu zahlen.
181. Dem Kläger stehen höhere Nachtarbeitszuschläge zu, weil die tarifvertragliche Unterscheidung der Zuschläge für sonstige Nachtarbeit (§ 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a ZTV) und Nachtschichtarbeit (§ 3 Abschn. II Nr. 4 ZTV) einer Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhält. Nachtschichtarbeitnehmer werden gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann nur dadurch genügt werden, dass der Kläger für die im Rahmen von Nachtschichten geleistete Nachtarbeit ebenso wie ein Arbeitnehmer, der sonstige Nachtarbeit iSv. § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a ZTV leistet, behandelt wird. Daher hat der Kläger - wie beantragt - ergänzend zu dem gezahlten Zuschlag nach § 3 Abschn. II Nr. 4 ZTV Anspruch auf einen Zuschlag von weiteren 25 % zu seinem jeweiligen Stundenentgelt für die von ihm geleisteten Stunden zur tariflichen Nachtzeit. Das hat der Senat zu den hier maßgeblichen Tarifnormen bereits entschieden ( - Rn. 37 ff.). Das Vorbringen im Streitfall entspricht dem Vorbringen in dem bereits entschiedenen Verfahren und führt zu keiner anderen Bewertung. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird daher auf die Erwägungen im vorstehenden Urteil verwiesen.
192. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz hat zur Folge, dass der Kläger Anspruch auf Zahlung des höheren Nachtarbeitszuschlags von 50 % des Stundenentgelts für die von ihm geleistete streitgegenständliche Nachtarbeit hat. Die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung kann für die im Streit stehende Vergangenheit nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Erwägungen des Senats im Urteil vom (- 10 AZR 369/20 - Rn. 65 ff.) verwiesen.
203. Die Ansprüche des Klägers sind nicht wegen Versäumung der tariflichen Ausschlussfrist verfallen. Der Kläger war nicht gehalten, die streitgegenständlichen Ansprüche innerhalb der tariflichen Ausschlussfristen geltend zu machen, weil die Beklagte es unterlassen hat, auf diese am Standort Mannheim durch einen Aushang am Schwarzen Brett hinzuweisen. Bei § 13 Nr. 3 Satz 1 RMTV handelt es sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung keine Rechtsfolgen nach sich zieht (näher - Rn. 70).
214. Danach stehen dem Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für die Monate November 2018 bis Juni 2019 in Höhe von insgesamt 1.930,19 Euro brutto zu. Diese ergeben sich wie folgt:
225. Die geforderten Prozesszinsen stehen dem Kläger ab dem bzw. dem zu. Die Klage, mit der der Kläger Ansprüche für die Monate November 2018 bis Februar 2019 geltend gemacht hat, ist der Beklagten am zugestellt worden, die Klageerweiterung, mit der er weitere Zahlungen für die Monate Januar und Februar 2019 sowie für die Monate März bis Juni 2019 verlangt hat, am . Die Pflicht zur Verzinsung beginnt bei Prozesszinsen nach §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2, § 187 Abs. 1 BGB mit dem Folgetag der Rechtshängigkeit (st. Rspr., vgl. nur - Rn. 58).
23III. Die Kostenentscheidung folgt mit Rücksicht auf die geringfügige Rücknahme der Klageforderung für die Monate November und Dezember 2018 (1,34 Euro brutto) aus § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 2 Nr. 1, § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO (vgl. - Rn. 44).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:141223.U.10AZR412.20.0
Fundstelle(n):
NAAAJ-58340