Instanzenzug: Az: 6 Ni 3/20 (EP) Urteil
Tatbestand
1Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 440 676 (Streitpatents), welches am angemeldet wurde, die Priorität einer niederländischen Anmeldung vom in Anspruch nimmt und eine Hebevorrichtung betrifft. Patentanspruch 1, auf den neun weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:
Hoist device for persons comprising a hoist sling (105) and a lifting arm (103) to which a headed stud is attached for attaching the hoist sling to the lifting arm, wherein the head (20) has a larger diameter than the stud, and wherein the hoist sling comprises an attachment device (100) for attaching the hoist sling to the lifting arm, comprising a plate-shaped part (1) comprising:
- a continuous slot (2a, 2b) situated in a plane of the plate-shaped part (1) comprising a first portion (2a) through which the stud and its head (20) will pass, a second portion (2b) through which the stud will but the head (20) of the stud will not pass, and a connection portion between the first and second portion, and
- a locking device (6, 7) arranged to the plate-shaped part, characterised in that the locking device is movable parallel to the plane of the plate-shaped part, which locking device (6, 7) near a first end comprises a closing member (11) and near a second end comprises an operation member (12) that can be operated for bringing the locking device (6, 7) from a first position, in which the closing member (11) at least partially closes off the connection portion, to a second position, in which the closing member (11) has been slid out of the connection portion for clearing the connection portion for moving the stud from the second (2b) to the first (2a) portion in the slot, wherein the operation member (12) is situated near a side of the plate-shaped part (1) and wherein the operation member (12) is operable from the side of the plate-shaped part (1).
2Patentanspruch 11 schützt eine Befestigungsvorrichtung mit entsprechenden Merkmalen, Patentanspruch 12 eine Hebeschlinge mit einer Befestigungsvorrichtung nach Anspruch 11.
3Die Klägerin hat sich gegen die Ansprüche 1 bis 5, 7, 9, 11 und 12 gewendet und geltend gemacht, der angegriffene Gegenstand sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und mit sechs Hilfsanträgen verteidigt.
4Das Patentgericht hat das Streitpatent im beantragten Umfang für nichtig erklärt. Mit ihrer dagegen gerichteten Berufung verteidigt die Beklagte das Streitpatent mit einem neuen Hauptantrag, zwei neuen Hilfsanträgen, den erstinstanzlichen Hilfsanträgen 3 bis 5 und ergänzenden Modifizierungen.
Gründe
5Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
6I. Das Streitpatent betrifft eine Hebevorrichtung.
71. Die Beschreibung des Streitpatents führt aus, insbesondere bei Vorrichtungen zum Heben invalider Personen sei es wichtig, dass die Hebeschlinge nicht versehentlich geöffnet werden und sich nicht von der Hebevorrichtung lösen könne (Abs. 3).
8Die internationale Patentanmeldung 97/01319 (E1) schlage hierzu einen Bolzen mit einem größeren Kopf, einen schlüssellochartig geformten Schlitz und einen hinter dem eingeführten Bolzen hochstehenden, elastischen Abschnitt vor (Abs. 4). Dies sei nicht benutzerfreundlich, weil das elastische Element manuell eingedrückt und ein Teil der Vorrichtung darüber hinwegbewegt werden müsse. Deshalb könne die Befestigung im Notfall nicht schnell und einfach entriegelt werden. Zum anderen könne sich der Bediener beim Versuch, die Befestigung zu lösen, den Finger einklemmen (Abs. 6).
92. Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine Vorrichtung zur Verfügung zu stellen, die eine sichere Befestigung der Hebeschlinge ermöglicht, leicht bedienbar ist und die Gefahr des Einklemmens von Fingern reduziert.
103. Zur Lösung schlägt Patentanspruch 1 in der mit dem zweitinstanzlichen Hauptantrag verteidigten Fassung eine Hebevorrichtung vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen (Änderungen gegenüber der erteilten Fassung sind hervorgehoben):
124. Die Patentansprüche 11 und 12 sehen hinsichtlich der Befestigungsvorrichtung entsprechende Merkmale vor und unterliegen deshalb derselben Beurteilung.
135. Einige Merkmale bedürfen der Erläuterung.
14a) Die in Merkmalsgruppe 2 definierte Befestigungsvorrichtung besteht aus zwei Elementen, wie sie auch bei dem vom Streitpatent beschriebenen Stand der Technik eingesetzt werden.
15b) Von ausschlaggebender Bedeutung ist das in Merkmalsgruppe 3 spezifizierte Verriegelungselement.
16aa) Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 2 dargestellt. Die Figuren 5a bis 5c zeigen schematisch den Bewegungsablauf beim Verriegeln, Figur 6 den Beginn des Entriegelungsvorgangs.
17bb) Die in den Merkmalen 3.3 und 3.4 vorgesehene Anordnung eines Schließmittels (11) und eines Betätigungsmittels (12) in der Nähe von zwei unterschiedlichen Enden des Verriegelungselements ermöglicht eine Ausgestaltung, bei der die zur Betätigung eingesetzten Finger von gefahrenträchtigen Stellen ferngehalten werden können.
18Der Formulierung "in der Nähe" (near) ist zu entnehmen, dass beide Mittel nicht unmittelbar an den beiden Enden angeordnet sein müssen. Der damit eröffnete Spielraum wird, wie die Berufungserwiderung zutreffend geltend macht, nicht allein durch den absoluten oder relativen Abstand bestimmt, sondern durch die genannte Funktion. Das Schließ- und das Betätigungsmittel sind danach auch dann in der Nähe von zwei unterschiedlichen Enden des Verriegelungselements angeordnet, wenn sie so weit voneinander entfernt sind, dass die Finger von gefahrenträchtigen Stellen ferngehalten werden können.
19cc) Nach Merkmal 3.2 und dem gegenüber der erteilten Fassung modifizierten Merkmal 3.4.2 muss die Bewegung zum Öffnen der Verriegelung parallel zur Ebene des plattenförmigen Teils möglich sein.
20Damit sind Gestaltungen ausgeschlossen, bei denen das Betätigungsmittel von der genannten Ebene aus nach oben oder unten bewegt werden muss. Weitere Einzelheiten zur Bewegungsrichtung sind insoweit nicht festgelegt.
21dd) Die in den Merkmalen 3.4.3 und 3.4.4 normierten Vorgaben, wonach das Betätigungsmittel in der Nähe einer Seite des plattenförmigen Teils angeordnet ist und von der Seite des plattenförmigen Teils aus betätigt werden kann, ermöglichen es ebenfalls, die zur Betätigung eingesetzten Finger von gefährlichen Bereichen fernzuhalten.
22Der in Merkmal 3.4.3 verwendete Ausdruck "in der Nähe" lässt allerdings gewissen Spielraum hinsichtlich des Abstandes zwischen dem Betätigungsmittel und der Seitenkante des plattenförmigen Teils. Korrespondierend dazu lässt Merkmal 3.4.4 Spielraum hinsichtlich der Stelle, an der das Verriegelungselement betätigt werden kann.
23Damit sind auch Ausgestaltungen möglich, bei denen das Betätigungsmittel in seiner Ausgangs- oder Endstellung oberhalb des plattenförmigen Teils angeordnet ist.
24c) Merkmal 4 sieht eine selbstschließende Ausgestaltung des Verriegelungselements vor, und zwar dergestalt, dass in geschlossenem Zustand der Verbindungsbereich zwischen dem schmaleren und dem breiteren Teilbereich des Schlitzes versperrt ist.
25II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
26Sowohl der Gegenstand der erteilten Fassung als auch die mit den Hilfsanträgen verteidigten Gegenstände seien ausgehend von der deutschen Offenlegungsschrift 36 43 612 (D6) naheliegend. D6 offenbare zwar kein Verriegelungselement. Ein Verriegelungselement mit den Merkmalen des Streitpatents sei aber in der französischen Patentanmeldung 2 812 555 (D1) und dem US-Patent 3 456 981 (D9) vorweggenommen. Der Fachmann, ein Ingenieur des allgemeinen Maschinenbaus mit Kenntnissen im Bereich von Hebevorrichtungen für Personen und zugehörigen Teilen, habe Anlass gehabt, diesen gattungsfremden Stand der Technik hinzuzuziehen.
27III. Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Berufungsverfahren stand.
281. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung ist die Beklagte mit der Verteidigung des Streitpatents in den gegenüber der ersten Instanz geänderten Anspruchsfassungen nicht präkludiert.
29Nach der Rechtsprechung des Senats ist die erstmals in der Berufungsinstanz geltend gemachte Verteidigung eines Patents in geänderter Fassung in der Regel gemäß § 116 Abs. 2 PatG zulässig, wenn sich der neue Antrag von einem bereits in erster Instanz gestellten Antrag nur dadurch unterscheidet, dass einzelne der zur erteilten Fassung hinzutretenden Merkmale gestrichen worden sind. Ausschlaggebend hierfür ist, dass ein solcher Antrag in der Regel aufgrund des Sachverhalts beurteilt werden kann, der bereits in erster Instanz zur Entscheidung anstand und der deshalb gemäß § 117 PatG und § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch der Berufungsentscheidung zugrunde zu legen ist (Urteil vom - X ZR 96/18, GRUR 2020, 1284 Rn. 77 f. - Datenpaketumwandlung).
30Der zweitinstanzliche Hauptantrag der Beklagten unterscheidet sich von ihrem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1 lediglich durch den Wegfall einzelner Merkmale. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung weist der Streitfall keine Besonderheiten auf, die der Berücksichtigung dieses Antrags dennoch entgegenstünden.
31Die Frage, ob den gestrichenen Merkmalen wesentliche Bedeutung zukommt, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidungserheblich. Selbst wenn sie zu bejahen ist, steht dies einer Beurteilung des Antrags auf der Grundlage des nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu berücksichtigenden Sachverhalts nicht entgegen.
322. Zu Recht ist das Patentgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der mit dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1 verteidigte Gegenstand durch D6 und D9 nahegelegt ist. Deshalb kann der zweitinstanzliche Hauptantrag - der weniger Merkmale vorsieht - ebenfalls keinen Erfolg haben.
33a) D6 offenbart eine Hebevorrichtung für Personen mit einer Befestigungsvorrichtung für eine Hebeschlinge.
34Die Befestigungsvorrichtung besteht aus einem plattenförmigen Teil mit einem schlüssellochartig geformten Schlitz und einem Bolzen, dessen Kopf einen größeren Durchmesser aufweist als sein Hals.
35b) Damit sind die Merkmalsgruppen 1 und 2 offenbart, nicht aber die Merkmalsgruppen 3 und 4.
36Eine Verriegelungsvorrichtung ist in D6 nicht vorgesehen.
37c) Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass eine Verriegelungsvorrichtung nach den Merkmalsgruppen 3 und 4 ausgehend von D6 durch D9 nahegelegt war.
38aa) D9 betrifft eine Vorrichtung zum gemeinsamen Befestigen eines Schultergurts und eines Beckengurts für ein Kraftfahrzeug.
39Ein Ausführungsbeispiel ist in den nachfolgend wiedergegebenen Figuren 1 bis 4 dargestellt.
40Die beiden Abschnitte (16, 18) des Beckengurts können mit einem herkömmlichen Gurtschlossmechanismus (24) miteinander verbunden werden. Auf der zu diesem Mechanismus gehörenden Eingriffsplatte (26) ist ein Verriegelungsstift (32) mit einem vergrößerten Kopf montiert. Am Ende des Schultergurts (22) ist eine Kupplungsplatte (34) angebracht. Diese weist eine Aufnahmeöffnung (36) auf, die einen größeren Durchmesser hat als der Kopf des Stifts (32). Ein Schlitz (38) erstreckt sich von der Öffnung (36) weg. Die Breite dieses Schlitzes ist kleiner als der Durchmesser des Kopfs des Stifts (32) (Abs. 4 Z. 1-32).
41Angrenzend an die Öffnung (36) sind zwei Rückhalteelemente (40, 42) schwenkbar an der Kupplungsplatte (34) angebracht. Sie weisen jeweils einen ausgeschnittenen Abschnitt (44) auf, der so angeordnet ist, dass er sich beim Verschwenken der Elemente zum Hals des Stifts hin bzw. von diesem weg bewegen kann. Eine Feder (46) spannt die Abschnitte (44) aufeinander zu. Durch Fingerdruck auf dafür vorgesehene Bereiche (48) können die Abschnitte (44) voneinander getrennt werden (Abs. 4 Z. 33-46).
42Normalerweise steht die Kupplungsplatte (34) mit der Platte (26) in Eingriff. Hierbei wird der Stift (32) von der Öffnung (36) aufgenommen und darin durch die Rückhalteelemente (40, 42) gehalten. Wenn der Schultergurt (22) eine Rückhaltekraft auf den Körper (14) ausübt, wird die Kupplungsplatte (34) von der Eingriffsplatte (26) wegbewegt, so dass der Stift (32) von dem Schlitz (38) aufgenommen und von den Rückhalteelementen (40, 42) freigegeben wird. Wenn der Stift die Länge des Schlitzes (38) abfährt, bewegt er sich in Anschlag mit dem Ende des Schlitzes, um eine nicht nachgiebige Zugverbindung herzustellen. Wenn keine Zugkraft auf den Schultergurt (22) wirkt, können die Kupplungsplatten (34, 26) mittels manueller Betätigung der Rückhalteelemente leicht getrennt werden (Sp. 4 Z. 47-70).
43Das in Figur 4 dargestellte Ausführungsbeispiel weist zusätzlich ein deformierbares Verbrauchselement (expendable element 50) auf, das fest an der Kupplungsplatte (34) montiert ist und den Schlitz (38) überlappt. Dieses Element stellt Mittel zum Absorbieren der kinetischen Energie des Körpers (14) bereit, wenn dieser plötzlich aus der normalen Sitzposition nach vorne verschoben wird. Es kann leicht und einfach ausgetauscht werden, weil es mittels eines Gewindes angebracht ist (Sp. 4 Z. 71 bis Sp. 5 Z. 25).
44bb) Damit sind, wie auch die Berufung nicht in Zweifel zieht, die Merkmalsgruppe 2 und die Merkmale 3 bis 3.4.3 offenbart.
45cc) Entgegen der Auffassung der Berufung ist auch Merkmal 3.4.4 offenbart.
46Wie die Berufung im Ansatz zutreffend geltend macht, schließen die für die Betätigung vorgesehenen Abschnitte (48) bei dem in Figur 3 dargestellten Ausführungsbeispiel in Ruhestellung allerdings bündig mit der Außenkante der Platte (26) ab, so dass sie zum Öffnen der beiden Rückhalteelemente (40, 42) oberhalb der Platte (26) verschwenkt werden müssen.
47Oben ist bereits dargelegt worden, dass dies einer Verwirklichung von Merkmal 3.4.4 nicht entgegensteht. Nach Merkmal 3.4.3 reicht es aus, dass die Betätigungsmittel in der Nähe der Seite des plattenförmigen Elements angeordnet sind. Diese Anforderung ist auch dann erfüllt, wenn sich die Betätigungsmittel an der Oberseite der Platte befinden, sofern sie nur hinreichende Nähe zu deren Seite aufweisen.
48Diesen Anforderungen genügt die in D9 offenbarte Ausgestaltung. Die bündig abschließenden Betätigungselemente befinden sich in denkbar geringem Abstand zu den beiden Seiten der Platte (26) und sind deshalb in deren Nähe angeordnet, wie dies Merkmal 3.4.3 vorsieht. Um sie zu betätigen, muss Druck von der Seite her ausgeübt werden. Dies verwirklicht die Vorgabe aus Merkmal 3.4.4.
49dd) Zu Recht macht die Berufung hingegen geltend, dass Merkmal 4 in D9 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart ist.
50(1) Wie auch das Patentgericht nicht verkannt hat, wird der Bolzen (32) im Normalbetrieb von den beiden Ausnehmungen (44) der beiden Rückhalteelemente (40, 42) gehalten.
51In diesem Zustand ist der Übergang zwischen dem schmalen und dem breiten Teil des Schlitzes (38) nicht durch hinter dem Bolzen in Kontakt stehende Rückhalteelemente (40, 42) versperrt. Einer Bewegung des Bolzens zurück in den weiteren Bereich des schlüssellochartigen Schlitzes steht nur die Kraft der Federn entgegen.
52(2) Wie das Patentgericht ebenfalls zutreffend und insoweit unbeanstandet angenommen hat, kann der Bolzen (32) bei einer Zugbelastung des Schultergurts in den schmalen Teil des Schlitzes (38) hineingleiten, und zwar bis zum Anschlag an der Stirnseite des Schlitzes.
53Zu Beginn dieser Bewegung müssen sich die beiden Rückhalteelemente (40, 42) ein Stück weit öffnen. Ob sich der Bolzen so weit bewegen kann, dass sich die Rückhalteelemente hinter ihm schließen und die Verbindung zum breiteren Teil des Schlitzes versperren können, ist in D9 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart.
54Die Darstellungen in den Figuren 2 bis 4 erlauben insoweit keine eindeutige Schlussfolgerung in die eine oder die andere Richtung. Die Figuren enthalten nur eine schematische Darstellung, die nicht den Schluss zulässt, dass es sich um maßstabsgerechte Zeichnungen handelt. Vor diesem Hintergrund kann aus den dargestellten Abmessungen der Rückhalteelemente, des Schlitzes und des Bolzens weder die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich die Rückhalteelemente hinter dem Bolzen schließen können, noch der Gegenschluss, dass der Bolzen stets von einzelnen Abschnitten der Rückhalteelemente umgeben ist.
55Den Ausführungen in der Beschreibung, wonach es einer manuellen Betätigung der Rückhalteelemente (40, 42) durch Fingerdruck auf die dafür vorgesehenen Bereiche (48) bedarf, um die beiden zur Vorrichtung gehörigen Platten (26, 34) voneinander zu lösen, nachdem der Bolzen durch Zugkraft aus seiner ursprünglichen Position heraus an das Ende des schmalen Schlitzbereichs gezogen worden ist (D9 S. 4 Z. 64 ff.), lässt sich nicht entnehmen, ob sich der Bolzen bei der Entnahme noch in dem schmalen Endbereich des Schlitzes befindet oder wieder in seine Ursprungsposition in den Ausnehmungen der Rückhalteelemente zurückgekehrt ist. Diese Ausführungen lassen auch nicht erkennen, ob die Rückhalteelemente den Bolzen freigeben und hinter ihm verriegeln können. Angesichts dessen bleibt unklar, ob die manuelle Betätigung der Rückhalteelemente lediglich der Freigabe des Bolzens aus den Ausnehmungen in vertikaler Richtung dient oder zusätzlich auch der Freigabe in horizontaler Richtung.
56Aus der in der Beschreibung dargestellten Funktion der Verbindung lassen sich keine weitergehenden Schlussfolgerungen ziehen. Grund hierfür ist insbesondere, dass nicht eindeutig erkennbar ist, ob die Zugkräfte, die zu der geschilderten Bewegung des Bolzens führen, während des üblichen Fahrbetriebs oder nur bei ungewöhnlich großen Beschleunigungswerten auftreten. Im zuerst genannten Fall könnte es zu unerwünschten Komforteinbußen führen, wenn der Bolzen nur bei manueller Entriegelung wieder in die Normalposition zurückkehren könnte. Im zweiten Fall könnte eine zusätzliche Verriegelung aus Sicherheitsgründen vorteilhaft erscheinen. Die Erläuterungen zu der in Figur 4 dargestellten Ausführungsform mögen zwar dafür sprechen, dass es dort vorwiegend um Unfallsituationen geht. Ob dasselbe auch für die in Figur 2 dargestellten Grundform ohne verformbares Element (50) gilt, ist der Beschreibung von D9 aber ebenfalls nicht eindeutig zu entnehmen.
57ee) Vor dem aufgezeigten Hintergrund lag eine Selbstverriegelung im Sinne von Merkmal 4 jedoch nahe.
58Der Umstand, dass D9 nicht erkennen lässt, ob sich die Verriegelungselemente (40, 42) hinter dem Bolzen (32) schließen können, gab Anlass, die für die Beantwortung dieser Frage maßgeblichen Gesichtspunkte zu identifizieren. Dies führte zu der Erkenntnis, dass beide Ausgestaltungen möglich sind und dass die eine zu einer nur manuell lösbaren Verriegelung, die andere zu einer permanenten Beweglichkeit des Bolzens in beiden Richtungen führt. Ausgehend davon lag es nahe, je nach dem gewünschten Einsatzzweck die eine oder die andere Ausgestaltung zu wählen.
59Für eine Hebevorrichtung für Personen bot sich danach eine selbstverriegelnde Ausführung an, weil hier die möglichst sichere Verbindung im Vordergrund steht.
60d) Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass ausgehend von D6 Anlass bestand, auch Befestigungsvorrichtungen in die Betrachtung einzubeziehen, die nicht für Hebevorrichtungen vorgesehen sind.
61In welchem Umfang Wissen aus einem anderen oder übergeordneten technischen Gebiet zu berücksichtigen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Maßgeblich ist, ob vom Fachmann erwartet werden kann, dass er sich für die Lösung eines Problems auch auf einem anderen technischen Gebiet umsieht (, Rn. 27; vgl. , GRUR 2010, 992 Rn. 33 - Ziehmaschinenzugeinheit II).
62Im Streitfall bestand Anlass, bei der Weiterentwicklung von Befestigungsvorrichtungen für Hebevorrichtungen auch Befestigungsvorrichtungen Kfz-Sicherheitsgurte in Betracht zu ziehen, weil sowohl die Gurte als auch deren Befestigung im Wesentlichen dieselbe Funktion erfüllen.
63Die sich ausgehend von D6 ergebende Aufgabe, die Hebeschlinge möglichst sicher mit dem Gegenstück zu verbinden, stellt sich nicht nur bei Hebevorrichtungen, sondern grundsätzlich bei jeder Vorrichtung, in der ein gurtartiges Teil, das große Kräfte aufnehmen muss, sicher, aber lösbar mit einem Gegenstück verbunden werden muss. Ausgehend davon bestand Anlass, unabhängig vom konkreten Einsatzzweck nach Verbindungen zu suchen, die diesen Anforderungen genügen.
64Zu den Entgegenhaltungen, deren Heranziehung danach nahelag, gehört D9 schon deshalb, weil es ebenfalls um die Sicherung von Personen geht. Das in D9 offenbarte Gurtsystem mag angesichts der seit langem üblichen Dreipunkt-Automatik-Gurte am Prioritätstag des Streitpatents veraltet gewesen sein. Dennoch war D9 weiterhin relevant, weil D6 ein Haltesystem vergleichbarer Art zeigt.
65Dass in D9 die Verbindung zwischen Schulter- und Beckengurt im Mittelpunkt steht und eine spezielle Ausführung mit zusätzlicher Energieabsorption bevorzugt wird, steht einer Kombination mit D6 nicht entgegen. Insoweit handelt es sich erkennbar um abgrenzbare zusätzliche Funktionen, deren Verwirklichung nicht zwingend ist und die keinen zwingenden Zusammenhang mit der ausgehend von D6 im Mittelpunkt des Interesses stehenden Ausgestaltung der Befestigungsvorrichtung aufweisen.
663. Hinsichtlich der Hilfsanträge ergibt sich keine abweichende Beurteilung.
67a) Hilfsantrag 1 führt zu keiner erheblichen Beschränkung des geschützten Gegenstands.
68aa) Nach Hilfsantrag 1 soll Merkmalsgruppe 4 um folgendes (schon im erstinstanzlichen Hilfsantrag 1 vorgesehene) Merkmal ergänzt werden:
70bb) Damit wird die in Merkmal 4 vorgesehene Selbstschließ-Funktion näher charakterisiert.
71Auch mit dieser Konkretisierung ist die Funktion aus den oben angeführten Gründen durch D9 nahegelegt. Die oben wiedergegebenen Figuren der D9 zeigen ungeachtet der nur schematischen Darstellung eine Ausformung der Rückhalteelemente, die Merkmal 4.1 verwirklicht.
72b) Die nach Hilfsantrag 2 vorgesehene Ergänzung hat das Patentgericht zutreffend als durch D9 offenbart angesehen.
73Nach Hilfsantrag 2 soll das Verriegelungselement permanent an dem plattenförmigen Teil befestigt sein. Dies kann, wie die Berufung unter Bezugnahme auf die Beschreibung zutreffend ausführt, auch mittels einer Schraubverbindung geschehen.
74Eine Schraubverbindung ist nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Patentgerichts in D9 in Figur 2 offenbart. Unabhängig davon kommt der Frage, ob das Verriegelungselement permanent oder nur vorübergehend befestigt ist, keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Maßgeblich ist, ob die Verbindung die bei Belastung auftretenden Kräfte aufnehmen kann. Insoweit bietet eine permanente Verbindung für sich gesehen keine Vorteile.
75c) Der mit Hilfsantrag 3 verteidigte Gegenstand ist ebenfalls nicht patentfähig.
76aa) Nach Hilfsantrag 3 soll Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag 2 um folgende Merkmale ergänzt werden:
78bb) Entgegen der Auffassung der Berufung ist Merkmal 4.1a schon dann verwirklicht, wenn das Betätigungsmittel bei der in diesem Merkmal vorgesehenen Bewegung des Bolzens nicht betätigt werden muss. Es schadet mithin nicht, wenn eine Betätigung in einem vorangehenden Schritt erforderlich ist.
79cc) Vor diesem Hintergrund sind die Merkmale 4.1a und 4.1b in D9 offenbart.
80Wie auch die Berufung nicht verkennt, kann sich der Bolzen bei der in D9 offenbarten Vorrichtung vom weiteren in den engeren Bereich des Schlitzes bewegen, ohne dass das Verriegelungselement betätigt werden muss. Dies reicht zur Offenbarung von Merkmal 4.1a aus. Ob dieses beim Aufstecken des Verriegelungselements auf die Grundplatte betätigt werden muss, ist demgegenüber unerheblich.
81d) Für Hilfsantrag 4 gilt nichts anderes.
82aa) Nach Hilfsantrag 4 soll Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag 3 wie folgt ergänzt werden:
84bb) Eine solche Ausgestaltung ist, wie das Patentgericht zutreffend und unangegriffen ausgeführt hat, in D9 offenbart.
85e) Zu Recht hat das Patentgericht auch den mit Hilfsantrag 5 verteidigten Gegenstand als nicht patentfähig angesehen.
86aa) Nach Hilfsantrag 5 soll Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag 4 wie folgt ergänzt werden:
88bb) Ob sich aus der Pluralform "Öffnungen" zwingend ergibt, dass das plattenförmige Teil an beiden Enden mit Öffnungen für die Befestigung der Hebeschlinge versehen sein muss, oder ob es sich insoweit um einen generischen Plural handelt, kann offenbleiben. Eine Ausgestaltung mit zwei gegenüberliegenden Öffnungen ist bereits in D6 offenbart.
894. Die in den Hilfsanträgen der zweiten und dritten Stufe vorgesehene Streichung einzelner Merkmale aus den Hilfsanträgen 1 bis 5 vermag nicht zur Bejahung der Patentfähigkeit zu führen.
905. Der weitere Hilfsantrag ist für den Fall gestellt, dass sich nur einzelne Patentansprüche als nicht rechtsbeständig erweisen. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.
91IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:180723UXZR60.21.0
Fundstelle(n):
LAAAJ-46843