Berufungsverfahren im Streit um eine Eigenbedarfskündigung bei Wohnraummiete: Umfang der Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung
Leitsatz
Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist nicht auf den Umfang beschränkt, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben (Bestätigung von , BGHZ 162, 313, 315 f.; vom - VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; Senatsbeschluss vom - VIII ZR 300/15, WuM 2016, 743 Rn. 23).
Gesetze: § 286 ZPO, § 513 ZPO, § 529 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 544 Abs 9 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: LG München II Az: 12 S 2089/22vorgehend AG Wolfratshausen Az: 8 C 578/21
Gründe
I.
1Die Klägerin vermietete mit Wohnraummietvertrag vom ein Hausgrundstück am S. an die Beklagten. Bei dem Mietobjekt handelt es sich um ein Haupt- und ein Nebenhaus, die beide miteinander verbunden sind und eine Gesamtwohnfläche von 410 m² aufweisen.
2Die Klägerin beabsichtigte zunächst einen Verkauf des Hausgrundstücks. Eine Besichtigung des Objekts durch den Makler wurde ihr im Frühjahr 2021 von den Beklagten, denen die Klägerin ebenfalls ein Verkaufsangebot unterbreitet hatte, verwehrt.
3Mit Schreiben vom erklärte die Klägerin, die zwei erwachsene und mit ihren Familien in München lebende Söhne hat, die Kündigung des Mietverhältnisses zum wegen Eigenbedarfs. In der Kündigungserklärung heißt es unter anderem, dass die Klägerin nunmehr das Haus selbst mit ihrem Sohn D. und dessen Familie bewohnen und ihr Sohn P. einen Bereich des Hauses als Zweitwohnsitz nutzen wolle.
4Die Beklagten widersprachen der Kündigung gemäß § 574 BGB.
5Das Amtsgericht hat der auf Räumung und Herausgabe des Hausgrundstücks gerichteten Klage nach zeugenschaftlicher Vernehmung der beiden Söhne zum Vorliegen des behaupteten Eigenbedarfs stattgegeben. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen.
6Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie ihr auf Abweisung der Klage, hilfsweise auf Feststellung der Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574 f. BGB gerichtetes Begehren weiterverfolgen.
II.
7Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:
8Das Amtsgericht habe zu Recht angenommen, dass ein Kündigungsgrund gemäß § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB vorliege, weil die Klägerin die Räume als Wohnung für sich und ihre Familienangehörigen benötige. Es habe festgestellt, dass die Klägerin beabsichtige, das Nebenhaus zu beziehen und ihren Sohn D. mit seiner Familie das Haupthaus beziehen zu lassen sowie dem Sohn P. einen Raum zur Nutzung als Zweitwohnsitz zur Verfügung zu stellen.
9Das Berufungsgericht sei grundsätzlich an die Beweiswürdigung des Amtsgerichts gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen würden. Solche Anhaltspunkte seien ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinn seien die objektivierbaren rechtlichen und tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen; bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügten nicht.
10Die Berufungsbegründung könne derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht aufzeigen. Das Amtsgericht habe sich in seiner Beweiswürdigung auch mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass die Klägerin zunächst eine Verkaufsabsicht gehabt und erst in der Folge den Eigennutzungswunsch gefasst habe. Insgesamt setzten die Beklagten lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts.
III.
11Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg (§ 544 Abs. 9 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat - ausgehend von einem zu engen rechtlichen Überprüfungsmaßstab des Berufungsgerichts gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO - die Ausführungen der Beklagten in der Berufungsbegründung zur Beweiswürdigung des Amtsgerichts nicht in dem gebotenen Maße in seine Erwägungen zur Nachprüfung des angefochtenen Urteils gemäß § 513 ZPO einbezogen.
121. Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; Senatsbeschlüsse vom - VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn. 10; vom - VIII ZR 298/21, ZIP 2023, 972 Rn. 17; jeweils mwN). Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. nur Senatsbeschluss vom - VIII ZR 285/21, WuM 2022, 551 Rn. 12). Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht den Vortrag einer Partei in der Berufungsbegründung aufgrund von rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden (vgl. , NJW-RR 2019, 1343 Rn. 9).
132. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen hat.
14a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben (vgl. , NJW-RR 2019, 1343 Rn. 11).
15Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht - wie die revisionsrechtliche Prüfung - auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Denn bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer "fehlerfreien und überzeugenden" und damit "richtigen" Entscheidung des Einzelfalles besteht (, BGHZ 160, 83, 86 ff.; vom - VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, 315 f.; vom - VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; Senatsbeschluss vom - VIII ZR 300/15, WuM 2016, 743 Rn. 23 mwN).
16Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (BGH, Beschlüsse vom - VIII ZR 300/15, aaO Rn. 24; vom - VII ZR 69/17, aaO). Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (vgl. , aaO S. 316 f.; vom - VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; vom - VI ZR 434/15, NJW-RR 2017, 725 Rn. 20; vom - VIII ZR 123/20, WuM 2021, 38 Rn. 23; vom - I ZR 37/20, juris Rn. 28; Beschlüsse vom - VIII ZR 300/15, aaO; vom - VII ZR 69/17, aaO).
17b) Diesen Prüfungsmaßstab hat das Berufungsgericht grundlegend verkannt, denn es hat die mit der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem Amtsgericht hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind.
18Bereits die im Abschnitt des Berufungsurteils zum allgemeinen rechtlichen Maßstab enthaltene Aufzählung von Umständen, die das Berufungsgericht als Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ansieht, legt die Anwendung eines nur eingeschränkten - auf Rechtsfehler beschränkten - Prüfungsmaßstabs nahe. Anhand dieses - unzutreffenden - Maßstabs hat das Berufungsgericht sodann die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwände der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts auch beurteilt, wie sich aus der Formulierung ergibt, dass die Berufungsbegründung "derartige" konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit nicht aufzeigen könne. Soweit das Berufungsgericht sich mit dem von der Berufung gegen die "Richtigkeit" der amtsgerichtlichen Beweiswürdigung angeführten - bedeutsamen - Umstand befasst hat, dass die Klägerin zunächst eine Verkaufsabsicht gehabt und erst später den Eigennutzungsentschluss gefasst habe, ist es seiner Prüfungspflicht ebenfalls nicht in dem oben genannten gebotenen Maße nachgekommen, sondern hat die Prüfung ausschließlich auf die Vollständigkeit - nicht hingegen auf die Richtigkeit - der Beweiswürdigung bezogen. Die im vorgenannten Sinne umfassende Prüfung wird nachzuholen sein.
19Schließlich hat das Berufungsgericht die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten "insgesamt" mit der Begründung beschieden, die Beklagte setze "lediglich ihre Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Amtsgerichts". Damit hat es deutlich gemacht, dass es die amtsgerichtliche Beweiswürdigung im Ergebnis allein auf Rechtsfehler geprüft hat, ohne auch nur zu erwägen, ob sich unter Berücksichtigung der Einwendungen der Beklagten Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie aus der Möglichkeit einer anderen Würdigung der Angaben der Klägerin und der als Zeugen vernommenen Söhne ergeben könnten. Mit einer solchen Begründung durfte das Berufungsgericht das Vorbringen der Beklagten gegen die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht als unbeachtlich ansehen (vgl. hierzu , NJW-RR 2017, 725 Rn. 21; Beschluss vom - VI ZR 67/15, NJW 2016, 713 Rn. 7).
20c) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Anwendung des zutreffenden Prüfungsmaßstabs im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und bei Vornahme einer eigenen Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Argumente der Berufungsbegründung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
21Denn die Beklagten haben neben dem vorstehend bereits erwähnten Umstand einer zunächst bestehenden Verkaufsabsicht der Klägerin - wie die Nichtzulassungsbeschwerde unter Verweis auf die betreffenden Aktenstellen aufzeigt - mit der Berufungsbegründung unter anderem darauf hingewiesen, dass die Angaben der Klägerin zur zeitlichen Einordnung des gemeinsamen Entschlusses über die künftige Eigennutzung des Mietobjekts im Widerspruch zu den Angaben ihres erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Sohnes D. stünden und dessen Angaben wiederum nicht dazu passten, dass die Klägerin noch zu einem späteren Zeitpunkt sogar gerichtlich von den Beklagten die Duldung einer Besichtigung des Mietobjekts zum Zwecke des Verkaufs verlangt habe. Ferner haben die Beklagten die einander widersprechenden Angaben der beiden erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Söhne der Klägerin über die beabsichtigte räumliche Aufteilung des Mietobjekts angeführt und unter anderem darauf hingewiesen, dass die diesbezügliche Würdigung des Amtsgerichts nicht dazu passe, dass die Klägerin nach den Angaben in der Kündigungserklärung hierüber ausführlich mit ihren Söhnen gesprochen habe.
223. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO).
IV.
23Nach alledem ist das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Der Senat macht dabei von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch, der auch im Beschlussverfahren nach § 544 Abs. 9 ZPO entsprechend herangezogen werden kann (Senatsbeschluss vom - VIII ZR 96/22, NJW-RR 2023, 229 Rn. 29 mwN).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:080823BVIIIZR20.23.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 40
NJW 2023 S. 3496 Nr. 48
NJW 2023 S. 3498 Nr. 48
OAAAJ-48650