BAG Urteil v. - 2 AZR 66/23

Außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist - Täuschung über die ärztliche Feststellung einer vorläufigen Impfunfähigkeit

Gesetze: § 20a IfSG vom , § 241 Abs 2 BGB, § 626 Abs 1 BGB, § 102 BetrVG

Instanzenzug: ArbG Lübeck Az: 5 Ca 189/22 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein Az: 5 Sa 82/22 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten noch über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist.

2Die Klägerin ist seit 2004 in einem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus als Krankenschwester beschäftigt. Nach der Annahme des Landesarbeitsgerichts genießt sie „tariflichen Kündigungsschutz“. Feststellungen zum Geltungsgrund und Inhalt des Tarifvertrags hat das Berufungsgericht nicht getroffen.

3Mit Schreiben vom informierte die Beklagte alle betroffenen Mitarbeiter über die zum in Kraft tretende sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht und bat um Vorlage der von § 20a Abs. 2 IfSG in der Fassung vom (im Folgenden IfSG aF) verlangten Nachweise, darunter ggf. ein solcher, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 geimpft werden konnten.

4Die Klägerin legte der Beklagten eine auf den datierte „Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit gegen das Coronavirus Sars-CoV-2“ vor, die sie im Internet erworben hatte. In der Bescheinigung heißt es, dass „dieser Patient“ aufgrund der ärztlichen Einschätzung und Bewertung seiner Angaben vor einer Impfung mit Covid-19-Impfstoffen von einem Facharzt für Allergologie überprüft werden müsse. Bis zum Vorliegen eines Impfstoff-Allergie-Gutachtens sei „der Patient“ zeitlich begrenzt bis zum impfunfähig und es bestehe die Gefahr, dass „der Patient“ durch eine Impfung schwere, ggf. sogar tödliche Nebenwirkungen erleben könne. Eine Kommunikation der Klägerin - und sei es fernmündlich oder digital - mit der vermeintlichen Ärztin, deren Unterschrift auf die Bescheinigung aufgedruckt ist, erfolgte nicht.

5Die Beklagte informierte gemäß § 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG aF das zuständige Gesundheitsamt, welches am mitteilte, dass die Bescheinigung aus dem Internet heruntergeladen sei und somit nicht auf einer ärztlichen Untersuchung beruhe. Die unterzeichnende Ärztin sei dort nicht bekannt.

6Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien - nach Anhörung des Betriebsrats und mit dessen Zustimmung - mit Schreiben vom , der Klägerin am Folgetag zugegangen, außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist zum .

7Dagegen hat sich die Klägerin rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt und ua. geltend gemacht, die von ihr vorgelegte Bescheinigung attestiere ersichtlich keinen individuellen Gesundheitszustand, sondern gebe die allgemeine Auffassung der ausstellenden Ärztin wieder, dass jede Person vor einer Impfung gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 allergologisch untersucht werden müsse. Sie - die Klägerin - habe damit lediglich ihre generelle Sorge hinsichtlich möglicher Impfreaktionen gegenüber der Beklagten zum Ausdruck bringen wollen.

8Die Klägerin hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - beantragt

9Die Beklagte hat gemeint, die Klägerin habe durch die Vorlage der Bescheinigung versucht, über eine vermeintlich in ihrer Person bestehende Impfunfähigkeit zu täuschen, um der einrichtungsbezogenen Impfpflicht zu entgehen.

10Das Arbeitsgericht hat der Klage gegen die außerordentliche fristlose Kündigung stattgegeben und sie bezüglich der außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage auf die alleinige Berufung der Klägerin auch hinsichtlich letzterer Kündigung stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte insoweit die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Gründe

11Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht nicht auf die Berufung der Klägerin das erstinstanzliche Urteil teilweise abändern und auch dem Kündigungsschutzantrag gegen die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist vom stattgeben. Da der Senat nicht selbst abschließend entscheiden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

12I. Die Beklagte hat zwei Kündigungen erklärt, nämlich vorrangig eine außerordentliche fristlose Kündigung und hilfsweise eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist. Bei der Auslauffrist handelt es sich entgegen der missverständlichen Bezeichnung durch die Beklagte nicht um eine soziale, sondern um eine notwendige. Eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist liegt nur vor, wenn der Arbeitgeber meint, zur fristlosen Kündigung berechtigt zu sein, dem Arbeitnehmer aber ausschließlich aus sozialen Erwägungen eine „Kündigungsfrist“ einräumen möchte (vgl.  - Rn. 30). Danach scheidet die Annahme einer sozialen Auslauffrist aus, wenn der Arbeitgeber vorrangig eine fristlose Kündigung erklärt. Eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist unterläge auch keinen erleichterten Wirksamkeitsanforderungen. Vor diesem Hintergrund hat die Beklagte - wohl in der Annahme, die Klägerin genieße tariflichen Schutz vor einer ordentlichen Kündigung - ersichtlich eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger, vermutlich der fiktiven ordentlichen Kündigung entsprechender Auslauffrist erklärt.

13II. Die Klägerin hat - das ergibt die gebotene Auslegung - zwei Kündigungsschutzanträge gestellt. Mit einem Hauptantrag hat sie sich gegen die außerordentliche fristlose, mit einem unechten Hilfsantrag gegen die hilfsweise außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gewandt (vgl.  - Rn. 14). Nachdem das Arbeitsgericht die außerordentliche fristlose Kündigung rechtskräftig für unwirksam befunden hat, ist nur noch der Antrag gegen die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist im Streit.

14III. Das Landesarbeitsgericht hat - der Sache nach - dem ihm allein noch zur Entscheidung angefallenen Klageantrag gegen die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist mit einer doppelten Begründung entsprochen, die einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht standhält. Dabei ist für das Revisionsverfahren mit dem Berufungsgericht davon auszugehen, dass die Klägerin tariflichen Schutz vor einer ordentlichen Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses genoss.

151. Bei Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers kommt eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist lediglich in Ausnahmefällen in Betracht. Die Pflichtverletzung muss einerseits so gravierend sein, dass sie im Grundsatz auch eine fristlose Kündigung rechtfertigen könnte. Andererseits muss es dem Arbeitgeber aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls zumutbar sein, dennoch die (fiktive) ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten. Wäre zB die Gefahr einer Wiederholung des Pflichtverstoßes zwar für den Lauf der ordentlichen Kündigungsfrist auszuschließen, nicht aber darüber hinaus, könnte ausnahmsweise gerade der Ausschluss der ordentlichen Kündigung dazu führen, dass ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung - mit notwendiger Auslauffrist - bestünde. Ist die Pflichtverletzung zwar nicht so schwerwiegend, dass sie „an sich“ als wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB in Betracht käme, könnte sie jedoch eine ordentliche Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial rechtfertigen, führt auch der Ausschluss der ordentlichen Kündigung regelmäßig nicht dazu, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung - mit notwendiger Auslauffrist - bestünde. Bei einem typischerweise nur eine ordentliche Kündigung rechtfertigenden Grund im Verhalten des Arbeitnehmers bedingen es vielmehr Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes, dass sich der Arbeitgeber von der freiwillig eingegangenen, gesteigerten Vertragsbindung nicht lösen kann ( - Rn. 45 f.).

162. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, das der Klägerin angelastete Verhalten sei schon „an sich“ nicht geeignet, einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden, weshalb auch die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist sich von vornherein als unwirksam erweise.

17a) In der unter Geltung von § 20a IfSG aF wahrheitswidrig erfolgten Behauptung durch einen in einem Krankenhaus beschäftigten Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber, aufgrund einer ärztlichen Untersuchung (Anamnese) sei festgestellt worden, dass - gerade - er vorläufig nicht gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 geimpft werden könne, lag - zumal unter Berücksichtigung des besonders vulnerable Personen schützenden Gegenstands der Nachweispflicht (BT-Drs. 20/188 S. 2 und S. 40;  - Rn. 263 ff., BVerfGE 161, 299) - eine erhebliche Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB (Kamanabrou RdA 2023, 188, 189), die „an sich“ als wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist. Das gilt ungeachtet der Frage, ob der Arbeitnehmer laienhaft davon ausging, er sei tatsächlich (vorläufig) impfunfähig. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob der Arbeitnehmer sich wegen der Vorlage eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach §§ 277 ff. StGB strafbar gemacht hat. Maßgebend ist vielmehr der mit der arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung verbundene Vertrauensbruch (vgl.  - Rn. 75, BAGE 165, 255). Dabei kann das vertragsnotwendige Vertrauen des Arbeitgebers in den Arbeitnehmer auch durch den untauglichen Versuch einer Täuschung über eine aufgrund ärztlicher Untersuchung festgestellte (vorläufige) Impfunfähigkeit irreparabel zerstört sein (vgl.  - Rn. 26, BAGE 163, 36).

18b) Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, die Klägerin habe erkennbar den Eindruck erwecken wollen, dass die vermeintliche Ärztin, deren Unterschrift auf die Bescheinigung vom aufgedruckt ist, bei ihr - der Klägerin - tatsächlich aufgrund einer - und sei es fernmündlichen oder digital erhobenen - Anamnese eine (vorläufige) Impfunfähigkeit festgestellt habe. Damit lag ein „an sich“ für eine außerordentliche Kündigung geeigneter Grund vor.

19c) Hieran änderte es nichts, wenn die vorgelegte Bescheinigung - so das Berufungsgericht - sich „bei näherer Betrachtung“ als allgemeine Meinungsäußerung dargestellt sowie keine medizinische Kontraindikation für eine bestimmte Person attestiert und es sich deshalb um einen untauglichen Täuschungsversuch gehandelt haben sollte. Dessen ungeachtet lässt die entsprechende Würdigung des Landesarbeitsgerichts außer Acht, dass die Klägerin die Bescheinigung in Reaktion auf das Schreiben der Beklagten vom und das bevorstehende Eingreifen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht beigebracht hat. Zudem soll die Bescheinigung nach einer „ärztlichen Einschätzung und Bewertung der Angaben des Patienten“ eine vorläufige Impfunfähigkeit gerade bezogen auf eine konkrete Person, die Klägerin, attestieren. Dabei ist die Bezeichnung in der männlichen Form („dieser Patient“) irrelevant, zumal auch die ausstellende (vermeintliche) Ärztin „Arzt“ genannt wird. Die Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit ist auch nicht von vornherein unsinnig. Damit wird zwar eine in § 20a Abs. 2 IfSG aF nicht vorgesehene Kategorie eröffnet. Das ändert aber nichts daran, dass eine Aussage zur Impfunfähigkeit der Klägerin für einen bestimmten Zeitraum getroffen wurde (zutreffend Kamanabrou RdA 2023, 188, 190), die es dieser ggf. ermöglichen sollte, trotz Fehlens eines Nachweises gemäß § 20a Abs. 2 IfSG aF für einen erheblichen Zeitraum über den hinaus, nämlich zumindest bis zum , „sanktionslos“ für die Beklagte tätig zu sein.

203. Das Landesarbeitsgericht hat auch rechtsfehlerhaft gemeint, jedenfalls die Interessenabwägung gehe zugunsten der Klägerin aus, weil eine vorherige Abmahnung nicht entbehrlich gewesen sei. Mit der von ihm gegebenen Begründung durfte es nicht annehmen, es habe sich nicht um eine so schwere Pflichtverletzung gehandelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch die Beklagte offenkundig - auch für die Klägerin erkennbar - ausgeschlossen gewesen sei. An dieser Stelle hat das Berufungsgericht aus dem Blick verloren, dass der Klägerin nicht „nur“ eine Verletzung ihrer Nachweispflicht durch Unterlassen, sondern vielmehr eine aktive - versuchte - Täuschung über eine ärztlich festgestellte vorläufige Impfunfähigkeit anzulasten ist (vgl. Kamanabrou RdA 2023, 188, 191).

21IV. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).

221. Es ist nicht aufgrund der rechtskräftigen Stattgabe des gegen die außerordentliche fristlose Kündigung gerichteten Klageantrags durch das Arbeitsgericht davon auszugehen, dass auch die noch streitbefangene Kündigung mit notwendiger Auslauffrist unwirksam sein muss. Zwar steht aufgrund der erstinstanzlichen Entscheidung fest, dass der von der Beklagten unterbreitete Kündigungssachverhalt nicht geeignet war, eine außerordentliche fristlose Kündigung materiell iSv. § 626 Abs. 1 BGB zu rechtfertigen (vgl. eingehend  - Rn. 27). Doch hat das Arbeitsgericht - ungeachtet der Frage, ob dies mit in Rechtskraft erwüchse - nicht angenommen, es habe bereits an einem wichtigen Grund „an sich“ gefehlt. Danach könnte sich die noch streitgegenständliche außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist grundsätzlich als wirksam erweisen. Anderes würde für eine - hier nicht vorliegende - außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist gelten (Rn. 12).

232. Es steht nicht fest, dass die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist mangels vorheriger Abmahnung unwirksam ist. Vielmehr spricht alles dafür, dass es einer solchen nicht bedurfte, weil es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelte, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch die Beklagte nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für die Klägerin erkennbar - ausgeschlossen war (vgl.  - Rn. 32, BAGE 175, 83; - 2 AZR 596/20 - Rn. 27, BAGE 175, 94). Der Klägerin ist anzulasten, dass sie bewusst wahrheitswidrig vorgegeben hat, bei ihr sei eine vorläufige Impfunfähigkeit von einer Ärztin aufgrund einer Untersuchung (Anamnese) festgestellt worden. Bezogen auf diesen Kündigungsvorwurf ist es irrelevant, ob die Klägerin laienhaft davon ausging, wegen bei ihr bestehender Allergien könne sie nicht geimpft werden, und ob sie noch unter Geltung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht bereit gewesen wäre, sich - wirklich - ärztlich auf eine Impfunfähigkeit untersuchen zu lassen. Dessen ungeachtet dürfte es bei der Täuschung nicht darum gegangen sein, eine Gefahr für die eigene Gesundheit abzuwenden. Vielmehr dürfte die Klägerin „lediglich“ bezweckt haben, arbeitsrechtliche Konsequenzen, insbesondere eine Nichtbeschäftigung und damit Nichtvergütung, (vorerst) zu vermeiden. Das liegt deshalb nahe, weil sie bei Nichtvorlage eines Nachweises gemäß § 20a IfSG aF nicht „zwangsgeimpft“ worden wäre ( - Rn. 209, BVerfGE 161, 299). Dagegen hätten die ihr anvertrauten Patienten hinsichtlich ihres Gesundheitsschutzes keine Wahl gehabt (vgl.  - Rn. 218, aaO;  - Rn. 27), sondern hätten bei einer erfolgreichen Täuschung durch die Klägerin eine Gesundheitsgefährdung hinnehmen müssen, vor der der Gesetzgeber (BT-Drs. 20/188 S. 2) sie - in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ( - Rn. 128 ff., aaO) - bewahren wollte (vgl. Kamanabrou RdA 2023, 188, 191).

243. Die Beklagte hat die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB und nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG erklärt. Die offenkundige Falschbezeichnung im Anhörungsschreiben als „soziale“ Auslauffrist spielt keine Rolle. Dem Gremium ist mitgeteilt worden, dass die Klägerin tariflichen Sonderkündigungsschutz genieße und vorrangig eine außerordentliche fristlose Kündigung erklärt werden solle (vgl. Rn. 12).

25V. Der Senat kann die Klage gegen die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nach den bisher getroffenen Feststellungen auch nicht selbst abweisen (§ 563 Abs. 3 ZPO). Das gilt schon deshalb, weil nicht feststeht, ob die Klägerin tariflichen Schutz vor einer ordentlichen Kündigung genoss.

26VI. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende weitere Hinweise veranlasst:

271. Das Landesarbeitsgericht wird zunächst die Tatsachen - eine beiderseitige Tarifbindung oder arbeitsvertragliche Inbezugnahme sowie den Inhalt des ggf. maßgeblichen Tarifvertrags - festzustellen haben, aus denen sich ergeben soll, dass die Klägerin vor einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses geschützt war. Nur wenn dies der Fall gewesen sein sollte, könnte sich die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist als wirksam erweisen.

282. Sollte die Klägerin hingegen keinen entsprechenden Sonderkündigungsschutz genossen haben, wäre eine Umdeutung der außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist in eine ordentliche Kündigung nach § 140 BGB zu prüfen. Einer Umdeutung würde es nicht entgegenstehen, dass der Betriebsrat nicht - auch - zu einer ordentlichen Kündigung angehört wurde, wenn das Gremium - wofür alles spricht - den beiden beabsichtigten außerordentlichen Kündigungen vorbehaltlos zugestimmt haben sollte (vgl.  - zu B II 3 der Gründe, BAGE 30, 176). In diesem Fall wäre zugleich davon auszugehen, dass die Klägerin die durch Umdeutung gewonnene ordentliche Kündigung rechtzeitig gerichtlich angegriffen hat (vgl.  - Rn. 21).

293. Falls das Arbeitsverhältnis der Klägerin - wovon beide Parteien auszugehen scheinen - ordentlich nicht mehr kündbar gewesen sein sollte, wäre zu beachten, dass bei Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist lediglich in Ausnahmefällen in Betracht kommt (Rn. 15). Das Berufungsgericht wird nicht annehmen dürfen, das Verhalten der Klägerin hätte „richtigerweise“ sogar eine außerordentliche fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB getragen, weshalb erst recht eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gerechtfertigt sei. Da die Beklagte die Stattgabe der Klage gegen die außerordentliche fristlose Kündigung durch das Arbeitsgericht hat rechtskräftig werden lassen, steht fest, dass der von ihr unterbreitete Kündigungssachverhalt nicht „vollständig“ geeignet war, eine außerordentliche fristlose Kündigung materiell iSv. § 626 Abs. 1 BGB zu tragen (Rn. 22), es der Beklagten also zumutbar war, zumindest die fiktive ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten. Hingegen wird das Berufungsgericht davon ausgehen müssen, dass die Klägerin durch ihre versuchte Täuschung einen wichtigen Grund „an sich“ gesetzt hat (Rn. 17). Zudem spricht alles dafür, dass eine vorherige Abmahnung aufgrund der besonderen Schwere der der Klägerin anzulastenden Pflichtverletzung entbehrlich war (Rn. 23). Danach könnte die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gerechtfertigt gewesen sein, wenn es der Beklagten nicht zumutbar gewesen sein sollte, die Klägerin dauerhaft, also über den Ablauf der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist hinaus weiterzubeschäftigen (Rn. 15). Dafür spricht, dass die Beklagte ein überragendes Interesse daran hatte, dass sich ihre Mitarbeiter - zumal wenn sie im unmittelbaren Patientenkontakt tätig waren - bezüglich einer dem Schutz besonders vulnerabler Personen dienenden Nachweispflicht wahrheitsgemäß verhalten, während die Klägerin rücksichtslos ihr eigenes Interesse an der Vermeidung möglicher arbeitsrechtlicher Nachteile durchzusetzen versucht haben dürfte. Bloß vorsorglich merkt der Senat - ohne dass es darauf ankommen dürfte - an, dass die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht bis zum fort galt, während die fiktive ordentliche Kündigungsfrist bereits am abgelaufen sein dürfte.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:141223.U.2AZR66.23.0

Fundstelle(n):
BB 2024 S. 318 Nr. 6
NJW 2024 S. 527 Nr. 8
KAAAJ-57223