BSG Urteil v. - B 9 SB 2/22 R

(Schwerbehindertenrecht - Entziehung der Schwerbehinderteneigenschaft - GdB-Herabsetzungsbescheid nach Heilungsbewährung - Anforderungen an die Bestimmtheit des Bescheids - kein konkret benanntes Datum der Herabsetzung - Wirkung "ab Bekanntgabe" - Auslegung - Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 SGB 10 - sozialrechtliches Verwaltungsverfahren)

Gesetze: § 152 Abs 3 S 1 SGB 9 2018, § 2 Abs 2 SGB 9 2018, § 33 SGB 10, § 37 SGB 10, § 39 SGB 10, § 48 Abs 1 S 1 SGB 10

Instanzenzug: SG Frankfurt (Oder) Az: S 32 SB 162 /18 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung ihres Grads der Behinderung (GdB) von 80 auf 40.

2Mit Bescheid vom stellte der Beklagte bei der Klägerin nach einer Krebserkrankung einen GdB von 80 fest. Nach Überprüfung von Amts wegen hob er diesen Bescheid mit Wirkung "ab Bekanntgabe" auf und reduzierte den GdB auf 40 (Bescheid vom ). An welchem Tag dieser Bescheid zur Post aufgegeben wurde, lässt sich den Behördenakten nicht entnehmen; an den Tag seines Zugangs vermag sich die Klägerin nicht zu erinnern. Den auf den datierten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom ).

3Die Klage hat das SG ua nach Einholung von zwei Sachverständigengutachten abgewiesen. Der Herabsetzungsbescheid genüge auch ohne Angabe eines konkreten Datums seiner materiellen Wirksamkeit den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Die gewählte Formulierung "ab Bekanntgabe" müsse ein verständiger Empfänger so verstehen, dass der Bescheid ab dem Zeitpunkt gelten solle, zu dem er tatsächlich zugegangen sei und der Adressat ihn "in den Händen halte". Letzteres sei vorliegend spätestens am der Fall gewesen. Auch die Herabsetzung des GdB auf 40 sei nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Krebserkrankung der Klägerin sei Heilungsbewährung eingetreten (Urteil vom ).

4Mit ihrer Sprungrevision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 33 Abs 1 SGB X. Der Herabsetzungsbescheid sei nicht hinreichend bestimmt, weil der Zeitpunkt seiner Wirksamkeit weder unter Rückgriff auf die Vorschrift des § 37 Abs 2 SGB X noch durch Auslegung ermittelt werden könne. Dies sei jedoch notwendig. Denn der Feststellung des GdB komme als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen und Leistungen im öffentlichen und privaten Bereich eine Dokumentationsfunktion zu. Vorliegend sei es nicht einmal dem Beklagten möglich, den genauen Zeitpunkt der materiellen Wirksamkeit seines Bescheids zu benennen. Dieser werde damit zur Disposition des Empfängers gestellt.

5Die Klägerin beantragt,das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom und den Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben.

6Der Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

7Er hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend.

Gründe

8Die zulässige Sprungrevision (§ 161 SGG) der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Beklagte hat den GdB der Klägerin zu Recht von 80 auf 40 herabgesetzt.

9A. Streitgegenstand ist der Anspruch der Klägerin auf Aufhebung des Herabsetzungsbescheids des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG). Sie verfolgt diesen Anspruch zulässigerweise mit einer isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG) auf Aufhebung dieses Bescheids, deren Erfolg ihren ursprünglichen mit Bescheid vom festgestellten GdB von 80 wiederaufleben ließe (vgl - SozR 4-1300 § 48 Nr 40 RdNr 15).

10B. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig. Er hat den GdB der Klägerin auf der Grundlage der maßgebenden Verhältnisse bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids im Mai 2018 in rechtmäßiger Weise auf 40 herabgesetzt.

11Rechtsgrundlage für die Herabsetzung des GdB ist § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand eines behinderten Menschen ist ua dann auszugehen, wenn diese einen um wenigstens 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl - juris RdNr 12; vgl auch Teil A Nr 7 Buchst a der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung "Versorgungsmedizinische Grundsätze" <VMG>).

12Der Bescheid vom , mit dem der Beklagte den GdB der Klägerin auf 80 festgesetzt hatte, ist ein Dauerverwaltungsakt (stRspr; zB - SozR 4-1300 § 48 Nr 31 RdNr 13 mwN). Diesen hat er nach Ablauf der Heilungsbewährung mit Bescheid vom wegen Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin für die Zukunft mit Wirkung "ab Bekanntgabe" zu Recht aufgehoben. Der Herabsetzungsbescheid ist gegenüber der Klägerin wirksam bekannt gegeben worden (dazu unter 1.). Die Herabsetzung des GdB mit Wirkung ab Bekanntgabe des Bescheids ist auch materiell rechtmäßig. Die bei der Klägerin nach Ablauf der Heilungsbewährung zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids bestehenden konkreten Auswirkungen der verbliebenen Gesundheitsstörungen rechtfertigen nach den für den Senat bindenden Feststellungen des SG (vgl § 163 SGG) nur noch einen GdB von 40 (dazu unter 2.).

131. Die im Bescheid vom verfügte Herabsetzung des GdB ist gemäß § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X durch Bekanntgabe iS von § 37 Abs 1 Satz 1 SGB X gegenüber der Klägerin spätestens am wirksam geworden.

14Nach § 37 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er bestimmt oder der von ihm betroffen wird. Ein Verwaltungsakt wird gemäß § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird nach § 39 Abs 1 Satz 2 SGB X mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird. Mit der Bekanntgabe wird der Verwaltungsakt sowohl für den Adressaten als auch für die erlassende Behörde bindend (vgl - BSGE 114, 180 = SozR 4-1300 § 31 Nr 8, RdNr 24; Roos/Blüggel in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 39 RdNr 4 und 8).

15Der Begriff der "Bekanntgabe" ist gesetzlich nicht definiert. Dennoch ist er im Sozialverwaltungsrecht ein feststehender Rechtsbegriff, der jedenfalls heute nicht mehr ungenau oder missverständlich (so bereits - BSGE 115, 288 = SozR 4-1500 § 87 Nr 2, RdNr 21; anders noch - juris RdNr 14), sondern in Rechtsprechung und Schrifttum geklärt ist.

16Danach ist die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts die zielgerichtete (willentliche) Mitteilung des Inhalts eines Verwaltungsakts durch die Behörde an den Adressaten ( - SozR 4-2700 § 131 Nr 2 RdNr 15; - BSGE 115, 288 = SozR 4-1500 § 87 Nr 2, RdNr 12; - SozR 4-4200 § 38 Nr 3 RdNr 22; - BSGE 114, 180 = SozR 4-1300 § 31 Nr 8, RdNr 26; Siewert in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 6. Aufl 2022, § 31 RdNr 3; Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 37 RdNr 6, jeweils mwN; ebenso zur Parallelbestimmung in § 41 Verwaltungsverfahrensgesetz <VwVfG> Baer in Schoch/Schneider, VwVfG, § 41 RdNr 14, Stand August 2022, mwN).

17Die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsakts erfolgt mit dessen Zugang. Unter Anwesenden ist dies die Übergabe des Verwaltungsakts an den Adressaten. Unter Abwesenden ist ein Verwaltungsakt nach übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung (zB - BSGE 114, 180 = SozR 4-1300 § 31 Nr 8, RdNr 26; - juris RdNr 24, ebenso 4 B 212.93 - juris RdNr 3 zur Parallelbestimmung in § 41 VwVfG; - BFHE 190, 292 - juris RdNr 19 zur Parallelbestimmung in § 122 Abgabenordnung <AO>, jeweils mwN) und Schrifttum (zB Siewert in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 6. Aufl 2022, § 37 RdNr 4; Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand , § 37 RdNr 34 f; Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 37 RdNr 8; ebenso Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl 2023, § 41 RdNr 62; Ratschow in Klein, AO, 16. Aufl 2022, § 122 RdNr 5 und 10, jeweils mwN) zugegangen, wenn er so in den Bereich des Adressaten (Empfängers) gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hat. Auf dessen tatsächliche Kenntnisnahme kommt es für den Zugang und damit die Bekanntgabe nicht an ( - BSGE 115, 288 = SozR 4-1500 § 87 Nr 2, RdNr 12; Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 37 RdNr 8).

18Erfolgt die Bekanntgabe des Verwaltungsakts wie hier mit einfachem Brief, so gilt ein Verwaltungsakt gemäß § 37 Abs 2 Satz 1 SGB X mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 37 Abs 2 Satz 3 SGB X). Diese der Verwaltungsvereinfachung (vgl hierzu - SozR 4-2500 § 13 Nr 56 RdNr 23 mwN; vgl auch bereits - BSGE 5, 53 - juris RdNr 15) dienende Bekanntgabe- oder Zugangsfiktion (beide Begriffe werden synonym verwendet s zB einerseits - SozR 4-2500 § 13 Nr 56 RdNr 21 und andererseits - SozR 4-1300 § 37 Nr 1 RdNr 10) greift aber nur, wenn der Tag der Aufgabe zur Post in den Behördenakten vermerkt wurde (vgl - SozR 4-4200 § 22 Nr 15 RdNr 17; - BSGE 97, 279 = SozR 4-2700 § 136 Nr 2, RdNr 15; Siewert in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 6. Aufl 2022, § 37 RdNr 11; Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand , § 37 RdNr 97; Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 37 RdNr 29). Dies ist hier nach den Feststellungen des SG nicht geschehen. Deshalb gelten im Fall der Klägerin für die Bekanntgabe des Herabsetzungsbescheids die vorgenannten allgemeinen Maßstäbe.

19Danach ist auf Grundlage der für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des SG (vgl § 163 SGG) der Herabsetzungsbescheid vom spätestens am der Klägerin iS des § 37 Abs 1 Satz 1 SGB X bekannt gegeben und damit nach § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X wirksam geworden. Denn spätestens an diesem Tag muss der Herabsetzungsbescheid in ihren tatsächlichen Verfügungsbereich gelangt sein, weil die Klägerin unter diesem Datum Widerspruch eingereicht hat.

202. Der Herabsetzungsbescheid des Beklagten vom ist auch materiell rechtmäßig.

21Er genügt entgegen der Ansicht der Klägerin hinsichtlich des verfügten Wirksamkeitszeitpunkts den Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit von Verwaltungsakten (dazu unter a), und die Herabsetzung des GdB ist auch im Übrigen materiell rechtmäßig (dazu unter b).

22a) Der Bescheid ist inhaltlich hinreichend bestimmt iS des § 33 Abs 1 SGB X (dazu allgemein unter aa), obwohl er kein konkretes Datum des Beginns seiner Wirksamkeit benennt, sondern insoweit lediglich auf seine Bekanntgabe verweist (dazu unter bb).

23aa) Nach § 33 Abs 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Das Bestimmtheitserfordernis als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung eines Verwaltungsakts ( - BSGE 114, 188 = SozR 4-4200 § 11 Nr 62, RdNr 15; - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26) verlangt, dass dessen Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und sich aus der Sicht eines verständigen Erklärungsempfängers in der Position des Betroffenen (objektiver Empfängerhorizont) vollständig, klar und eindeutig ergeben muss, was die Behörde in welchem Umfang und für welchen Zeitraum will (stRspr; zB - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 17; - BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13; - BSGE 67, 104 = SozR 3-1300 § 32 - juris RdNr 31). Unklarheiten gehen insoweit zu Lasten der Behörde ( - BSGE 115, 256 = SozR 4-2700 § 136 Nr 6, RdNr 15; - BSGE 67, 104 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 - juris RdNr 31).

24Die Anforderungen an die notwendige inhaltliche Bestimmtheit des Verwaltungsakts richten sich im Einzelnen nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts (stRspr; zB - BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 17 mwN). Unschädlich ist, wenn der Regelungsgehalt des Verfügungssatzes anhand der Begründung des Verwaltungsakts einschließlich seiner Anlagen, unter Rückgriff auf frühere Bescheide oder auf allgemein zugängliche Unterlagen durch Auslegung ermittelt werden muss (stRspr; zB - juris RdNr 6; - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 17). Diese Auslegungsmöglichkeiten finden ihre Grenze allerdings dort, wo auch nach methodengerechter Auslegung mehrere Deutungsmöglichkeiten verbleiben und es allein dem Adressaten überlassen bleibt, Gegenstand, Inhalt, Zeitpunkt und Umfang einer Regelung zu bestimmen. Denn die in begünstigende Rechtspositionen eingreifende Behörde ist verpflichtet, diese Entscheidung selbst zu treffen und dem Adressaten bekannt zu geben ( - SozR 4-1300 § 33 Nr 2 RdNr 16 mwN; s auch - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 23 mwN).

25Zur Auslegung von Verwaltungsakten ist auch das BSG als Revisionsgericht berufen; es ist befugt, den Inhalt von Verwaltungsakten selbstständig und damit gegebenenfalls sogar abweichend von den Vorinstanzen auszulegen (stRspr; zB - SozR 4-3100 § 18a Nr 1 <vorgesehen> - juris RdNr 20; - juris RdNr 15; - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 24).

26bb) Gemessen an diesen Vorgaben genügt der Herabsetzungsbescheid des Beklagten vom auch hinsichtlich seines Wirksamkeitszeitpunkts den Anforderungen des § 33 Abs 1 SGB X an die inhaltliche Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Die Klägerin konnte bei verständiger Würdigung des Bescheids erkennen und feststellen, ab wann die darin verfügte Herabsetzung des GdB wirksam werden sollte.

27Entgegen der Ansicht der Klägerin ist ein Herabsetzungsbescheid nicht deshalb zu unbestimmt, weil er für den Beginn der Herabsetzung des GdB kein konkretes Datum benennt, sondern vielmehr festlegt, dass diese ab Bekanntgabe des Bescheids wirksam sein soll. Denn der Beklagte hat damit gegenüber der Klägerin lediglich iS von § 31 Satz 1 SGB X für ihren Einzelfall geregelt, was von Gesetzes wegen ohnehin nach der Grundregel des § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X gegolten hätte.

28 (1) Der Senat hat bereits in seinen Entscheidungen zur zeitlichen Teilbarkeit eines Verwaltungsakts (Urteil vom - B 9 SB 3/20 R - juris RdNr 15; Urteil vom - B 9 SB 6/19 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 40 RdNr 19, 31; Urteil vom - B 9 SB 7/19 R - juris RdNr 17, 21 ff, 29) eine Herabsetzung des GdB für die Zukunft "ab Bekanntgabe" iS von § 37 Abs 1 Satz 1 SGB X für zulässig erachtet. Zur Frage der Wirksamkeit der Herabsetzung mit der Bekanntgabe des Bescheids nach § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X hat er ausgeführt, dass dieser Zeitpunkt - soweit notwendig - von den Gerichten zu ermitteln und festzustellen ist (vgl - juris RdNr 21). Im Übrigen zeigt auch schon der Rechtsgedanke des § 32 Abs 2 Nr 2 SGB X, dass der Inhalt eines Verwaltungsakts bei Erlass von dem "ungewissen Eintritt eines zukünftigen Ereignisses" abhängen kann, ohne zu unbestimmt iS des § 33 Abs 1 SGB X zu sein.

29 (2) Der Bedeutungsgehalt des Begriffs "Bekanntgabe" ist für einen verständigen Bescheidempfänger zu erkennen. Dieser Begriff ist - wie oben unter 1. aufgezeigt - in Rechtsprechung und Schrifttum zu § 37 Abs 1 Satz 1, § 39 Abs 1 SGB X geklärt. Die Annahme, der Beklagte wolle diesen Begriff im Verfügungssatz des Herabsetzungsbescheids anders verstanden wissen, ist daher fernliegend. Vielmehr ist die Bekanntgabe - wie oben unter 1. ebenfalls ausgeführt - mit dem Zugang des Verwaltungsakts vollzogen. Bei schriftlichen Verwaltungsakten wird der Zugang durch die Verschaffung der tatsächlichen Verfügungsgewalt über das den Verwaltungsakt verkörpernde Schriftstück bewirkt, sobald unter normalen Umständen die Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht. Diesen Zeitpunkt kann ein verständiger Empfänger regelmäßig ohne Weiteres erkennen oder sich diese Kenntnis jedenfalls mit zumutbarem Aufwand verschaffen.

30Die Verknüpfung der Wirksamkeit des Herabsetzungsbescheids mit dessen Bekanntgabe stellt diese auch keineswegs zur Disposition des Adressaten. Als tatsächliches Ereignis steht die Bekanntgabe nicht in dessen Belieben. Er kann den Zugang insbesondere nicht dadurch vereiteln, dass er die Kenntnisnahme des in seinen Machtbereich gelangten Verwaltungsakts verweigert oder unterlässt. Zudem besteht grundsätzlich eine Obliegenheit, Bescheide zu lesen und deren Inhalt zur Kenntnis zu nehmen ( - BSGE 114, 180 = SozR 4-1300 § 31 Nr 8, RdNr 26).

31 (3) Die fehlende Erkennbarkeit des genauen Zeitpunkts der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts für Dritte, der - wie hier - die Herabsetzung des GdB mit seiner Bekanntgabe wirksam werden lässt, hat keine Auswirkungen auf dessen hinreichende inhaltliche Bestimmtheit. Denn der Adressat kann den Bekanntgabe- und Wirksamkeitszeitpunkt des an ihn gerichteten Bescheids bei Erhalt - wie oben ausgeführt - im Regelfall ohne Weiteres feststellen und deshalb auch Dritten mitteilen.

32Das zugrunde liegende materielle Recht verlangt nach § 152 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX in seiner hier bereits maßgeblichen ab dem geltenden Fassung des Gesetzes vom (BGBl I 3234; bis zum § 69 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX in der Fassung des Gesetzes vom , BGBl I 1046), dass die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB "zum Zeitpunkt der Antragstellung" oder "zu einem früheren Zeitpunkt" feststellen. Denn diese Feststellungen dienen der Inanspruchnahme einer Vielzahl von konkreten Leistungsansprüchen und Vergünstigungen aus zahlreichen unterschiedlichen Vorschriften auch außerhalb des Schwerbehindertenrechts. Ohne eine echte Drittwirkung zu entfalten, binden sie zu diesem Zweck ua auch andere Behörden, etwa Finanzämter bei der Gewährung des Pauschbetrags für behinderte Menschen nach § 33b Einkommensteuergesetz oder Jobcenter bei der Anerkennung von Mehrbedarfen nach § 21 Abs 4, § 23 Nr 2 SGB II (vgl - SozR 4-1200 § 66 Nr 7 RdNr 21; 5 C 16.11 - BVerwGE 143, 325 - juris RdNr 21).

33Im Fall einer Herabsetzung wegen einer Änderung der Verhältnisse iS von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, insbesondere wenn der GdB auf weniger als 50 absinkt und damit die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 SGB IX entfallen, obliegt es dem Adressaten eines Herabsetzungsbescheids im Rahmen seiner jeweiligen Mitwirkungspflichten - etwa nach § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB I oder nach § 90 Abs 1 AO - diesen Behörden den Zeitpunkt der Wirksamkeit der im Bescheid verfügten Herabsetzung des GdB mitzuteilen. Entsprechendes kann zB auch gegenüber einem Arbeitgeber gelten. Denn hat der Arbeitnehmer bei Einstellung dem Arbeitgeber seine Schwerbehinderung mitgeteilt, so trifft ihn die arbeitsvertragliche Nebenpflicht, den Arbeitgeber zu informieren, wenn sich der GdB so ändert, dass der Status als schwerbehinderter Mensch entfällt (Hessisches Landesarbeitsgericht Urteil vom - 13 Sa 1237/17 - juris RdNr 56). Mit dem Verlust des Status als schwerbehinderter Mensch verliert der Betroffene nämlich alle daraus folgenden Rechte und Vergünstigungen. Der Status des Schwerbehinderten beginnt grundsätzlich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs 2 SGB IX (vgl stRspr; zB - BSGE 89, 79 = SozR 3-3870 § 59 Nr 1 - juris RdNr 15; 5 C 16.11 - BVerwGE 143, 325 - juris RdNr 20; - BAGE 125, 345 - juris RdNr 16); er endet aber trotz Wegfalls dieser Voraussetzungen erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des entsprechenden Bescheids (§ 199 Abs 1 SGB IX; sog Schon-, Auslauf- oder Nachfrist; vgl hierzu Dau in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6. Aufl 2022, § 199 RdNr 6; Koch in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Aufl 2021, § 178 RdNr 28).

34 (4) Unbeachtlich für die Beurteilung der Bestimmtheit des Herabsetzungsbescheids des Beklagten vom ist auch, dass der genaue Zeitpunkt seiner Bekanntgabe gegenüber der Klägerin nicht mehr rekonstruiert werden kann, weil diese sich nicht mehr an den Tag des Zugangs erinnern und der Beklagte ihn nicht nachweisen kann. Dies hat lediglich zur Folge, dass der Zeitpunkt der tatsächlichen und der Zeitpunkt der beweisbaren Bekanntgabe auseinanderfallen.

35Zwar wirft eine solche Konstellation Fragen nach den an den Wirksamkeitszeitpunkt anknüpfenden Rechtsfolgen im Verhältnis zwischen dem Adressaten, der den Bescheid ausstellenden Behörde und den auf die Information über diesen Zeitpunkt angewiesenen Dritten auf. Die damit zusammenhängenden Fragen betreffen aber lediglich die Beweisebene und sind von derjenigen nach der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit des Herabsetzungsbescheids zu trennen. Die Folgen der Beweislosigkeit des Zugangszeitpunkts trägt derjenige, der sich auf einen bestimmten Zeitpunkt beruft (vgl - SozR 4-2600 § 115 Nr 2 RdNr 20; Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand , § 37 RdNr 97). Steht - wie hier - lediglich fest, dass der Bescheid dem Adressaten zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegangen und damit iS des § 37 Abs 1 Satz 1, § 39 Abs 1 SGB X bekannt gegeben sein muss, so entsteht dem Betroffenen hieraus kein Nachteil. Vielmehr verringert sich ihm gegenüber die Eingriffsintensität des Verwaltungsakts, weil er die ursprüngliche Feststellung eines höheren GdB und die davon (insbesondere vom Status als schwerbehinderter Mensch) abhängige Leistungsgewährung durch Dritte möglicherweise für einen - regelmäßig allerdings nur geringfügig - längeren Zeitraum beanspruchen kann.

36 (5) Schließlich stellt auch die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB X, die im Fall der Klägerin ohnehin nicht greift (s oben unter 1.), die inhaltliche Bestimmtheit eines Verwaltungsakts nicht infrage, dessen Wirksamkeitsbeginn an die Bekanntgabe geknüpft ist. Die diese Fiktion auslösenden äußeren Umstände, insbesondere der notwendige Vermerk der Aufgabe des den Verwaltungsakt verkörpernden Schriftstücks zur Post in den Behördenakten, lassen sich im Zweifelsfall eindeutig feststellen. Dies macht den Tag der Bekanntgabe ("dritter Tag" nach der Aufgabe zur Post) hinreichend bestimmbar. Ohnehin bleibt es dem Bescheid-Adressaten nach § 37 Abs 2 Satz 3 SGB X unbenommen, die Bekanntgabefiktion durch substantiierten Vortrag zur Möglichkeit eines späteren Zugangs zu erschüttern (vgl Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 37 RdNr 33).

37b) Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG) ist auch im Übrigen materiell rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Herabsetzung des GdB der Klägerin nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm § 152 Abs 1 und 3 SGB IX (idF des ab geltenden Gesetzes vom , BGBl I 3234) sind erfüllt.

38Zutreffend hat das SG auf Grundlage seiner für den Senat bindenden Feststellungen (vgl § 163 SGG) eine wesentliche Änderung in den rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnissen angenommen, nachdem die fünfjährige Heilungsbewährung ohne Auftreten von Rezidiven oder Metastasen abgelaufen war (vgl Teil A Nr 7 Buchst a und b, Teil B Nr 1 Buchst c VMG). Es hat die gesetzlichen Vorgaben des § 152 Abs 3 Satz 1 SGB IX und die hierzu in der Rechtsprechung des BSG herausgearbeiteten Grundsätze (s hierzu zB - SozR 4-1300 § 48 Nr 40 RdNr 37 f mwN) berücksichtigt. In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das SG festgestellt, dass die nach Ablauf der Heilungsbewährung ausschlaggebenden konkreten Auswirkungen (vgl Teil A Nr 2 Buchst h, Nr 7 Buchst a VMG; - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1500 § 118 Nr 5 vorgesehen - juris RdNr 18) der bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen in der gebotenen Gesamtschau unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander nur noch einen Gesamt-GdB von 40 rechtfertigen. Dabei hat es zutreffend den Erlass (bzw die Bekanntgabe) des Widerspruchsbescheids im Mai 2018 - die letzte maßgebliche Verwaltungsentscheidung - als entscheidungserheblichen Zeitpunkt angesehen (vgl - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1500 § 118 Nr 5 vorgesehen - juris RdNr 16; - SozR 4-1300 § 48 Nr 40 RdNr 36). Einwände hiergegen hat die Klägerin im Revisionsverfahren zu Recht auch nicht mehr erhoben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:150623UB9SB222R0

Fundstelle(n):
BAAAJ-51854