Anforderungen an die Feststellungen und Wertungen hinsichtlich der Voraussetzungen des Hangs und der Gefährlichkeitsprognose bei der Maßregelanordnung
Gesetze: § 64 S 1 StGB, § 267 Abs 6 S 1 StPO
Instanzenzug: LG Nürnberg-Fürth Az: 1 KLs 350 Js 20352/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen, in einem Fall tateinheitlich mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wegen Anstiftung zur Fälschung beweiserheblicher Daten und wegen Beihilfe zur Fälschung beweiserheblicher Daten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Mit ihrer zugunsten des Angeklagten geführten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen den Maßregelausspruch.
I.
2Das Landgericht hat – soweit hier von Belang – folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
31. Der zur Tatzeit 24 Jahre alte Angeklagte betrieb im Zeitraum von Februar bis Juli 2022 einen „schwunghaften Handel mit Betäubungsmitteln im Großraum Nürnberg“. Er erwarb zum gewinnbringenden Weiterverkauf in mindestens sieben Fällen jeweils ein Kilogramm und in einem weiteren Fall 984 Gramm Marihuana. Am Tag seiner Festnahme bewahrte er in seiner Wohnung etwa zehn Gramm Marihuana und 94 Gramm Haschisch sowie „THC-haltige Masse zum Einsatz in Vaporisatoren“ auf, von denen jedenfalls zwei Drittel zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt waren; die übrige Menge wollte er selbst konsumieren.
4Der Angeklagte begann im Alter von 17 Jahren, Cannabis zu konsumieren. Seither nahm er etwa sechs- bis siebenmal monatlich zwei Gramm zu sich. Lediglich im Zuge der Trennung seiner Eltern vor sieben Jahren und während des Tatzeitraums konsumierte er über einige Monate hinweg täglich etwa drei bis vier bzw. zwei Gramm des Betäubungsmittels nach der Arbeit „als Fluchtmittel“ und „zur Entspannung und zur Selbstbelohnung, um keinen Burnout zu bekommen“. Hierdurch konnte er den „beruflichen Druck leichter aushalten“. Wegen Cannabiskonsums wurde dem unbestraften Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen; weitere Auswirkungen bemerkte er etwa dann, wenn er seinen Arbeitsbeginn verschlafen oder er bei der Arbeit als Bäcker Fehler gemacht hatte.
5Der Angeklagte verdiente als Geschäftsführer der Bäckerei seiner Eltern, für die mehr als 220 Mitarbeiter in sieben Filialen arbeiteten, monatlich 3.000 Euro netto. Um den Betäubungsmittelkonsum vor seinen Eltern, die Einblick in seine finanziellen Verhältnisse hatten, zu verheimlichen, finanzierte er ihn aus Erlösen seiner Drogenverkäufe. Während der Untersuchungshaft traten Entzugserscheinungen in Form von Schlafstörungen und Unruhe auf.
62. Die Strafkammer ist – sachverständig beraten – auf der Grundlage der als glaubhaft erachteten Angaben des Angeklagten zu seinem Konsumverhalten von einer Cannabisabhängigkeit ausgegangen und hat einen Hang zum übermäßigen Cannabiskonsum im Sinne des § 64 StGB bejaht. Weil nach Auffassung des Landgerichts auch die weiteren Unterbringungsvoraussetzungen vorlagen, hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
II.
7Das wirksam auf den Maßregelausspruch beschränkte Rechtsmittel hat Erfolg. Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Recht die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB. Diese hält in mehrfacher Hinsicht revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.
81. Die Maßregelanordnung ist an der Neufassung des § 64 StGB durch Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts vom (BGBl. I Nr. 203) zu messen. Nach § 2 Abs. 6 StGB sind Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 StGB) nach dem Gesetz anzuordnen, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Eine den Maßregelausspruch betreffende Gesetzesänderung ist nach § 354a StPO auch vom Revisionsgericht zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 390/07, NJW 2008, 1173; vom – 2 StR 581/16, NStZ-RR 2017, 139; vom – 6 StR 405/23).
92. Danach begegnen die den Hang des Angeklagten begründenden Erwägungen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
10a) Für einen Hang ist nach § 64 Satz 1 Halbsatz 2 StGB eine Substanzkonsumstörung erforderlich, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert.
11aa) Das Tatbestandsmerkmal der „Substanzkonsumstörung“ soll Täter mit einer substanzbezogenen Abhängigkeitserkrankung im medizinischen Sinne (vgl. ICD-10-GM F10 bis F19, Erweiterung 2: „Abhängigkeitssyndrom“) und Fälle eines Substanzmissbrauchs erfassen, dessen Schweregrad unmittelbar unterhalb einer Abhängigkeit einzuordnen ist (vgl. BT-Drucks. 20/5913 S. 44 f., 69). Damit ist ein Missbrauch gemeint, der nach ICD-10 als eine schwere Form des schädlichen Gebrauchs (vgl. ICD-10-GM F10 bis F19, Erweiterung 1: „Schädlicher Gebrauch“) einzustufen ist. Bei einem lediglich einfachen bzw. episodenhaften schädlichen Gebrauch (vgl. ICD-10-GM F10 bis F19 und ICD-11 6C40 ff.) soll dagegen eine Unterbringung nicht (mehr) möglich sein (vgl. BT-Drucks. aaO S. 45).
12bb) Um die Unterbringung insbesondere in Fällen schädlichen Gebrauchs von Substanzen rechtfertigen zu können, müssen grundsätzlich schwerwiegende und dauernde störungsbedingte Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeitsfähigkeit oder der Leistungsfähigkeit durch das Tatgericht in den Urteilsgründen festgestellt werden (§ 267 Abs. 6 Satz 1 StPO). Diese gesetzlich konkretisierten Folgen einer Substanzkonsumstörung sollen den – aus Sicht des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. aaO S. 44) – von der Rechtsprechung bislang zu weit verstandenen Hangbegriff einschränken (vgl. BT-Drucks. aaO S. 45, 69). Erforderlich sind äußere, überprüfbare Veränderungen in mindestens einem der genannten Bereiche der Lebensführung (vgl. BT-Drucks. aaO S. 45 f.). Hier muss sich die Störung schwerwiegend auswirken, also das Funktionsniveau in gravierender Weise beeinträchtigen, und im Tatzeitpunkt für längere Zeit vorhanden gewesen sein; eine lediglich vorübergehende konsumbedingte Verringerung oder Aufhebung der „sozialen Funktionsfähigkeit“ genügt nicht. Beide Merkmale – dauernd und schwerwiegend – müssen im betroffenen Lebensbereich kumulativ erfüllt sein (vgl. BT-Drucks. aaO).
13b) Die Urteilsgründe belegen eine Substanzkonsumstörung mit dauernder und schwerwiegender Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Angeklagten nicht.
14aa) Die Voraussetzungen eines von der Strafkammer angenommenen substanzbezogenen Abhängigkeitssyndroms werden nicht hinreichend beweiswürdigend belegt.
15(1) Das Landgericht hat insoweit auf die Dauer des Konsums und auf einzelne, nicht näher konkretisierte Zeiträume abgestellt, in denen der Angeklagte sich über mehrere Monate hinweg dem täglichen Konsum nicht habe widersetzen können. Im Übrigen hat es „Einbußen bei der Arbeit“, wie etwa das „Verschlafen des Arbeitsbeginns“, und „Probleme mit der Fahrerlaubnis“ festgestellt, die eine angeordnete medizinisch-psychologischen Eignungsprüfung zur Folge hatten.
16(2) Die Strafkammer hat es allerdings versäumt, die Auswirkungen des Betäubungsmittelkonsums des Angeklagten auf seine berufliche Tätigkeit vollständig in den Blick zu nehmen. Dieser leitete – soweit ersichtlich – bereits im Tatzeitraum, aber auch noch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung einen Betrieb mit mehr als 220 Mitarbeitern und sieben Filialen. Die Urteilsgründe belegen nicht, dass ihm dies – mit Ausnahme zeitlich nicht näher konkretisierten „Verschlafens“ – wegen seines Betäubungsmittelkonsums nicht gelang und es deshalb zu nennenswerten Pflichtverletzungen kam. Den festgestellten lediglich geringen Pflichtverletzungen kann für sich kein Beleg dafür entnommen werden, dass der Angeklagte wichtige berufliche Aktivitäten eingeschränkt wahrgenommen, gar bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen vollständig versagt und seinen Konsum gleichwohl fortgesetzt hätte.
17(3) Den Urteilsgründen ist auch im Übrigen keine fortschreitende Vernachlässigung sonstiger Interessen oder sozialer Bindungen des in einer festen Beziehung und in einem intakten Familienverband lebenden Angeklagten zu entnehmen. Die Strafkammer hat schließlich auch nicht bedacht, dass der Angeklagte seinen Konsum stets auf Zeitpunkte außerhalb der Arbeitszeit zu beschränken vermochte und physische oder psychische Beeinträchtigungen nicht festgestellt sind.
18bb) Soweit die Urteilsgründe Anhaltspunkte für einen behandlungsbedürftigen schädlichen Gebrauch des Angeklagten von psychotropen Substanzen „unterhalb der Schwelle der Abhängigkeit“ enthalten (vgl. BT-Drucks. aaO S. 44, 69 f.), sind die Feststellungen nach den Maßgaben der gesetzlichen Neuregelung lückenhaft. Vor dem Hintergrund seiner sozialen Einbindung, namentlich seiner grundsätzlich zuverlässig ausgeübten Erwerbstätigkeit in verantwortlicher Stellung, und fehlender Hinweise auf psychische oder physische Probleme hätte die Strafkammer nähere Feststellungen zu einer dauernden und schwerwiegenden Beeinträchtigung seiner Lebensgestaltung, seiner Gesundheit, Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit treffen müssen. Selbst wenn es sich hier – zumindest auch – um Beschaffungstaten eines mehrjährig Abhängigen handelte, ersetzte dies entsprechende Feststellungen nicht (vgl. BT-Drucks. aaO).
193. Auch die Gefährlichkeitsprognose begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
20a) Erforderlich für die Annahme, dass der Täter infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Straftaten begehen wird, ist – als Ergebnis einer Gesamtwürdigung der zum Zeitpunkt der Verurteilung vorliegenden prognostisch relevanten Umstände (vgl. ; LK-StGB/Cirener, 13. Aufl., § 64 Rn. 106, 112 mwN) – eine begründete Wahrscheinlichkeit, welche die Begehung weiterer erheblicher Straftaten besorgen lässt (vgl. , NStZ 1994, 30, 31; Beschluss vom – 3 StR 148/08, NStZ-RR 2008, 234; LK-StGB/Cirener, aaO Rn. 106). Schließt sich das Tatgericht insoweit ohne weitere eigene Erwägungen den Ausführungen eines Sachverständigen an, sind im Urteil dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Darlegungen so wiederzugegeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 168/14, NStZ-RR 2014, 244; vom – 4 StR 497/14, NStZ-RR 2015, 71; vom – 3 StR 103/15).
21b) Dem werden die Erwägungen des Landgerichts nicht gerecht.
22aa) Die Strafkammer teilt nicht mit, welche maßgeblichen Anknüpfungs- und Befundtatsachen der Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen zugrundelagen, dass ein „erhöhtes Risiko“ neuer Betäubungsmittelstraftaten beim Angeklagten bestehe. Sie hat sich allein die Feststellung der Sachverständigen zu eigen gemacht, dass der Angeklagte seine Abhängigkeit „nicht aus eigener Kraft“ werde überwinden können. Dies ist zum Verständnis und zur Nachvollziehbarkeit von Gutachten und tatgerichtlicher Überzeugung unzureichend.
23bb) Die Strafkammer nimmt ferner nicht in den Blick, dass der Grund für die Betäubungsmittelstraftaten des über regelmäßiges monatliches Einkommen verfügenden Angeklagten zum Urteilszeitpunkt entfallen war. Der Angeklagte verheimlichte seinen Betäubungsmittelkonsum vor seinen Eltern, die „wegen der beruflichen Verflechtung“ Einblick in seine „legalen finanziellen Verhältnisse“ hatten. Zu diesem Zweck finanzierte er seinen Eigenbedarf mit den Taterlösen. Die Urteilsgründe belegen allerdings darüber hinaus, dass es vor Beginn der Hauptverhandlung zu einem Gespräch zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern über Therapiemöglichkeiten gekommen war. Vor diesem Hintergrund drängte sich eine Erörterung auf, ob und inwieweit der Angeklagte seinen Eigenkonsum fortan aus seinen nicht unerheblichen, legal erwirtschafteten Mitteln decken kann und aus seiner Sicht nicht mehr auf die Begehung erheblicher Betäubungsmittelstraftaten angewiesen ist (vgl. ).
244. Da die Anordnung der Maßregel nach den Urteilsgründen nicht von vornherein ausscheidet, muss darüber – wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) – neu verhandelt und entschieden werden. Der Senat hebt die zugrundeliegenden Feststellungen ebenfalls auf (§ 353 Abs. 2 StPO). Für die neue Hauptverhandlung weist er darauf hin, dass Angaben eines Angeklagten zu seiner Person, insbesondere auch, soweit sie Anknüpfungstatsachen der Voraussetzungen des § 64 Satz 1 StGB bilden, nicht ohne Weiteres übernommen werden dürfen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:151123U6STR327.23.0
Fundstelle(n):
CAAAJ-55247