Instanzenzug: LG Landshut Az: 64 T 1124/23vorgehend AG Freising Az: 3 XIV 8/23 (B)
Gründe
1I. Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger und in Deutschland geboren. Mit Bescheid vom ordnete die beteiligte Behörde seine Ausweisung unter Androhung der Abschiebung in die Türkei an. Der Bescheid ist seit dem bestandskräftig.
2Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis längstens angeordnet. Dessen Beschwerde hat das zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung beabsichtigt der Betroffene Rechtsbeschwerde einzulegen und hat hierfür am Verfahrenskostenhilfe beantragt. Der Senat hat diesen Antrag mit Beschluss vom unter Hinweis auf die fehlende Darlegung und Glaubhaftmachung der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe abgelehnt. Mit Schreiben vom beantragt der zwischenzeitlich abgeschobene Betroffene, vertreten durch seine Verfahrensbevollmächtigte, erneut Verfahrenskostenhilfe für die beabsichtigte Rechtsbeschwerde.
3II. Auch der erneute Verfahrenskostenhilfeantrag ist abzulehnen. Zwar ist die erneute Antragstellung zulässig, der Antrag ist jedoch unbegründet, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die beabsichtigte Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.
41. Das Beschwerdegericht hat angenommen, der Haftanordnung liege ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde zugrunde. Der Haftantrag sei zu Beginn der Anhörung dem Betroffenen bekannt gegeben und in Kopie ausgehändigt worden. Unschädlich sei, dass dies erst nach Feststellung der Personalien geschehen sei, da der Zweck der Aushändigung in der Wahrung rechtlichen Gehörs liege. Dazu reiche es aus, wenn die Aushändigung - wie hier - noch vor der Anhörung zur Sache erfolge. Der Betroffene sei auch vollziehbar ausreisepflichtig; er verfüge über keinen gültigen Aufenthaltstitel und der Bescheid der beteiligten Behörde, mit dem die Ausweisung verfügt wurde, sei bestandskräftig. Etwaige Einwände hiergegen unterlägen allein der Kontrolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit und seien nicht vom Haftrichter zu prüfen. Auch habe das Amtsgericht zu Recht den Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen. Diese sei hier zu vermuten, da der Betroffene seit drei Monaten seinen Reisepass unterdrückt und dadurch bereits einen in der Vergangenheit geplanten Abschiebeversuch verhindert habe. Zudem lägen konkrete Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr vor, da der Betroffene mehrfach zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sei. Auch folge aus einem Gutachten vom , dass von dem Betroffenen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgehe.
52. Der erneute Verfahrenskostenhilfeantrag ist zulässig.
6a) Der unanfechtbare Beschluss des Senats vom über den ersten Verfahrenskostenhilfefantrag steht dem nicht entgegen, da dieser nicht in Rechtskraft erwachsen ist (vgl. , NJW 2004, 1805 [juris Rn. 5, 7, 8]).
7b) Dem erneuten Verfahrenskostenhilfeantrag fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen wiederholten Antrag auf Verfahrenskostenhilfe kann fehlen, wenn das Recht zur Stellung eines neuen Antrags missbraucht wird. Es kommt stets auf die Umstände des Einzelfalles an (vgl. , NJW 2009, 857 Rn. 12). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass der Betroffene inzwischen abgeschoben wurde und sich dadurch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse typischerweise ändern (vgl. , juris). Es kann somit nicht als missbräuchlich angesehen werden, dass auch mit dem neuen Antrag die bisherigen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen nicht ausreichend dargetan und glaubhaft gemacht wurden.
83. Der Verfahrenskostenhilfeantrag ist jedoch unbegründet.
9a) Es kann dahinstehen, ob der Betroffene nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Verfahrensführung aufbringen kann (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO), wozu im Hinblick auf die neuen Lebensverhältnisse des Betroffenen jeglicher Vortrag fehlt. Die Verfahrenskostenhilfe ist jedenfalls mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung zu versagen.
10b) Zwar steht die inzwischen erfolgte Abschiebung des Betroffenen der Zulässigkeit der beabsichtigten Rechtsbeschwerde nicht entgegen, da auch im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG der Antrag auf Feststellung der Rechtsverletzung durch den angefochtenen Beschluss umgestellt werden kann (BGH, Beschlüsse vom - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150 Rn. 9; vom - XII ZB 614/11, FamRZ 2013, 1726 Rn. 10).
11c) Die beabsichtigte Rechtsbeschwerde ist aber unbegründet.
12aa) Das Beschwerdegericht hat - was auch vom Betroffenen nicht in Frage gestellt wird - zutreffend angenommen, dass der Haftanordnung ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde zugrunde liegt. Der Haftantrag enthält auf den konkreten Fall bezogene Darlegungen zu allen gemäß § 417 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FamFG erforderlichen Punkten.
13bb) Das Beschwerdegericht geht auch zutreffend davon aus, der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung stehe nicht entgegen, dass der Haftantrag dem Betroffenen im Anhörungstermin erst nach Feststellung seiner Personalien ausgehändigt worden sei. Die Aushändigung des Haftantrags soll den Betroffenen in die Lage versetzen, das ihm von Verfassungs wegen zukommende rechtliche Gehör effektiv wahrzunehmen. Der Betroffene soll zur Sachaufklärung beitragen können (vgl. , BGHZ 184, 323 Rn. 16). Ob die Aushändigung im Anhörungstermin vor oder nach Feststellung der Personalien erfolgt, ist indes im Hinblick auf die Möglichkeit des Betroffenen, seine Rechte wahrzunehmen, ohne Bedeutung.
14cc) Entgegen der Auffassung des Betroffenen fehlt es auch nicht an der vollziehbaren Ausreisepflicht als Grundlage einer Haftanordnung nach § 62 AufenthG.
15(1) Dass der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig ist, ergibt sich aus dem seit bestandskräftigen Bescheid der beteiligten Behörde vom , mit dem seine Ausreisepflicht festgestellt und ihm die Abschiebung angedroht wurde. Mehrfach gewährte Ausreisefristen sind abgelaufen. Die Abschiebung wurde ausweislich des Haftantrags auf der Grundlage des vollziehbaren Bescheids vom betrieben. Der Haftrichter hat im Abschiebungshaftverfahren nicht zu prüfen, ob die Behörde die Abschiebung zu Recht betreibt, denn deren Tätigkeit unterliegt insoweit grundsätzlich allein der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte (, juris Rn. 8 mwN).
16(2) Nichts Gegenteiliges folgt aus der in der Antragsschrift in Bezug genommenen Entscheidung des , FGPrax 2010, 50, 51). Zwar hat hiernach der Haftrichter für den Fall einer auf § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gestützten Haftanordnung, bei der die sofort vollziehbare Ausreisepflicht aufgrund unerlaubter Einreise den unmittelbaren Haftgrund bildet, diese - in Ermangelung einer bestandskräftigen Abschiebungs- oder Zurückschiebungsverfügung oder einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung - selbst zu prüfen (BGH, FGPrax 2010, 50 Rn. 7 mwN). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Vorliegend wird die Haftanordnung auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gestützt und der zugrundeliegende Bescheid wurde verwaltungsgerichtlich überprüft.
17Dass der Betroffene nunmehr - bisher ohne Erfolg - die Fortsetzung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens begehrt, in dem der Ausweisungsbescheid vom streitgegenständlich war, berührt die Bestandskraft des Bescheids vom nicht.
18dd) Im Ergebnis zu Recht hat das Beschwerdegericht auch den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr.1 AufenthG bejaht.
19(1) Dabei hat es sich allerdings zu Unrecht unter anderem auf die widerlegliche Vermutung des § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG gestützt.
20(a) Gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG wird Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung des Aufenthaltsgesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität. Eine Identitätstäuschung liegt danach vor, wenn der Betroffene seine wahre Identität nicht preisgibt, etwa durch die Angabe diverser Aliaspersonalien oder durch falsche Angaben zu seiner Person (vgl. , InfAuslR 2018, 413 Rn. 17 f.; s.a. , InfAuslR 2016, 335 Rn. 12 f., und LG Traunstein, Beschluss vom - 4 T 45/16, juris Rn. 19 bis 22 - jeweils zur weitgehend gleichlautenden Vorschrift des § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG aF, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers in § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG aufgegangen ist, vgl. Gesetzesbegründung zum Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 19/10047, S. 41).
21(b) Der Betroffene rügt zu Recht, dass es vorliegend an einer solchen Identitätstäuschung fehlt. Diese ergibt sich entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht daraus, dass er seinen Reisepass nicht vorgelegt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt eine Identitätstäuschung nicht schon deshalb vor, weil ein Ausländer seine Passlosigkeit nur vorgetäuscht, ansonsten aber stets korrekte Angaben zu seinem Geburtsdatum, seinem Geburtsort und seiner Staatsangehörigkeit gemacht hat (, juris Rn. 8).
22(2) Gleichwohl hat das Beschwerdegericht im Ergebnis zu Recht Fluchtgefahr bejaht.
23(a) Ob Fluchtgefahr vorliegt, ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles festzustellen (, juris Rn. 10 mwN). Da das Beschwerdegericht zu Unrecht vom Vorliegen des Vermutungstatbestands des § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG ausgegangen ist, kann Fluchtgefahr auf die vom Beschwerdegericht vorgenommene Gesamtwürdigung nicht gestützt werden. Nachdem weitere relevante tatsächliche Feststellungen weder erforderlich noch zu erwarten sind, kann der Senat die für die Annahme der Fluchtgefahr gebotene Gesamtwürdigung jedoch selbst vornehmen (, juris Rn. 13).
24(b) Die vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen, die den Feststellungen des Amtsgerichts entsprechen und zu denen der Betroffene bereits erstinstanzlich angehört wurde, tragen den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, auch wenn die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG nicht vorliegen.
25(aa) Zutreffend und vom Betroffenen in der Antragsschrift unbeanstandet, hat das Beschwerdegericht angenommen, dass konkrete Anhaltspunkte für Fluchtgefahr hier nach § 62 Abs. 3b Nr. 3 AufenthG vorlagen, da von dem Betroffenen eine Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht. Dies konnte das Beschwerdegericht ohne Rechtsfehler aus der erheblichen kriminellen Vergangenheit des Betroffenen (darunter einer Verurteilung wegen Totschlags) sowie dem Sachverständigengutachten vom schließen, wonach bei erneutem Kokain- und Heroinkonsum davon auszugehen sei, dass der Betroffene früher oder später weitere Delikte im Sinne der vergangenen Straftaten begehen werde.
26(bb) Frei von Rechtsfehlern hat das Beschwerdegericht auch angenommen, dass ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG bestand. Hiernach liegt ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vor, wenn der Ausländer wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Erforderlich sind mindestens zwei strafrechtliche Verurteilungen, wobei zumindest auf Grund einer Straftat eine Freiheitsstrafe verhängt worden sein muss. Nach den zugrunde zu legenden Feststellungen ist der Betroffene neben vorsätzlichen Straftaten, die zu Jugendstrafen geführt haben, durch Urteil vom wegen Totschlags in Tatmehrheit mit Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden und mit Urteil vom zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 5 Monaten wegen Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz, teilweise in Tateinheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht.
27(cc) Die gebotene Gesamtabwägung ergibt, dass Fluchtgefahr vorlag. Die Regelung des § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG zielt auf Personen, die durch ihr Verhalten gezeigt haben, dass sie der deutschen Rechtsordnung ablehnend gegenüberstehen und deshalb bei ihnen nicht zu erwarten ist, dass sie auch anderen gesetzlichen Pflichten wie der Ausreisepflicht freiwillig nachkommen werden (vgl. Gesetzesbegründung im Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 19/10047, S. 42). Der Betroffene hat nicht nur durch schwerwiegende Straftaten seine Ablehnung gegenüber der deutschen Rechtsordnung gezeigt, sondern ist auch der Vorlagepflicht hinsichtlich seines Passes nicht nachgekommen und hatte dadurch eine Abschiebung bisher verhindert. Hierdurch trat zu Tage, dass er auch seiner gesetzlichen Pflicht zur Ausreise nicht freiwillig nachgekommen wäre, sondern vielmehr versucht hätte, sich der Abschiebung zu entziehen. In der Gesamtschau der festgestellten Umstände bestehen keine Zweifel, dass Fluchtgefahr bestand.
284. Entgegen der Auffassung des Betroffenen hat der Senat mit dem den Verfahrenskostenhilfeantrag vom ablehnenden Beschluss vom die hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtsbeschwerde nicht bejaht, sondern sich zu diesen nicht verhalten. Die vorliegende Entscheidung steht somit nicht im Widerspruch zu diesem Beschluss.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:110723BXIIIZA3.23.0
Fundstelle(n):
FAAAJ-49998