Strafverfahren wegen Betrugs: Mitteilungspflichten über Vorgespräche zur "Kammerpraxis"
Gesetze: § 202a StPO, § 212 StPO, § 243 Abs 4 StPO, § 257c StPO, § 263 StGB
Instanzenzug: LG Bochum Az: II-6 KLs 29/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
21. Der Angeklagte beanstandet zu Recht die Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO.
3a) Der Rüge liegt – soweit für die Entscheidung von Bedeutung – folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte verteidigte sich zunächst schweigend. In einer Sitzungspause am , dem zwanzigsten Hauptverhandlungstag, fand ein Gespräch zwischen dem Vorsitzenden der Strafkammer und den Verteidigern des Angeklagten statt. Einer der Verteidiger fragte den Vorsitzenden nach einer „Perspektive“ für den Angeklagten.
4aa) Nach dem Revisionsvorbringen erinnerte der Vorsitzende Richter die Verteidiger daraufhin an ein anderes Strafverfahren vor der Strafkammer, in dem es anfangs streitig gewesen sei, der von ihnen verteidigte dortige Angeklagte später aber ein Geständnis abgelegt habe, weil er wieder „an die frische Luft“ gewollt habe. Auf die Frage eines Verteidigers, ob dies auch hier möglich sei, erwiderte der Vorsitzende, nach dem derzeitigen Stand der Dinge komme eine Haftentlassung nicht in Betracht. Der Verteidiger solle aber nochmals mit seinem Mandanten sprechen, ob dieser sein Einlassungsverhalten beibehalten möchte.
5bb) Dem von der Revision geschilderten Gesprächsinhalt ist der Vorsitzende Richter in einer dienstlichen Erklärung entgegengetreten, wonach das Gespräch wie folgt ablief: Der nach einer „Perspektive“ fragende Verteidiger äußerte auf die Bitte des Vorsitzenden zu präzisieren, was hiermit gemeint sei, die Befürchtung, dass die Strafkammer womöglich selbst bei einer geständigen Einlassung eine so hohe Haftstrafe verhänge, dass eine Haftverschonung mit Urteilsverkündung ausgeschlossen sei. Er, der Verteidiger, wolle daher eruieren, ob man dem Angeklagten diesbezüglich eine Perspektive eröffnen könne. Der Vorsitzende entgegnete, dass es bei der Kammer keine starren Grenzen und Denkverbote gebe und sie bei der Haftfrage zu gegebener Zeit selbstverständlich alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen werde. Hieran schloss sich seine Bemerkung dahin an, dass der Verteidiger dies doch wissen müsse; sie hätten doch auch schon Verfahren miteinander gehabt, in denen die Strafkammer Haftbefehle trotz vergleichsweise hoher Haftstrafen außer Vollzug gesetzt habe. Der Verteidiger fragte nach, ob der Vorsitzende etwa das Verfahren gegen „Herrn F.“ meine. Der Vorsitzende bejahte dies mit den Worten „Ja, zum Beispiel. Ich denke, wir haben dasselbe Verfahren vor Augen“.
6Anschließend erklärte der Vorsitzende, dass dieser Hinweis keinesfalls als Andeutung verstanden werden dürfe, dass die Kammer aktuell eine Strafhöhe wie im Verfahren gegen „Herrn F.“ im Blick habe, und erst recht nicht angedeutet werden solle, dass bei Verhängung einer Haftstrafe in dieser Größenordnung eine Haftverschonung des Angeklagten in Aussicht gestellt oder gar zugesagt werden solle. Er, der Vorsitzende, habe lediglich die „Kammerpraxis“ betreffend den Umgang mit der Haftfrage bei Urteilsverkündung verdeutlichen wollen. Auf die Bemerkung des Verteidigers, dies sei ihm klar, er nehme aber zumindest wohlwollend zur Kenntnis, dass die Kammer eine Haftverschonung in dieser Sache eben nicht kategorisch ausschließe, erklärte der Vorsitzende abschließend erneut, dass sein Hinweis allgemeiner Art gewesen sei und insbesondere nicht dazu gedient habe, bezogen auf den konkreten Einzelfall Dinge in Aussicht zu stellen oder Zusagen zu machen.
7cc) Über diese Unterredung machte der Vorsitzende Richter in der Hauptverhandlung keine Mitteilung. Am kam mehrere Hauptverhandlungstage später eine Verständigung gemäß § 257c StPO zustande, die sich nicht auf die Haftfrage erstreckte. Im Rahmen eines (in der Hauptverhandlung mitgeteilten) vorausgegangenen Verständigungsgesprächs vom hatte der Vorsitzende insofern die Auffassung vertreten, dass die Frage einer Haftverschonung des Angeklagten mit der Urteilsverkündung einer Verständigung nicht zugänglich sei.
8b) Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Der Vorsitzende der Strafkammer hat die sich aus § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO ergebende Pflicht zur Information über außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen verletzt, indem er über sein Gespräch mit den Verteidigern vom in der Hauptverhandlung keine Mitteilung gemacht hat.
9aa) Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hat der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes über Erörterungen gemäß §§ 202a, 212 StPO zu berichten, die vor der Hauptverhandlung stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist. Kommt es zu solchen Erörterungen nach Beginn der Hauptverhandlung, aber außerhalb derselben, so hat der Vorsitzende gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO auch dies und ihren wesentlichen Inhalt bekanntzugeben (vgl. mwN), und zwar regelmäßig alsbald nach der Fortsetzung (vgl. Rn. 13; Beschluss vom – 1 StR 606/17 Rn. 10 mwN; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 243 Rn. 56).
10Verständigungsbezogene Erörterungen werden geführt, sobald bei Gesprächen der Prozessbeteiligten unter Einschluss des Gerichts ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen. Dies wiederum ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 85; Rn. 19; Urteil vom – 3 StR 470/14 Rn. 12 mwN; Beschluss vom – 1 StR 44/21 Rn. 9; Beschluss vom – 1 StR 545/18 Rn. 10; Beschluss vom – 1 StR 2/19 Rn. 10 mwN; Beschluss vom – 1 StR 343/18 Rn. 12, Beschluss vom – 5 StR 9/15 Rn. 17). Dabei unterliegen nicht nur die entsprechenden „finalen“, also zielführenden Erörterungen der Mitteilungspflicht, sondern auch gegebenenfalls erste Vorgespräche (vgl. Rn. 13; Beschluss vom – 5 StR 9/15 Rn. 14 f.), sofern diese nicht nur eine abstrakte Erörterung der Vorfrage beinhalten, ob aus Rechtsgründen überhaupt eine Verständigung in einer bestimmten Konstellation möglich ist (vgl. hierzu Rn. 11; Beschluss vom – 5 StR 199/21 Rn. 14; jeweils für die Annahme eines minder schweren Falls). Möglichen Unklarheiten zwischen den Verfahrensbeteiligten soll durch eine genaue Dokumentation des Gesprächs und deren anschließende Bekanntmachung in der öffentlichen Hauptverhandlung begegnet werden (vgl. Rn. 13). Für eine Mitteilungspflicht genügt daher jedes ausdrückliche oder konkludente Bemühen um eine Verständigung in Gesprächen, die von den Verfahrensbeteiligten insoweit als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können; im Zweifel hat eine Mitteilung zu erfolgen (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 85; Rn. 12; Beschluss vom – 1 StR 564/17 Rn. 7; jeweils mwN).
11bb) Hieran gemessen ist eine mitteilungspflichtige verständigungsbezogene Erörterung im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO sowohl nach dem Revisionsvorbringen als auch nach der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden Richters zu bejahen.
12(1) Die Vollstreckung von Untersuchungshaft ist ein grundsätzlich zulässiger Verständigungsinhalt (vgl. Rn. 14 mwN). Denn die Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft ist ein zum Urteil „dazugehöriger Beschluss“ im Sinne von § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO (vgl. hierzu § 268b StPO). Vor diesem Hintergrund liegt nach dem Revisionsvorbringen eine verständigungsbezogene Erörterung auf der Hand. Der Vorsitzende wies aber auch nach seiner eigenen Darstellung die Verteidiger für die – verständigungsgeeignete – Frage einer Haftverschonung des Angeklagten auf die Verfahrensweise der Strafkammer in anderen Verfahren hin. Dabei bestätigte er auf Nachfrage insbesondere ausdrücklich, dass er wie der Verteidiger das Strafverfahren gegen „Herrn F.“ vor Augen habe. Da dieser Angeklagte nach zunächst streitiger Verhandlung geständig und sodann von der Strafkammer vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont worden war, ist damit auch bei einem solchen Gesprächsverlauf konkludent ein Konnex zwischen einem Prozessverhalten des hier Angeklagten in Form seines Geständnisses und dem Verfahrensergebnis einer möglichen Haftverschonung hergestellt. Mit Blick auf die prozessuale Situation im hiesigen Verfahren konnten die Verteidiger selbst die vorgenannten Äußerungen des Vorsitzenden nur dahin verstehen, dass sie sich – verknüpft mit der Frage einer Haftverschonung – auf eine entsprechende Beeinflussung der Verteidigungsstrategie des Angeklagten richteten.
13Ein verständigungsbezogener Charakter der Unterredung ist auch nicht aufgrund von deren weiterem Verlauf zu verneinen, wie ihn der Vorsitzende in seiner dienstlichen Erklärung geschildert hat. Unmaßgeblich ist insbesondere, dass der Vorsitzende danach wiederholt darauf hingewiesen hat, seine Äußerungen seien – auch hinsichtlich einer möglichen Strafhöhe – unverbindlich und lediglich ein Hinweis auf die allgemeine Praxis der Strafkammer. Diese Hervorhebungen zeigen vielmehr zunächst, dass für die Verteidiger weitergehend auch die Frage nach einer Straferwartung im Falle eines Geständnisses nahelag. Inhaltlich gehen die Angaben des Vorsitzenden zudem dennoch über einen nicht verständigungsbezogenen allgemeinen Hinweis auf die strafmildernden Wirkungen eines Geständnisses (vgl. hierzu BVerfGE 133, 168 Rn. 106) und den – selbstverständlichen – Umstand hinaus, dass die Strafkammer im Rahmen ihrer Entscheidung nach § 268b StPO alle relevanten Umstände bedenken werde. Denn aufgrund der unmissverständlichen Bezugnahme auf das Strafverfahren gegen „Herrn F.“ konnten die Verteidiger die Äußerungen des Vorsitzenden in ihrem Gesamtkontext trotz dessen nachfolgender Hinweise weiterhin zumindest – im Sinne eines ersten auf eine Verständigung zielenden Vorgesprächs – dahin verstehen, dass für den Fall einer geständigen Einlassung des Angeklagten dessen Haftverschonung mit Urteilsverkündung in Betracht komme. Dies genügt nach den vorstehend dargestellten Maßgaben, um die Mitteilungspflicht gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO auszulösen.
14(2) Die Informationspflicht nach dieser Norm ist auch dann zu beachten, wenn (zunächst) keine Verständigung zustande kommt (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 5; Urteil vom – 2 StR 317/19 Rn. 45). Sie gehört zu den vom Gesetzgeber zur Absicherung des Verständigungsverfahrens normierten Transparenz- und Dokumentationsregeln, durch die gewährleistet werden soll, dass Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung stets in öffentlicher Hauptverhandlung zur Sprache kommen, so dass für informelles und unkontrollierbares Verhalten unter Umgehung der strafprozessualen Grundsätze kein Raum verbleibt (vgl. Rn. 5; Beschluss vom ‒ 1 StR 315/14, BGHSt 60, 150 Rn. 14).
15c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Beruhen des Urteils auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO kann im Einzelfall nur ausgeschlossen werden, wenn die Gesetzesverletzung sich einerseits nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann und mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht andererseits der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und diese nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461 Rn. 39; Rn. 7 mwN).
16Der Senat vermag bereits nicht auszuschließen, dass sich der geständige Angeklagte, auf dessen Angaben die Strafkammer ihre Überzeugung maßgeblich gestützt hat, bei einer gesetzeskonformen Unterrichtung durch das Gericht effektiver als geschehen hätte verteidigen können. Zudem liegt ein gravierender die Kontrollfunktion berührender Transparenzmangel vor. Der Gesprächsinhalt lässt es zumindest nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass die nicht offenbarte Unterredung auf eine gesetzeswidrige informelle Absprache zur Haftfrage – über die unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft zustande gekommene formelle Verständigung hinaus – abzielte (vgl. auch Rn. 11).
172. Auf die weitere Verfahrensrüge und die mit der Gegenerklärung vorgebrachten sachlich-rechtlichen Beanstandungen kommt es daher nicht mehr an. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat allerdings vorsorglich auf Folgendes hin:
18Sofern der Angeklagte erneut ein Geständnis ablegen sollte, genügt für dessen weitere inhaltliche Überprüfung durch das Tatgericht anhand von Erkenntnissen aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (vgl. hierzu Rn. 11; Beschluss vom – 2 StR 265/13 Rn. 5; Beschluss vom – 3 StR 35/13 Rn. 7) nicht der pauschale Hinweis auf die Angaben von Zeugen und die übrigen Beweismittel. Vielmehr ist insoweit eine – ggf. knapp gehaltene – Darstellung in den Urteilsgründen erforderlich, durch welche Beweismittel welcher Einlassungsinhalt bestätigt worden ist.
19Nimmt auch das neue Tatgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Betruges an, wird es zudem einen Irrtum der zuständigen Mitarbeiter der Abrechnungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung nicht nur festzustellen, sondern auch mit beweiswürdigenden Erwägungen zu unterlegen haben (vgl. hierzu etwa Rn. 16; Beschluss vom – 4 StR 362/15 Rn. 27; Urteil vom – 2 StR 109/14 Rn. 22 f.).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:240523B4STR493.22.0
Fundstelle(n):
wistra 2023 S. 2 Nr. 10
wistra 2023 S. 4 Nr. 9
wistra 2024 S. 75 Nr. 2
FAAAJ-45056