Nichtzulassungsbeschwerde - Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen G - erhebliche Gehbehinderung - umfassender Behinderungsbegriff - verfassungsrechtliches Diskriminierungsverbot - UN-Behindertenrechtskonvention - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Regelfälle - Gleichstellung bestimmter Krankheiten und Krankheitsbilder - keine grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Rechtsanwendung im Einzelfall - Beschwerdebegründung - erforderliche Darstellung der vom LSG festgestellten Tatsachen - gesundheitliche Einschränkungen und damit verbundene Funktionsbeeinträchtigungen - Darlegungsanforderungen
Gesetze: § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 163 SGG, § 229 Abs 1 SGB 9 2018, § 152 Abs 4 SGB 9 2018, § 2 Abs 1 S 1 SGB 9 2018, § 2 VersMedV, Teil D Nr 1 VersMedV, § 3 Abs 1 Nr 7 SchwbAwV, Art 5 Abs 2 UNBehRÜbk, Art 3 Abs 3 S 2 GG
Instanzenzug: SG Lüneburg Az: S 6 SB 37/18 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 10 SB 85 /20 Urteil
Gründe
1I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit hat das einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) verneint.
2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt und mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet.
3II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat den von ihr allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht in der danach vorgeschriebenen Weise dargelegt.
4Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sogenannte Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB - juris RdNr 14; - juris RdNr 6).
6Damit und mit ihren weiteren Ausführungen in der Beschwerdebegründung formuliert die Klägerin bereits keine Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht. Vielmehr handelt es sich im Kern um eine Frage zur Rechtsanwendung im Einzelfall, auf welche die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht zulässig gestützt werden kann.
7Wie in der Beschwerdebegründung zutreffend ausgeführt, hat das BSG zur Frage der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G bereits entschieden, dass der umfassende Behindertenbegriff iS des § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art 3 Abs 3 Satz 2 GG; Art 5 Abs 2 UN-Behindertenrechtskonvention) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen gebietet. Anspruch auf Merkzeichen G hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des Einzelfalls aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr 1 Buchst d bis f der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze <VMG>) genannten Regelfällen dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist ( - SozR 4-3250 § 69 Nr 21 RdNr 21; - SozR 3-3870 § 60 Nr 2 - juris RdNr 19).
8Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Gleichstellung bestimmter Krankheiten oder Krankheitsbilder mit in den VMG genannten Beispielen regelmäßig nicht geeignet, die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache zu begründen. Vielmehr betrifft dies die Rechtsanwendung im Einzelfall. Dies gilt auch, wenn es sich um eine Krankheit handelt, an der eine Vielzahl von Personen leidet. Denn der Anspruch auf Merkzeichen G wegen anderer als in den Regelfällen aufgeführter Erkrankungen erfordert nach der oben genannten Rechtsprechung des BSG (aaO) stets eine Prüfung der Auswirkungen auf die Gehfunktion auf Grundlage der jeweiligen Gesundheitsstörungen. Dass in Bezug auf schwerbehinderte Menschen, die einen ICD-Defibrillator tragen, anderes gelten könnte, hat die Klägerin nicht dargetan.
9Mit ihrer Beschwerdebegründung hat die Klägerin - unabhängig von der konkret formulierten Frage - zudem nicht dargetan, dass die aufgrund der oben zitierten Rechtsprechung des BSG (aaO) geklärte Frage der rechtlichen Voraussetzungen für die Gleichstellung schwerbehinderter Menschen mit dem in den Regelfällen zum Merkzeichen G beispielhaft aufgeführten Personenkreis erneut klärungsbedürftig geworden wäre. Zwar kann auch eine bereits höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage erneut klärungsbedürftig werden. Hierfür ist jedoch darzulegen, dass und mit welchen Gründen der höchstrichterlichen Rechtsauffassung in der Rechtsprechung oder im Schrifttum widersprochen worden ist oder dass sich völlig neue, nicht erwogene Gesichtspunkte ergeben haben, die eine andere Beurteilung nahelegen könnten (vgl B 10 ÜG 8/20 B - juris RdNr 6; - juris RdNr 16; - SozR 1500 § 160a Nr 13 - juris RdNr 6). Solche Ausführungen lässt die Beschwerdebegründung vermissen. Zwar enthält sie eine ausführliche Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen insbesondere des Merkzeichens G ("Rechtliche Würdigung") und eine Auseinandersetzung mit der nach Auffassung der Klägerin fehlerhaften "Anwendung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze durch das LSG". Damit stellt die Klägerin aber lediglich ihre eigene Rechtsauffassung derjenigen des Berufungsgerichts entgegen, was nicht zur Darlegung der (erneuten) Klärungsbedürftigkeit genügt (vgl - juris RdNr 6 mwN).
10Selbst wenn der Senat der von der Klägerin formulierten Frage die Qualität als Rechtsfrage unterstellt, hätte sie im Übrigen auch deren Klärungsfähigkeit nicht den nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diesbezüglich geltenden Anforderungen genügend dargelegt. Zwar hat die Klägerin eingangs ihrer Beschwerdebegründung im Abschnitt "I. Tatbestand" die verwaltungsseitig festgestellten Folgen ihres Unfalls am und das dem angefochtenen Urteil vorausgegangene Verwaltungs- und Gerichtsverfahren knapp dargestellt und im Anschluss hieran zusammen mit dem Urteil des LSG im Hinblick auf die Voraussetzungen vor allem des Merkzeichens G rechtlich gewürdigt. Zudem macht sie im letzten Teil ihrer Begründung - ua durch ein Zitat des vom LSG beauftragten Sachverständigen Z - abstrakte Ausführungen zur Relevanz und zu den Begleiterscheinungen einer Behandlung von Herzrhythmusstörungen mittels eines ICD-Defibrillators. Jedoch fehlt es in der Beschwerdebegründung an einer Darstellung der vom LSG im angegriffenen Urteil in Bezug auf die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin und die hiermit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen konkret getroffenen Tatsachenfeststellungen. Nur letztere können aber einer Entscheidung des BSG in der angestrebten Revision zugrunde gelegt werden. Ein von der Klägerin für das Revisionsverfahren angekündigter Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG wäre allenfalls zulässig, soweit Beweis zu generellen Tatsachen auf medizinischem Gebiet erhoben werden soll (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 109 RdNr 2). Möglicherweise unzureichende Feststellungen zu den gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin in der Vorinstanz können hierdurch nicht nachgeholt werden.
11Ohne die Angabe der vom LSG festgestellten Tatsachen ist der Senat nicht in der Lage, wie erforderlich, allein aufgrund der Beschwerdebegründung die Entscheidungserheblichkeit einer Rechtsfrage zu beurteilen (vgl stRspr; zB - juris RdNr 5; - juris RdNr 13). Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich den maßgeblichen Sachverhalt aus den Akten oder der angegriffenen Entscheidung selbst herauszusuchen (stRspr; zB - juris RdNr 5 mwN).
12Dass die Klägerin die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB - juris RdNr 10; - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).
13Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
14Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:010823BB9SB4422B0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-47751