Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Versäumung der Begründungsfrist - Beweiswirkung des (elektronischen) Empfangsbekenntnisses des Rechtsanwalts - Gegenbeweis der Unrichtigkeit des angegebenen Zustellungsdatums
Gesetze: § 160a Abs 2 S 1 SGG, § 63 Abs 1 S 1 SGG, § 63 Abs 2 SGG, § 173 Abs 3 ZPO
Instanzenzug: SG Reutlingen Az: S 10 AS 1163/20 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 2 AS 2563/22 Beschluss
Gründe
1I. Der Kläger hat gegen die Nichtzulassung der Revision in der vorgenannten Entscheidung beim BSG mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten (§ 73 Abs 4 SGG) vom , das am selben Tag beim BSG eingegangen ist, Beschwerde eingelegt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat durch (elektronisches) Empfangsbekenntnis bestätigt, den angegriffenen Beschluss am als elektronisches Dokument erhalten zu haben. In der Beschwerdeschrift heißt es dementsprechend, die Zustellung sei am erfolgt.
2Mit Schreiben vom (Montag) hat der Prozessbevollmächtigte Fristverlängerung für die Begründung der Beschwerde bis zum beantragt. Das Zustellungsdatum im Empfangsbekenntnis sei falsch. Er sei bis im Urlaub gewesen. Die Zustellung sei erst am erfolgt. Er habe fälschlicherweise das Datum angegeben.
3Mit Vorsitzendenschreiben vom hat das BSG den Kläger darauf hingewiesen, dass eine Fristverlängerung nicht in Betracht komme. Die Beschwerdebegründungfrist sei am abgelaufen.
4Mit Schreiben vom und hat der Kläger erklärt, das Beschwerdeverfahren fortführen zu wollen, die Beschwerde begründet und hilfsweise einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Beigefügt war ein Auszug aus dem Fristenkalender seines Prozessbevollmächtigten, in dem als Rechtsmittelfrist das Datum "" und als (verlängerte) Beschwerdebegründungsfrist das Datum "" eingetragen sind.
5II. Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen, weil sie von dem Prozessbevollmächtigten nicht innerhalb der bis zum laufenden Frist begründet worden ist (§ 160a Abs 2 SGG) und die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) nicht erfüllt sind.
6Durch das vorliegende Empfangsbekenntnis ist bewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Beschluss des LSG am entgegengenommen hat. Das datierte und unterschriebene Empfangsbekenntnis erbringt als öffentliche Urkunde Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist nur geführt, wenn die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind (vgl zur Beweiswirkung des Empfangsbekenntnisses nur - RdNr 12 mwN aus der Rspr der obersten Gerichtshöfe des Bundes). Die Zustellung der angegriffenen Entscheidung erfolgte vorliegend gegen (elektronisches) Empfangsbekenntnis (§ 63 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGG iVm § 173 Abs 3 ZPO). Wie das herkömmliche papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt auch das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (§ 63 Abs 2 Satz 2 SGG iVm § 173 Abs 3 Satz 1 ZPO; vgl zum elektronischen Empfangsbekenntnis 9 B 2.22 - NJW 2023, 703; H. Müller in Ory/Weth, jurisPK-ERV, 2. Aufl 2022, § 160a SGG RdNr 111 ff).
7Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis enthaltenen Datums ist nicht erbracht. Es kann dahinstehen, wie der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers, er habe versehentlich ein falsches Datum "angegeben", vor dem Hintergrund der technischen Grundlagen eines elektronische Empfangsbekenntnisses (hierzu H. Müller in Ory/Weth, jurisPK-ERV, 2. Aufl 2022, § 160a SGG RdNr 109 f) zu verstehen ist. Allein durch die Angabe, der Prozessbevollmächtigte habe die Entscheidung erst "einen Tag nach seiner Urlaubsrückkehr" am zur Kenntnis genommen und durch die Bezugnahme auf den Fristenkalender, in dem Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist ausgehend vom Zustelldatum eingetragen waren, hat der Kläger die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung nicht entkräftet, weil nicht jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind.
8Soweit der Kläger hilfsweise für den Fall, dass seinem Prozessbevollmächtigten die angegriffene Entscheidung am zugestellt worden ist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Beschwerde beantragt hat, ist dieser Antrag abzulehnen. Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) sind nicht erfüllt. Anhaltspunkte für eine schuldlose Versäumung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht ersichtlich. Das Verschulden des Bevollmächtigten des Klägers ist dem Kläger als eigenes Verschulden zuzurechnen (§ 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO).
9Da die Nichtzulassungsbeschwerde nicht innerhalb der gesetzlichen Frist begründet worden und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren ist, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. Die Wahrung der Begründungsfrist ist Voraussetzung für eine Sachentscheidung des BSG (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 SGG). Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:300523BB7AS2123B0
Fundstelle(n):
MAAAJ-45687