(Anforderungen an Darstellung der Feststellungen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit; Gefährlichkeitsprognose vor dem Hintergrund tätlicher Angriffe gegen Polizeibeamte)
Gesetze: § 20 StGB, § 63 S 1 StGB, § 114 StGB
Instanzenzug: LG München I Az: 3 KLs 258 Js 208032/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach Überleitung des Sicherungsverfahrens in das Strafverfahren (§ 416 Abs. 2 StPO) abgelehnt, den Angeklagten wegen Bedrohung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen sowie wegen Bedrohung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt sowie deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
I.
2Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
31. Der Angeklagte leidet seit 2009 unter einer paranoiden Schizophrenie, die von sozialem Rückzug begleitet ist. Er befand sich deshalb bis einschließlich September 2019 durchgängig in ambulanter Therapie. Auf eigenen Wunsch begab er sich infolge des Erlebens psychotischer Symptome (darunter Angstzustände und Panikgefühle) im Zeitraum zwischen den Jahren 2009 und 2012 viermal in stationäre psychiatrische Behandlung von jeweils zwei Wochen. Ab Mai 2019 verweigerte der Angeklagte die Einnahme der seit 2012 verordneten Depotmedikation; im November 2020 brach er die Behandlung vollends ab.
4Im Frühjahr 2021 kündigte der Angeklagte sein bis dahin in Vollzeit ausgeübtes Arbeitsverhältnis als Postbote, da er nicht bereit war, eine OP-Maske zu tragen. Zeitgleich brach er den Kontakt zu seiner Familie ab; denn er glaubte, seine Eltern würden ihm schädliche Substanzen in sein Essen mischen. Im Zusammenhang mit einem ebenfalls im Frühjahr 2021 wegen eines Parkverstoßes geführten Bußgeldverfahren wurde sein Bankkonto gepfändet, woraufhin die Wohnungsmiete nicht mehr vereinbarungsgemäß eingezogen werden konnte. Infolgedessen erging gegen den Angeklagten nach Kündigung des Wohnungsmietvertrages auf die Räumungsklage seines Vermieters im September 2021 ein Versäumnisurteil. Der Angeklagte, der die anstehende Räumung – wie bereits das vorangegangene Bußgeldverfahren – als Unrecht gegen seine Person empfand und der Meinung war, legale Schritte seien zwecklos, beschloss, seine Wohnung nicht freiwillig zu verlassen. Nach Ankündigung des Räumungstermins verwüstete er die Wohnung und heftete nach außen sichtbar einen Zettel an sein Küchenfenster, auf den er „Laufts ein Bitte" geschrieben hatte. Gegenüber einer Sozialarbeiterin äußerte er, es handele sich bei der Räumung um ein „Komplott“ gegen ihn.
5Am , dem Tag der Zwangsräumung, forderte der Gerichtsvollzieher, der polizeiliche Unterstützung hinzugezogen hatte, den Angeklagten auf, die Wohnungstür zu öffnen. Der Angeklagte kam dem jedoch nicht nach, sondern beschimpfte die Beamten. Er nahm außerdem einen Hammer in die Hand, mit dem er auf den Fußboden schlug und den er gegen Personen einsetzen wollte, sollten diese seine Wohnung betreten. Sodann bewaffnete er sich mit einer geladenen Schreckschusspistole und schrie durch die geschlossene Tür, er habe eine Waffe und es würde etwas passieren, wenn die Beamten in die Wohnung kämen. Die Polizeibeamten und der Gerichtsvollzieher nahmen diese Drohung ernst, zogen sich zurück und forderten ein Spezialeinsatzkommando an. Dieses stemmte, nachdem auch eine erneute Kontaktaufnahme zu dem Angeklagten gescheitert war, die von ihm verbarrikadierte Wohnungstür auf. Der Angeklagte befand sich zu diesem Zeitpunkt unmittelbar hinter der Wohnungstür und hielt einsatzwillig sowie -bereit den Hammer in seiner rechten und den Schreckschussrevolver in seiner linken Hand. Nachdem die Tür einen Spalt breit geöffnet war, streckte er die einer scharfen Waffe sehr ähnelnde Schreckschusswaffe heraus und zielte damit auf die vor der Tür positionierten SEK-Beamten. Zwei daraufhin von einem der Beamten abgegebene Schüsse auf den Arm des Angeklagten gingen fehl, führten aber dazu, dass dieser den Revolver zurückzog. Nachdem ihn die Schüsse verfehlt hatten, streckte er seinen Arm mit der Waffe erneut aus dem Türspalt hinaus und zielte auf das Gesicht eines SEK-Beamten. In der Folge schoss ein – akute Lebensgefahr befürchtender – SEK-Beamter erneut auf den Angeklagten und traf ihn am linken Arm. Danach gelang es den Beamten, die Wohnung zu räumen.
62. Das Landgericht hat sich – in Abweichung vom Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen – nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Unrechtseinsicht oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten trotz seiner Grunderkrankung krankheitsbedingt aufgehoben oder auch nur erheblich vermindert war (§§ 20, 21 StGB), und deshalb eine Unterbringung nach § 63 StGB abgelehnt. Die Anordnung der Maßregel scheide aber auch deswegen aus, weil der Angeklagte nicht gefährlich im Sinne von § 63 StGB sei. Bei den Anlasstaten handele es sich nicht um erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB; denn diese seien zum Nachteil von Personen begangen worden, die professionell mit derartigen Konfliktsituationen umzugehen hätten und dafür eigens geschult seien. Besondere Umstände gemäß § 63 Satz 2 StGB seien nicht gegeben. Es habe eine Ausnahmesituation für den Angeklagten bestanden, der letztlich niemanden verletzt habe und trotz seiner langjährigen Erkrankung nur einmal – und dabei von der Störung unbeeinflusst – bestraft worden sei.
II.
7Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.
81. Die Entscheidung des Landgerichts hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Urteil einen durchgreifenden Darstellungsmangel aufweist.
9Das Landgericht hat im Urteil nicht tragfähig begründet, aus welchen Gründen es dem psychiatrischen Sachverständigengutachten nicht darin gefolgt ist, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei zur Tatzeit im Sinne von § 20 StGB aufgehoben gewesen.
10Zwar ist das Tatgericht nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann (vgl. Rn. 14 und vom – 6 StR 151/20 Rn. 9). Will es aber eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht, ob das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen wurden. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf die das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. Rn. 55; vom – 1 StR 628/16 Rn. 7 und vom – 6 StR 151/20 Rn. 9; Beschlüsse vom – 3 StR 368/17 Rn. 11 und vom – 6 StR 146/23 Rn. 5). Eine solche lässt das Urteil hier vermissen.
11Das Landgericht hat seine Schuldfähigkeitsbeurteilung auf eigene Erkenntnisse und die vom Sachverständigen ermittelten Befundtatsachen gestützt, ohne im Einzelnen offenzulegen, worin letztere genau bestehen. Aus dem Gutachten des Sachverständigen hat es im Urteil nur einzelne „Hypothesen“ mitgeteilt. Um dem Revisionsgericht eine Nachprüfung zu ermöglichen, hätte es indes zunächst der Darlegung der Befundtatsachen bedurft, von denen der Sachverständige ausgegangen ist. Im Anschluss daran hätte das Landgericht dessen Schlüsse und Bewertungen mitteilen müssen und vor allem, zu welchen Ergebnissen der Sachverständige gekommen ist. Daran fehlt es weitgehend. Wie der Sachverständige die von ihm aufgestellten „Hypothesen“ im Ergebnis beurteilt hat, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen.
122. Die vom Landgericht angestellten Hilfserwägungen betreffend die Gefahrenprognose vermögen die Nichtanordnung der Maßregel gleichfalls nicht zu tragen. Ein durchgreifender Darstellungsmangel liegt – erneut – darin, dass sich das Landgericht nicht mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandergesetzt hat. Wie sich der Sachverständige zu der anzustellenden Gefahrenprognose verhalten hat, bleibt völlig offen (vgl. dazu etwa Rn. 18 f.).
133. Der Senat hebt die getroffenen Feststellungen insgesamt auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter sowohl zu den für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Anlasstaten bedeutsamen Umständen als auch zu sämtlichen prognoserelevanten Aspekten umfassende und in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.
III.
141. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird, naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen, Feststellungen dazu zu treffen haben, in welcher Weise sich die psychische Erkrankung des Angeklagten auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. dazu Rn. 13 mwN). Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis allein genügt nicht (vgl. dazu Rn. 21; Beschlüsse vom – 1 StR 389/12 Rn. 7; vom – 4 StR 78/16 Rn. 11; vom – 4 StR 443/18 Rn. 6; vom – 4 StR 140/19 Rn. 14 und vom – 6 StR 146/23 Rn. 5).
152. Die Gefährlichkeitsprognose wird es dabei auf den Zeitpunkt der neuen Entscheidung unter Berücksichtigung des aktuellen Behandlungszustandes zu beziehen haben.
16a) Die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist daran auszurichten, ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, was grundsätzlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden kann (vgl. Rn. 11; Beschluss vom – 4 StR 635/10 Rn. 11 mwN). Dabei können sich nähere Darlegungen erübrigen, wenn sich – wie in aller Regel bei Verbrechen oder Gewalt- und Aggressionsdelikten – eine schwere Störung des Rechtsfriedens bereits aus dem Gewicht des Straftatbestandes ergibt, mit dessen Verwirklichung gerechnet werden muss (vgl. Rn. 18; Beschlüsse vom – 1 StR 493/04 Rn. 7 und vom – 4 StR 635/10 Rn. 11). Dagegen wird die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen zu bejahen sein, wenn die zu erwartenden Delikte nicht zumindest den Bereich der mittleren Kriminalität erreichen (st. Rspr.; vgl. Rn. 17; Beschlüsse vom – 5 StR 412/18 Rn. 9 und vom – 1 StR 112/19 Rn. 4). Wichtige Gesichtspunkte bei der Einzelfallerörterung sind die vermutliche Häufigkeit neuerlicher Delikte und die Intensität der zu erwartenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen (vgl. Rn. 5, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27 und vom – 5 StR 99/19 Rn. 9).
17Nach Maßgabe dessen können auch tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte erhebliche Anlasstaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sein, was bereits die gesetzgeberische Wertung des § 114 StGB nahelegt (vgl. hierzu bereits Rn. 27 und Beschluss vom – 5 StR 464/22; vgl. auch Rn. 21 mwN [zur Erheblichkeit von Bedrohungen]). Zwar ist bei der Gewichtung von Bedrohungen und einfachen körperlichen Attacken gegen Polizeibeamte in den Blick zu nehmen, dass diese darin ausgebildet sind, professionell mit Konfliktsituationen umzugehen, und zumeist über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 565/16 Rn. 10 und vom – 5 StR 464/22). Dies bedeutet aber nicht, dass Polizeibeamte nicht zu den durch § 63 StGB geschützten potentiellen Opfern gehören würden und ihnen zugefügte körperliche Schäden allein aufgrund ihrer beruflichen Stellung weniger erheblich wären (). Die vorgenannte Einschränkung gilt vielmehr nur dann, wenn es sich um niederschwellig gelagerte Taten handelt, derer sich Polizeibeamte kraft ihrer Ausbildung ohne erhebliches Verletzungsrisiko erwehren können.
18b) Prognosegünstig wird die trotz langjährig bestehenden Krankheitsbildes bislang weitgehend ausgebliebene Delinquenz des Angeklagten sowie das bisherige Fehlen von symptomatischen Gewaltdelikten zu würdigen sein.
19c) Sollte das neue Tatgericht – trotz der prognosegünstigen Umstände – erneut die Voraussetzungen der Anordnung der Unterbringung bejahen, wird es jedenfalls in den Blick zu nehmen haben, dass die Anordnung der Unterbringung, gegebenenfalls mit geeigneten Weisungen, auch zur Bewährung ausgesetzt werden kann, was zu einer ordnungsgemäßen Medikamentierung des Angeklagten während dieser Zeit beitragen kann.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:120723U1STR106.23.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-45661