Instanzenzug: Az: 6 Ni 42/18 Urteil
Tatbestand
1Die Beklagte ist Inhaberin des deutschen Patents 10 2008 019 703 (Streitpatents), das am angemeldet wurde und die elektrische Isolationsprüfung an Photovoltaikmodulen betrifft.
2Die Klägerin hat geltend gemacht, das Streitpatent sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in neun geänderten Fassungen verteidigt.
3Das Patentgericht hat das Patent insoweit für nichtig erklärt, als der Gegenstand der angegriffenen Ansprüche über die mit dem Hilfsantrag 2 verteidigte Fassung hinausgeht. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen.
4Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist am eine beglaubigte Abschrift des Urteils zugestellt worden, in der im Tatbestand die beiden letzten Absätze des Hilfsantrags 1 nach der (aus drei Zeilen bestehenden) Bezugnahme auf weitere Hilfsanträge stehen.
5Mit Schriftsatz vom Tag darauf teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Patentgericht mit, die Ausführungen auf der betreffenden Seite erweckten den Anschein, dass etwas fehle. Zugleich bat er um einen Hinweis, wie die Begründung hier zu lesen sei.
6Das Patentgericht hat die ursprünglich zugestellten Abschriften zurückgefordert und die Zustellung von mit dem Original übereinstimmenden Abschriften verfügt. Die berichtigte Fassung ist der Klägerin am zugestellt worden. Die Berufungsschrift der Klägerin ist am per Telefax beim Bundesgerichtshof eingegangen.
7Die Beklagte hält die Berufung für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet und verteidigt das Streitpatent hilfsweise in der Fassung der Hilfsanträge I bis VII.
Gründe
8I. Die Berufung ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist eingelegt worden ist.
91. Nach § 110 Abs. 3 PatG beträgt die Berufungsfrist einen Monat. Sie beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
102. Wie bereits in dem Hinweis des Vorsitzenden ausgeführt worden ist, hat die Frist im Streitfall mit der Zustellung vom begonnen.
11Dem steht nicht entgegen, dass die damals zugestellte Abschrift des Urteils auf Seite 9 von der Urschrift abweicht.
12a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird die Wirksamkeit einer Zustellung nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte (, NJW-RR 2006, 1570 Rn. 11).
13Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als Beeinträchtigung oder Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf (BGH, NJW-RR 2006, 1570 Rn. 11).
14Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist hierbei auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Grundsätzlich führt danach schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung (, BGHZ 138, 166 = GRUR 1998, 746 Rn. 7).
15b) Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden.
16Dies ist etwa der Fall, wenn erst die berichtigte Entscheidung die Beschwer erkennen lässt oder ergibt, dass die Entscheidung überhaupt einem Rechtsmittel zugänglich ist (, NJW-RR 2017, 55 Rn. 6), oder wenn erst aus dieser Fassung hervorgeht, gegen wen das Rechtsmittel zu richten ist (, BGHZ 113, 228 = NJW 1991, 1834).
17c) Im Streitfall hat bereits die Zustellung der fehlerhaften Fassung die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt.
18aa) Der in der zugestellten Abschrift enthaltene Fehler ist nicht als typischerweise wesentlich anzusehen.
19Die zugestellte Abschrift enthielt alle Seiten des angefochtenen Urteils. Weder der in der Wiedergabe des Tatbestands enthaltene Fehler noch sonstige Umstände deuteten auf eine mögliche Unvollständigkeit hin.
20Wie die Klägerin in ihrer Eingabe an das Patentgericht zu Recht geltend gemacht hat, lässt die am zugestellte Abschrift auf Seite 9 erkennen, dass der wiedergegebene Text von dem tatsächlich gewollten abweicht. Der im Tatbestand vollständig wiedergegebene Wortlaut der Patentansprüche 1 und 5 in der Fassung von Hilfsantrag 1 wird unterbrochen durch die Bezugnahme auf den Wortlaut der weiteren Ansprüche. Dies deutet auf ein offensichtliches Schreibversehen hin, nicht aber auf eine Unvollständigkeit.
21bb) Aus diesem Fehler ergaben sich auch keine Hinweise darauf, dass die zugestellte Abschrift des Urteils in weiteren Punkten von der Urschrift abweicht.
22Die Entscheidungsgründe lassen zweifelsfrei erkennen, dass das Patentgericht das Patent nur insoweit für nichtig erklärt hat, als es über den mit Hilfsantrag 2 verteidigten Gegenstand hinausgeht, und die Klage im Übrigen abgewiesen hat, wie dies auch im Tenor formuliert ist. Der offensichtliche Schreibfehler bei der Wiedergabe der Hilfsanträge war für diese Beurteilung nicht relevant.
233. Die am in Gang gesetzte Berufungsfrist ist durch die Einlegung der Berufung am nicht eingehalten worden.
24II. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht erfüllt.
25Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann bei mehrfacher Zustellung einer Entscheidung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein, wenn die erneute Zustellung durch den Gegner oder das Gericht veranlasst worden ist und das Gericht mitgeteilt hat, die erste Zustellung sei unwirksam oder gegenstandslos (, NJW-RR 2005, 1658; Urteil vom - XII ZR 27/09, NJW 2011, 522). Ein Prozessbevollmächtigter, der die erneute Zustellung selbst veranlasst hat, darf allerdings nicht ohne weiteres davon ausgehen, das Gericht habe die erste Zustellung als unwirksam angesehen (, NJW-RR 2000, 1665).
26Im Streitfall hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die erneute Zustellung veranlasst. Die Geschäftsstelle des Patentgerichts hat bei der zweiten Zustellung zwar um Rückgabe der zuerst zugestellten Fassung gebeten. Sie hat sich aber nicht zur Wirksamkeit der ersten Zustellung verhalten.
27Bei dieser Ausgangslage fehlte es an einer hinreichenden Vertrauensgrundlage für die Annahme, die Berufungsfrist habe erst mit der zweiten Zustellung zu laufen begonnen.
28III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 97 Abs. 1 ZPO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:171023UXZR96.21.0
Fundstelle(n):
IAAAJ-52413