Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Recht auf den gesetzlichen Richter - vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts - Übertragung der Berufung auf den Berichterstatter - fehlender Übertragungsbeschluss - Heilung durch rügelose Einlassung
Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 33 Abs 1 S 1 SGG, § 153 Abs 1 SGG, § 153 Abs 5 SGG, § 142 Abs 1 SGG, § 134 SGG, § 133 S 1 SGG, § 133 S 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 295 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG
Instanzenzug: SG Frankfurt (Oder) Az: S 17 AS 592/16 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 3 AS 392/20 Urteil
Gründe
1Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist zulässig und begründet (dazu 1.), diejenige des Klägers zu 1 ist jedenfalls unbegründet (dazu 2.). Der Antrag der Kläger auf erneute Beiordnung eines anwaltlichen Bevollmächtigten hat keinen Erfolg (dazu 3.).
21. Das beruht, soweit es gegenüber der Klägerin zu 2 ergangen ist, auf einem von dieser hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das LSG hat den Anspruch der Klägerin zu 2 auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) verletzt, weil die Berichterstatterin zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entschieden hat, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür insofern nicht vorlagen.
3Gesetzlicher Richter für die Entscheidung von Verfahren vor dem LSG ist grundsätzlich ein Senat in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG). Hiervon macht ua § 153 Abs 5 SGG (eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom , BGBl I 444) eine Ausnahme. Danach kann das LSG die Berufung in den Fällen einer Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) durch Beschluss der berufsrichterlichen Mitglieder des Senats dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet. Das erfordert jedoch einen schriftlich abzufassenden und der Geschäftsstelle zu übergebenden Beschluss (§ 142 Abs 1 und § 134 SGG), der der Zustellung an die Beteiligten (§ 142 Abs 1 und § 133 Satz 2 SGG) bedarf ( - SozR 4-1500 § 153 Nr 8 RdNr 7; - juris RdNr 5 mwN). Daran fehlt es hier zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, weil der Übertragungsbeschluss vom der Klägerin zu 2 nicht zugestellt worden ist. Dieser Übertragungsbeschluss ist lediglich dem Kläger zu 1 zugestellt worden. Sind mehrere Personen am Verfahren beteiligt, muss jedoch jedem von ihnen zugestellt werden. Dies gilt auch für die Zustellung an Ehegatten, sofern nicht einer den anderen bevollmächtigt hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 63 RdNr 4a; Senger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 63 RdNr 15). Letzteres ist hier nicht der Fall.
4Es kann dahinstehen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zustellungsmangel nach § 63 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 189 ZPO hätte geheilt werden können. Denn es lässt sich im vorliegenden Fall nicht feststellen, dass der Klägerin zu 2 der Übertragungsbeschluss tatsächlich selbst zugegangen ist.
5Der Verfahrensmangel ist auch nicht durch rügelose Einlassung (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 295 ZPO) geheilt; dies gilt bereits deswegen, weil die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts zu den nicht verzichtbaren Voraussetzungen eines ordnungsgemäßen Verfahrens (§ 295 Abs 2 ZPO) gehört ( - SozR 4-1500 § 153 Nr 8 RdNr 8; - juris RdNr 6; etwas anderes gilt bei der Heilung einer fehlenden Anhörung vor Erlass des Übertragungsbeschlusses durch rügelose Einlassung zur Sache in der mündlichen Verhandlung: BH - juris RdNr 23).
6Zuständig für die Entscheidung über die Berufung der Klägerin zu 2 war danach das LSG noch in voller Senatsbesetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern sowie zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG). Dies betrifft das von Verfassungs wegen nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter in seiner einfachrechtlichen Ausprägung (stRspr; vgl nur B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 14 mwN; - juris RdNr 7). Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts stellt gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO einen absoluten Revisionsgrund dar. Konsequenz daraus ist, dass zum Beruhenszusammenhang nicht vorgetragen werden muss. Aufgrund dessen ist das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG insoweit aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
72. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zu 1 ist hingegen jedenfalls unbegründet. Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen nicht vor.
8a) Auf die fehlende Zustellung des Übertragungsbeschlusses vom an die Klägerin zu 2 kann sich der Kläger zu 1 nicht berufen. Ihm selbst gegenüber ist dieser Übertragungsbeschluss am zugestellt und damit wirksam geworden.
9b) Auch die Rüge, das LSG habe das ihm nach § 153 Abs 5 SGG zustehende und zugleich obliegende Ermessen fehlerhaft ausgeübt, ist unbegründet.
10Ob das Berufungsgericht nach § 153 Abs 5 SGG entscheidet, steht in seinem nur durch das Willkürverbot (Art 3 Abs 1 GG), also das Verbot sachfremder Erwägungen und grober Fehleinschätzungen, begrenzten Ermessen ( - SozR 4-4300 § 144 Nr 27 RdNr 13; BH - juris RdNr 6; - SozR 4-2600 § 236b Nr 1 RdNr 10). Anders als § 105 Abs 1 Satz 1 SGG und § 6 Abs 1 Satz 1 VwGO enthält § 153 Abs 5 SGG keine Anforderungen an den Umfang oder Schwierigkeitsgrad des Verfahrens ( - SozR 4-4300 § 144 Nr 27 RdNr 12; BH - juris RdNr 6; - SozR 4-2600 § 236b Nr 1 RdNr 10). Es ist deshalb für eine Übertragung auf den Berichterstatter auch nicht erforderlich, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat ( - BSGE 121, 55 = SozR 4-4200 § 43 Nr 1, RdNr 13; - SozR 4-1500 § 153 Nr 16 RdNr 14; - SozR 4-4300 § 144 Nr 27 RdNr 12; - SozR 4-2600 § 236b Nr 1 RdNr 10). Das LSG hat auch nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in erster Instanz vorgelegen haben ( - SozR 4-1500 § 153 Nr 16 RdNr 13; - SozR 4-4300 § 144 Nr 27 RdNr 12; BH - juris RdNr 6; - SozR 4-2600 § 236b Nr 1 RdNr 10). Der Übertragungsbeschluss muss nicht begründet werden ( - juris RdNr 8).
11Ausgehend von diesen Maßstäben ist unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers zu 1 ein Ermessensfehler des LSG nicht ersichtlich. Insbesondere folgt kein Ermessensfehler daraus, dass der Kläger zu 1 der Übertragung des Rechtsstreits auf den kleinen Senat widersprochen hat. Die Rechtmäßigkeit der Übertragung ist nicht von der Zustimmung der Beteiligten abhängig ( - juris RdNr 8). Die Begründung des Klägers zu 1 für die Ablehnung der Übertragung - er sei Opfer eines Staatsverbrechens und er schwebe aufgrund einer Manipulation seiner Gasheizungsanlage in Lebensgefahr - stützen sich auf unsubstantiierte und fernliegende Behauptungen, die das LSG bei seiner Ermessensausübung nicht zu Lasten des Entschlusses, den Rechtsstreit auf den kleinen Senat zu übertragen, berücksichtigen musste. Dies gilt auch in Bezug auf das nach Erlass des Übertragungsbeschlusses erfolgte Vorbringen des Klägers zu 1. Soweit der Kläger zu 1 eine mangelnde Rückübertragung auf den Gesamtsenat rügt und die Anwendbarkeit des § 526 Abs 2 Satz 1 Nr 2 ZPO (gemeint: § 526 Abs 2 Satz 1 Nr 1 ZPO) behauptet, fehlt es im Übrigen bereits an der Darlegung, weswegen er sich hierauf trotz der Regelung des § 526 Abs 3 ZPO berufen können soll.
12c) Soweit der Kläger zu 1 schließlich rügt, das LSG habe seinen Terminverlegungsantrag zu Unrecht abgelehnt, dringt er damit ebenfalls nicht durch. Dass das LSG zugunsten des Klägers zu 1 Maßnahmen vergleichbar einem "Zeugenschutz" hätte ergreifen müssen, um ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu ermöglichen, weil die Kläger "Opfer eines Staatsverbrechens" seien und ihnen ein "Mordanschlag" drohe, oder aus diesen Gründen die mündliche Verhandlung hätte verlegen müssen, ist fernliegend (so bereits Senatsbeschlüsse vom - B 4 AS 177/22 BH, B 4 AS 178/22 BH - juris RdNr 4 und vom - B 4 AS 218/22 BH, B 4 AS 219/22 BH - juris RdNr 3).
133. Die Kläger haben nach Aufhebung der Beiordnung ihrer früheren Anwältin keinen Anspruch auf Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts; ein solcher Anspruch stand ihnen auch bei Eingang ihres diesbezüglichen Antrags am nicht zu.
14Eine solche Beiordnung eines weiteren Anwalts findet nur statt, wenn ein Grund vorliegt, der auch eine auf eigene Kosten prozessierende Partei zu einem Anwaltswechsel veranlasst hätte ( B 10 ÜG 25/16 B - juris RdNr 22 - auch zum Folgenden). Ein Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts scheidet dagegen insbesondere aus, wenn die Partei das Vertrauensverhältnis zu dem beigeordneten Rechtsanwalt ohne sachlichen Grund mutwillig zerstört hat. Letzteres ist hier der Fall, weil die Kläger ihrer beigeordneten Rechtsanwältin wiederholt sachfremde Vorgaben und unhaltbare Vorwürfe, unter anderem den der "Täuschung" und des "Betrugs" gemacht haben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:060623BB4AS13322B0
Fundstelle(n):
PAAAJ-46123