Gehörsrechtsverletzende Überraschungsentscheidung bei Abweichen von gutachterlichen Feststellungen
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: Az: I-4 U 45/20 Urteilvorgehend LG Hagen (Westfalen) Az: 21 O 123/18 Urteil
Gründe
1I. Der Kläger ist in die Liste qualifizierter Wirtschaftsverbände nach § 8b UWG eingetragen. Zu seinen Mitgliedern gehören zahlreiche Ärzte und Apotheker sowie mehrere Arzneimittel- und Medizinproduktehersteller. Die Beklagte stellt Arzneimittel und Medizinprodukte her. Zu ihrem Sortiment gehört seit mehreren Jahren ein hydroaktives Lipogel mit Zink und Eisen zur Behandlung akuter und chronischer Wunden, das sie ursprünglich - jedenfalls bis 2014 - unter der Produktbezeichnung "S. " und derzeit - jedenfalls seit 2018 - unter der Produktbezeichnung "M. Gel® SCHNELLE WUNDHEILUNG" vertreibt (im Folgenden nur: Produkt).
2Das Produkt wird an Verbraucher in einer Kunststofftube, die sich in einer Kartonumverpackung befindet, verkauft. Die Kunststofftube trug jedenfalls im Jahr 2018 auf ihrer Vorderseite folgende Aufschrift: "M. Gel® Schnelle Wundheilung Hydroaktives Lipogel mit Zink und Eisen zur Behandlung akuter und chronischer Wunden". Dieselbe Aufschrift befand sich im Jahr 2018 auch auf der Vorderseite der Kartonumverpackung. Die mit demselben Text überschriebene Gebrauchsanweisung (Packungsbeilage) enthält unter der Zwischenüberschrift "Zweckbestimmung" folgenden Text:
3Die Beklagte bewarb das Produkt im Internet unter der Seite www.m. gel.de bis zum mit der Werbeaussage "SCHNELL. EFFEKTIV. Für alle Wunden im Alltag."
4Der Kläger hat - soweit noch von Bedeutung - die Werbung für das Produkt mit den Aussagen "Schnelle Wundheilung" und "SCHNELL. EFFEKTIV. Für alle Wunden im Alltag." als irreführend beanstandet und die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch genommen.
5Das Landgericht hat die Klage abgewiesen (LG Hagen, Urteil vom - 21 O 123/18, juris). Das Berufungsgericht hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte antragsgemäß verurteilt und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen (OLG Hamm, Magazindienst 2023, 307). Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde. Mit der beabsichtigten Revision erstrebt sie die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde.
6II. Das Berufungsgericht hat angenommen, die zulässige Klage sei begründet. Dem Kläger stünden hinsichtlich der beiden beanstandeten Werbeaussagen für das Produkt "Schnelle Wundheilung" und "SCHNELL. EFFEKTIV. Für alle Wunden im Alltag." Unterlassungsansprüche gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 UWG aF, § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG nF zu. Zur Begründung hat es ausgeführt:
7Mit einer gesundheitsfördernden Wirkung eines Präparats mit fachlichen Aussagen dürfe nur dann in zulässiger Weise geworben werden, wenn der Werbende die wissenschaftliche Absicherung seiner Aussage dartun könne. Diesen Anforderungen würden die vom Kläger beanstandeten Werbeaussagen der Beklagten nicht gerecht.
8Die Werbeaussage "Schnelle Wundheilung" enthalte zur Täuschung geeignete Angaben über die von der Verwendung des Produkts zu erwartenden Ergebnisse bei der Wundheilung. Die Werbeaussage richte sich jedenfalls auch an Verbraucher. Der Verbraucher verstehe die Aussage "Schnelle Wundheilung" dahin, dass die Wundheilung bei Anwendung des Produkts in jeder Phase des Wundheilungsprozesses - also auch und gerade zu Beginn des Wundheilungsprozesses unmittelbar nach der Entstehung der Wunde - mit einer deutlich höheren Wundheilungsgeschwindigkeit ablaufe als bei einer gleichartigen unbehandelten, gegebenenfalls lediglich mit einem Pflaster abgedeckten Wunde, und dass dies für alle in der Gebrauchsanweisung genannten Wundarten gleichermaßen gelte. Eine derartige Wirksamkeit sei wissenschaftlich nicht belegt. Im Tatzeitraum im Jahr 2018 habe zur Wirksamkeit des Produkts allein die klinische Studie aus dem Jahr 2014 existiert. Diese Studie trage die Werbeaussagen im Sinne des vorgenannten Verbraucherverständnisses nicht.
9Das Produkt zeige danach in den ersten drei Tagen nach der Wundentstehung lediglich eine - im Vergleich zur bloßen Abdeckung mit einem Pflaster - geringfügig höhere Wundheilungsgeschwindigkeit. Eine deutlich höhere Wundheilungsgeschwindigkeit verursache das Produkt lediglich zwischen dem dritten und dem achten Tag. Dies entspreche im Wesentlichen den Beobachtungen zu dem ebenfalls dem Bereich der "feuchten Wundheilung" zuzurechnenden Konkurrenzprodukt "B. Wund- und Heilsalbe".
10Selbst wenn die Studienergebnisse zur Wundheilungsgeschwindigkeit den Verbraucherwartungen zu einer "schnellen" Wundheilung entsprächen, existierten bis zum heutigen Tag keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass diese Studienergebnisse auf andere Wundarten als die in der Studie untersuchten oberflächlich-abrasiven Schürfwunden übertragbar seien. Der gerichtliche Sachverständige habe ausgeführt, es könne nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass bei der Behandlung anderer Wundarten mit dem Produkt eine konkrete Entwicklung der Wundheilungsgeschwindigkeit zu beobachten sein werde, die dem Kurvenverlauf in dem Liniendiagramm links oben auf Blatt 391 der Gerichtsakte entspreche. Dies müsse vielmehr für andere Wundarten konkret untersucht werden. Diese Aussage sei überzeugend, weil die im Jahr 2020 veröffentlichte weitere Studie für den dort untersuchten speziellen Wundtyp eine Entwicklung der Wundheilungsgeschwindigkeit gezeigt habe, die mit der aus dem Liniendiagramm links oben auf Blatt 391 der Gerichtsakte hervorgehenden Entwicklung der Wundheilungsgeschwindigkeit in ihren Einzelheiten nicht übereinstimme. Die Irreführung durch die Beklagte sei auch geschäftlich relevant.
11Die Werbeaussage "Schnelle Wundheilung" auf der Kunststofftube und auf der Kartonumverpackung sei danach ebenfalls irreführend. Ein Unterlassungsanspruch bestehe aus diesem Grund auch wegen der Werbeaussage "SCHNELL. EFFEKTIV. Für alle Wunden im Alltag.".
12III. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat das Verfahrensgrundrecht der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
131. Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Damit in engem Zusammenhang steht das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn sich ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch gewissenhafte und kundige Prozessbeteiligte nicht zu rechnen brauchten (st. Rspr.; vgl. BVerfG, FamRZ 2022, 1954 [juris Rn. 23]; , GRUR 2023, 421 [juris Rn. 16] = WRP 2023, 582; jeweils mwN). Hiervon kann unter anderem dann auszugehen sein, wenn ein Gericht in einem früher zwischen den Parteien geführten Rechtsstreit eine bestimmte Rechtsauffassung vertreten hat und eine Partei in einem weiteren zwischen den Parteien geführten Rechtsstreit, für das Gericht erkennbar, davon ausgeht, dass das Gericht auch in diesem Verfahren keine abweichende Auffassung vertreten werde (vgl. , WM 2020, 277 [juris Rn. 7]; Beschluss vom - I ZR 180/22, juris Rn. 6). Die grundrechtliche Gewährleistung des rechtlichen Gehörs vor Gericht schützt außerdem das Vertrauen der in erster Instanz siegreichen Partei darauf, vom Berufungsgericht rechtzeitig einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Sachvortrags erforderlich sein kann (vgl. , juris Rn. 8 mwN). Eines richterlichen Hinweises nach § 139 Abs. 1 ZPO bedarf es auch, wenn die beweispflichtige Partei nach dem Verlauf der Beweisaufnahme nicht damit rechnen musste, dass das Gericht den Beweis als nicht geführt ansehen werde. In diesem Fall darf ihr nicht die Möglichkeit abgeschnitten werden, durch neue Beweisanträge oder Richtigstellungen auf das Ergebnis der Beweisaufnahme noch Einfluss zu nehmen (vgl. , juris Rn. 5; Urteil vom - V ZR 42/15, NJW 2016, 3100 [juris Rn. 31 bis 32]).
142. Hieran gemessen hat das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung in beiden tragenden Begründungen das Gehörsrecht der Beklagten verletzt.
15a) Das Berufungsgericht hat angenommen, die vom Kläger angegriffenen Angaben seien bereits deshalb irreführend, weil der angesprochene Verbraucher sie dahingehend verstehe, dass die Wundheilung in jeder Phase des Wundheilungsprozesses, also auch und gerade zu dessen Beginn unmittelbar nach der Entstehung der Wunde, bei Anwendung des Produkts mit einer deutlich höheren Geschwindigkeit ablaufe als bei einer gleichartigen unbehandelten Wunde; dieses Verständnis sei unzutreffend. Insoweit stellt die angegriffene Entscheidung eine das Gehörsrecht der Beklagten verletzende Überraschungsentscheidung dar.
16aa) Dem vorliegenden Rechtsstreit ist ein zwischen den Parteien geführtes Verfahren der einstweiligen Verfügung vorausgegangen. Dieses Eilverfahren hat mit einem Urteil desselben Spruchkörpers des Berufungsgerichts geendet, der die beanstandete Entscheidung im vorliegenden Hauptsacheverfahren getroffen hat. Das Berufungsgericht ist in diesem Eilverfahren davon ausgegangen, der von dem Angebot und der Werbung der Beklagten angesprochene Verbraucher verstehe die Angaben zur "schnellen Wundheilung" dahingehend, dass die Wundheilung unter Einsatz des Produkts insgesamt schneller verlaufe als bei einer unbehandelten Wunde. Außerdem hat es angenommen, dass die Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2014 die Werbeaussage für die in der Studie untersuchte Wundart stützten, weil die mit dem Produkt behandelten Wunden im Rahmen der Studie früher vollständig verschlossen gewesen seien als bei der bloßen Abdeckung der Wunde mit einem Pflaster. Für ein weiterreichendes Verständnis der Werbeaussage durch die angesprochenen Verkehrskreise, insbesondere durch den Verbraucher, fehlten jegliche Anhaltspunkte. Das Landgericht ist im vorliegenden Hauptsacheverfahren bei seiner Entscheidung von dem vom Berufungsgericht im Eilverfahren festgestellten Verkehrsverständnis ausgegangen. Abweichend hiervon hat das Berufungsgericht seiner mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung zugrunde gelegt, der Verbraucher verstehe die Aussage "Schnelle Wundheilung" im Sinne einer "schnellen Wundheilung in jeder Phase der Wundheilung". Die Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2014 trügen die Werbeaussage "Schnelle Wundheilung" im Sinne dieses Verbraucherverständnisses nicht.
17bb) Das Berufungsgericht hat der erstinstanzlich siegreichen Beklagten in gehörsrechtsverletzender Weise vor seiner Entscheidung keinen Hinweis erteilt, dass es das Verständnis der angegriffenen Aussage durch den vom Produkt angesprochenen Verbraucher anders als das Landgericht und anders als in seiner Entscheidung im Eilverfahren beurteilt. Die Beklagte hatte damit keine Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
18cc) Auf diesem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG beruht die angegriffene Entscheidung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht zu einer anderen Beurteilung des Verkehrsverständnisses gekommen wäre, wenn es den nach einem entsprechenden Hinweis gehaltenen Vortrag der Beklagten berücksichtigt hätte.
19Die Beschwerde macht geltend, die Beklagte hätte auf die eigene - abweichende - Beurteilung des Verkehrsverständnisses durch das Berufungsgericht im Eilverfahren hingewiesen. Dem Berufungsgericht hätten sich im Hinblick darauf Zweifel an dem von ihm im vorliegenden Hauptsacheverfahren gefundenen Ergebnis aufdrängen müssen. Bei einer solchen Sachlage hätte das Berufungsgericht in Erwägung ziehen müssen, für die Ermittlung des Verkehrsverständnisses gegebenenfalls ein Sachverständigengutachten einzuholen.
20Gehören die Mitglieder des Tatgerichts selbst zu den angesprochenen Verkehrskreisen, bedarf es im Allgemeinen zwar keines durch eine Meinungsumfrage untermauerten Sachverständigengutachtens, um das Verständnis des Verkehrs zu ermitteln (vgl. , BGHZ 194, 314 [juris Rn. 32] - Biomineralwasser, mwN; Urteil vom - I ZR 225/12, GRUR 2015, 1189 [juris Rn. 6] = WRP 2015, 1507 - Goldrapper; Beschluss vom - I ZR 190/19, MittdtschPatAnw 2021, 93 [juris Rn. 12]; Urteil vom - I ZR 114/20, GRUR 2021, 1315 [juris Rn. 18] = WRP 2021, 1444 - Kieferorthopädie).Eine Beweisaufnahme ist jedoch erforderlich, wenn dem Tatgericht die erforderliche Sachkunde fehlt oder sich ihm trotz eigener Sachkunde Zweifel am Ergebnis aufdrängen müssen (vgl. BGHZ 194, 314 [juris Rn. 43] - Biomineralwasser; , GRUR 2013, 631 [juris Rn. 47 f.] = WRP 2013, 778 - AMARULA/Marulablu; BGH, MittdtschPatAnw 2021, 93 [juris Rn. 12]).
21b) Die zweite tragende Begründung des Berufungsgerichts, die vom Kläger beanstandeten Angaben seien auch deshalb irreführend, weil kein wissenschaftlicher Beleg für eine Übertragbarkeit der Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2014 auf andere Wundarten als die in der Studie untersuchten oberflächlichen-abrasiven Schürfwunden vorliege, verletzt die Beklagte ebenfalls in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör. Auch die Würdigung des Ergebnisses der zweitinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht stellt sich als gehörsrechtsverletzende Überraschungsentscheidung dar.
22aa) Der gerichtliche Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass die Frage, ob die für das Produkt verwendeten Angaben "Schnelle Wundheilung" und "Schnell. Effektiv. Für alle Wunden im Alltag." gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis entsprechen, uneingeschränkt zu bejahen sei. Außerdem hat sich der gerichtliche Sachverständige entsprechend den Vorgaben des Berufungsgerichts im vorliegenden Hauptsacheverfahren mit der - bereits im vorangegangenen Eilverfahren von der Beklagten vorgelegten - Stellungnahme des Dr. med. T. E. vom befasst, mit der dieser erklärt hat, das Ergebnis der Studie aus dem Jahr 2014 könne auf andere Wundarten und -typen übertragen werden. Hierzu hat der gerichtliche Sachverständige erklärt, dass die Frage, ob diese Stellungnahme gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis entspreche, ebenfalls uneingeschränkt zu bejahen sei.
23Das Berufungsgericht hat auf Antrag des Klägers den gerichtlichen Sachverständigen mündlich angehört. Dieser hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht ausgeführt: "Die Studie aus dem Jahr 2014, die Gegenstand meines schriftlichen Gutachtens war, zeigt als Ergebnis die Tendenz, dass die Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Hinblick auf die in der Studie untersuchten Schürfwunden förderlich war. Man könnte auch formulieren, dass eine Tendenz erkennbar war, dass die Anwendung des Produkts 'besser' für die Wundversorgung war als die Versorgung mit einem Pflaster. Da diejenigen Wunden, für die das Produkt nach der Gebrauchsanweisung vorgesehen ist, in ihrem Ausgangspunkt als gleichwertig anzusehen sind, ist dieses eben von mir formulierte Ergebnis der Studie auf die anderen Wundtypen übertragbar."
24bb) Das Berufungsgericht hat weder das schriftliche Sachverständigengutachten noch die mündlichen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen als ausreichend für den von der Beklagten zu erbringenden Nachweis erachtet, dass es gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis entspreche, dass das Produkt bei allen Wundarten eine "schnelle" Wundheilung hervorrufe. Es hat aus einer einzelnen Äußerung des gerichtlichen Sachverständigen den Schluss gezogen, dass die Werbung der Beklagten inhaltlich unzutreffend sei, die übrigen Äußerungen des Sachverständigen, die die streitgegenständlichen Wirksamkeitsaussagen bestätigen, unberücksichtigt gelassen und aus diesem Grund der Klage stattgegeben. Dies ist eine Entscheidung, mit der ein gewissenhafter Prozessbeteiligter angesichts der vorstehend wiedergegebenen Erklärungen des gerichtlichen Sachverständigen nicht rechnen konnte.
25cc) Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Berufungsurteil. Die Beschwerde hat im Einzelnen dargelegt, dass das Berufungsgericht bei seiner Beweiswürdigung einem grundlegenden Missverständnis bei der Interpretation der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen unterlegen sei.
26(1) Das Gericht hat sich zwar auch über die von einem Sachverständigen begutachteten Tatsachen eine eigene Überzeugung zu bilden. Dies entspricht der in § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO geregelten freien Beweiswürdigung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme. Allerdings stößt die Bewertung eines Gutachtens an eine Grenze, wenn hierfür eine beim Gericht nicht vorhandene Sachkunde erforderlich ist (vgl. , NJW 1982, 2874 [juris Rn. 10]; Urteil vom - IV ZR 535/15, NJW-RR 2017, 1066 [juris Rn. 25]). Insbesondere darf das Gericht nicht ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen des von ihm gerade wegen seiner fehlenden Sachkunde beauftragten Gutachters abweichen (vgl. BVerfG, NJW-RR 2014, 1290 [juris Rn. 17]; NJW 2019, 2012 [juris Rn. 26]; , NJW-RR 2013, 628 [juris Rn. 7]; Beschluss vom - I ZB 108/22, NJW-RR 2023, 1228 [juris Rn. 26]).
27(2) Hält das Berufungsgericht die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen für nicht überzeugend und will es - wie im Streitfall - von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen des von ihm gerade wegen seiner fehlenden medizinischen Sachkunde beauftragten Gutachters abweichen, hätte es den gerichtlichen Sachverständigen dazu zu befragen, ob das im Berufungsurteil genannte Verständnis seiner Bekundungen zutreffend ist, oder in Erwägung ziehen müssen, einen anderen Sachverständigen zu beauftragen. Hiervon hat es zu Unrecht abgesehen. Bei einer Fortsetzung der Beweisaufnahme hätte sich das Berufungsgericht möglicherweise die erforderliche Gewissheit darüber verschafft, dass die Werbeangaben der Beklagten wissenschaftlich abgesichert sind.
28IV. Danach ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:310823BIZR11.23.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-51684