Entschädigungsanspruch des Betreibers eines Frisörsalons gegen Bundesland wegen coronabedingter Betriebsunterbrechung
Leitsatz
1. Zur Verhältnismäßigkeit einer sechswöchigen Betriebsuntersagung für Frisörgeschäfte im Frühjahr 2020 zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus.
2. Eine solche Betriebsuntersagung war angesichts der gesamten wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und unter Berücksichtigung des den Betriebsinhaber grundsätzlichen treffenden Unternehmerrisikos nicht derart gravierend, dass gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG eine verfassungsrechtliche Pflicht bestand, hierfür Entschädigungsansprüche zu normieren. Die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates ist begrenzt. Dementsprechend muss er sich in Pandemiezeiten gegebenenfalls auf seine Kardinalpflichten zum Schutz der Bevölkerung beschränken (Bestätigung und Fortführung des Senatsurteils vom - III ZR 79/21, BGHZ 233, 107).
Gesetze: Art 14 Abs 1 S 2 GG, § 2 Nr 7 IfSG, § 28 Abs 1 S 1 IfSG, § 28 Abs 1 S 2 IfSG, § 32 IfSG, § 56 Abs 1 S 1 IfSG
Instanzenzug: Az: 4 U 28/21 Urteilvorgehend LG Heilbronn Az: 4 O 83/20
Tatbestand
1Die Klägerin ist selbständig tätig und betreibt einen Frisörsalon in gemieteten Räumlichkeiten. Sie begehrt von dem beklagten Land Baden-Württemberg Entschädigung für Einnahmeausfälle, die entstanden sind, weil sie ihr Geschäft im Frühjahr 2020 auf Grund von staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und der dadurch verursachten COVID-19-Krankheit vorübergehend schließen musste.
2Am erließ die Landesregierung "auf Grund von § 32 in Verbindung mit den § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 31 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom (BGBl. I S. 1045), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom (BGBl. I S. 148) geändert worden ist", die Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung - Corona-VO). Die Verordnung wurde am durch öffentliche Bekanntmachung notverkündet und trat am in Kraft. Am wurde sie im Gesetzblatt für Baden-Württemberg veröffentlicht (GBl. S. 120). In § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 13 wurde die landesweite Schließung von Einrichtungen angeordnet (insbesondere Kultur- und Bildungseinrichtungen, Kinos, Schwimm- und Hallenbäder, Sportanlagen und Sportstätten, öffentliche Bibliotheken, Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen, bestimmte Verkaufsstellen des Einzelhandels, öffentliche Spiel- und Bolzplätze). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 gehörten Frisöre (zunächst) nicht zu den zu schließenden Einrichtungen. Durch Verordnung der Landesregierung vom , die nach Notverkündung am in Kraft trat und am im Gesetzblatt veröffentlicht wurde (GBl. S. 133, im Folgenden: ÄndVO), wurde § 4 Abs. 1 der Corona-Verordnung vom unter anderem wie folgt geändert:
"In Nummer 13 wird der Punkt am Ende durch ein Komma ersetzt und folgende Nummern werden angefügt:
14. Frisöre, Tattoo-/Piercing-Studios, Massagestudios, Kosmetikstudios, Nagelstudios, Studios für kosmetische Fußpflege sowie Sonnenstudios und
15. …"
3Die Ausnahmeregelung für Frisöre in § 4 Abs. 3 der Corona-VO entfiel. Ab dem war die Öffnung von Frisörbetrieben wieder gestattet (Siebte Verordnung zur Änderung der Corona-VO vom , GBl. S. 206).
4Der Betrieb der Klägerin war in dem Zeitraum vom 23. März bis zum geschlossen, ohne dass die COVID-19-Krankheit zuvor dort aufgetreten war. Die Klägerin erkrankte auch nicht. Aus dem Soforthilfeprogramm des beklagten Landes erhielt sie 9.000 €, die sie allerdings zurückzahlen muss.
5Die Klägerin hat geltend gemacht, das beklagte Land schulde ihr eine Entschädigung in Höhe von 8.000 € für die mit der Betriebsschließung verbundenen erheblichen finanziellen Einbußen (Verdienstausfall, Betriebsausgaben). Die Maßnahme sei zum Schutz der Allgemeinheit nicht erforderlich gewesen. Ihr Entschädigungsverlangen sei gemäß §§ 56, 65 IfSG gerechtfertigt. Jedenfalls könne ihre Forderung auf § 55 des Polizeigesetzes für Baden-Württemberg (in der bis zum geltenden Fassung; im Folgenden: PolG BW), die Grundsätze des enteignenden/enteignungsgleichen Eingriffs und/oder den Aufopferungsgedanken beziehungsweise direkt auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG gestützt werden.
6Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision möchte sie ihre Ansprüche weiterverfolgen.
Gründe
7Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.
I.
8Das Berufungsgericht, dessen Urteil in BeckRS 2022, 1456 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
9Ein Entschädigungsanspruch aus § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG bestehe nicht. Die Klägerin gehöre nicht zu dem dort genannten Personenkreis (Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 IfSG) und sei auch nicht nach § 31 Satz 1 IfSG einem Tätigkeitsverbot unterworfen gewesen. Vielmehr habe es sich um eine flächendeckende Betriebsschließung nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG gehandelt. Die Klägerin habe keine Anknüpfungstatsachen für ihre Eigenschaft als Ansteckungsverdächtige gemäß § 2 Nr. 7 IfSG vorgetragen. Ihre bloße Zugehörigkeit zur Berufsgruppe der Frisöre begründe unter dem Gesichtspunkt der Kontaktmultiplikation noch keinen Ansteckungsverdacht. Die Bezugnahme in der Präambel der Corona-Verordnung auch auf § 31 IfSG bedeute nicht, dass die gemäß § 4 Corona-VO angeordneten Betriebsschließungen als darauf beruhende berufliche Tätigkeitsverbote anzusehen seien. Nach der Systematik der Verordnung hätten sich die Verbote nicht gegen die Klägerin persönlich gerichtet. Es sei nicht an eine konkrete, von ihr ausgehende Infektionsgefahr angeknüpft worden. Durch § 32 Satz 1 IfSG würden die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen für Maßnahmen nach §§ 28 bis 31 IfSG Ge- und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Zu den nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zu treffenden notwendigen Schutzmaßnahmen gehörten auch Betriebsschließungen gegenüber "Nichtstörern". Unstreitig hätten zum Zeitpunkt der Betriebsschließung 2.746 Infektionen in Baden-Württemberg vorgelegen, so dass das Auftreten einer übertragbaren Krankheit im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestanden habe. Die Schließung der Betriebe sei geeignet, erforderlich und angemessen gewesen, um die Verbreitung des Virus zumindest zu verlangsamen. Der Verordnungsgeber habe auch berücksichtigt, dass Schließungen immer nur für einen kurzen Zeitraum angeordnet werden dürften.
10Eine analoge Anwendung von § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG scheide aus, da es an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Die Entschädigungsvorschriften der §§ 56 ff IfSG seien als gesondert normierte Regelung des allgemeinen Aufopferungsanspruchs abschließend. Ihnen liege die bewusste gesetzgeberische Entscheidung zugrunde, breitenwirksame Maßnahmen (gegenüber der Allgemeinheit) grundsätzlich entschädigungslos zu stellen. Dafür, dass der Gesetzgeber nach wie vor das Konzept einer punktuellen Entschädigungsgewährung verfolge, spreche zudem, dass im Rahmen der Reformen zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Epidemie mit Ausnahme des Spezialfalls der Kinderbetreuung (§ 56 Abs. 1a IfSG) keine weiteren Entschädigungsregelungen normiert worden seien.
11Die Klägerin könne ihren Anspruch auch nicht auf § 55 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 PolG BW stützen, weil die §§ 56 ff IfSG insoweit vorrangige und abschließende gesetzliche Sondervorschriften darstellten.
12Die Klägerin habe keinen Anspruch aus enteignendem Eingriff. Es könne zwar unterstellt werden, dass die Betriebsschließung auch das unter dem Schutz des Art. 14 GG stehende Recht der Klägerin an ihrem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb betroffen habe. Da die Sonderregelungen des Infektionsschutzgesetzes jedoch abschließend seien, trete die Rechtsfigur des enteignenden Eingriffs als subsidiäres Institut zurück. Die Betriebsschließung stelle auch kein Sonderopfer dar. Die angeordneten Betriebsschließungen hätten nicht nur den Betrieb der Klägerin betroffen. Es seien praktisch sämtliche Bereiche des öffentlichen und kulturellen Lebens lahmgelegt worden.
13Ansprüche nach den Grundsätzen zum enteignungsgleichen Eingriff schieden aus, weil § 56 IfSG insoweit eine abschließende Sonderregelung enthalte und dieses Haftungsinstitut grundsätzlich keinen Ausgleich für Nachteile gewähre, die auf so genanntes legislatives Unrecht gestützt würden. Es komme hinzu, dass die Klägerin nicht vorgetragen habe, dass die Corona-Verordnung rechtswidrig gewesen sei.
14Art. 12 und Art. 14 GG verlangten nicht, dass eine Entschädigung zu gewähren sei. Da eine gesetzliche Regelung fehle, könne eine Entschädigung nicht durch einen Rückgriff auf das Verfassungsrecht und eine daran anknüpfende richterrechtliche Regelung zugesprochen werden. Dafür sei ausschließlich der Gesetzgeber (Parlament) zuständig.
II.
15Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
16Die Entschädigungsvorschriften des Infektionsschutzgesetzes (§§ 56, 65 IfSG) bieten weder in unmittelbarer noch in entsprechender Anwendung eine geeignete Anspruchsgrundlage für den von der Klägerin verlangten Ersatz ihrer behaupteten Einbußen (1. bis 3.). Entschädigungsansprüchen aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht beziehungsweise aus enteignendem Eingriff steht bereits entgegen, dass die im Zwölften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes enthaltenen Entschädigungsbestimmungen eine abschließende spezialgesetzliche Regelung mit Sperrwirkung darstellen (4. und 5.). Entschädigungsansprüche kommen auch nicht unter dem Gesichtspunkt der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung in Betracht. Es besteht keine verfassungsrechtliche Pflicht zur Schaffung von Ausgleichsansprüchen im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (6. und 7.). Da an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Betriebsschließung keine Zweifel bestehen, scheiden Ansprüche aus Amtshaftung und enteignungsgleichem Eingriff von vornherein aus (8.).
171. Die Klägerin hat gegen das beklagte Land keinen Entschädigungsanspruch aus § 56 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Nr. 7 IfSG.
18a) Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält eine Entschädigung in Geld, wer als Ausscheider (§ 2 Nr. 6 IfSG), Ansteckungsverdächtiger (§ 2 Nr. 7 IfSG), Krankheitsverdächtiger (§ 2 Nr. 5 IfSG) oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 IfSG Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet. Nicht von der Regelung erfasst sind Fallgestaltungen, in denen Dritte, die nicht zu dem Kreis der in § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Personen gehören, auf Grund von Betriebsuntersagungen, die auf Landesverordnungen nach § 32 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG beruhen, materielle Einbußen erleiden. In diesen Fällen ist § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG von vornherein nicht einschlägig, weil solche Verbote nicht nur gegenüber bestimmten Personen als infektionsschutzrechtlichen Störern, sondern gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen ergehen (Senat, Urteil vom - III ZR 79/21, BGHZ 233, 107 Rn. 17 ff; siehe auch , juris Rn. 117 ff). Die nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zu treffenden notwendigen Schutzmaßnahmen werden dort nicht auf den genannten Personenkreis - Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider - beschränkt, sondern können grundsätzlich gegenüber der Allgemeinheit - und damit auch gegenüber gesunden und nicht ansteckungsverdächtigen Personen - angeordnet werden (VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 184). So liegt der Fall hier.
19b) Die Klägerin gehört bereits nicht zu dem Kreis der nach § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG grundsätzlich Anspruchsberechtigten. Sie war insbesondere nicht Ansteckungsverdächtige im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG. Ansteckungsverdacht liegt vor, wenn von einer Person anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Ansteckungsverdacht setzt voraus, dass die jeweilige Person mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem mit Krankheitserregern kontaminierten Gegenstand hatte, also eine konkret-individuelle Verbindung zwischen Gefahrenlage und ansteckungsverdächtiger Person besteht. Die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss wahrscheinlicher sein als das Gegenteil (BVerwGE 142, 205 Rn. 31; vgl. auch VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 182). Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht zutreffend verneint (BU 15 ff). Die bloße Zugehörigkeit der Klägerin zur Berufsgruppe der Frisöre war nicht geeignet, einen Ansteckungsverdacht im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG zu begründen. Trotz exponentieller Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus konnte im Frühjahr 2020 nicht von einer "flächendeckenden Ansteckungsverdächtigkeit" der gesamten Bevölkerung ausgegangen werden. Bis Anfang Mai 2020 waren bezogen auf die Gesamtbevölkerung insgesamt nur circa 0,2 % der in Deutschland lebenden Menschen infiziert (VGH Baden-Württemberg aaO). In Baden-Württemberg lagen bei einer Einwohnerzahl von rund 11 Millionen zum Zeitpunkt des Erlasses der Corona-Änderungsverordnung vom lediglich 2.746 festgestellte Infektionen vor (BU 8, 17).
20c) Die Schließung des Betriebs der Klägerin ab dem war Folge der auf der Grundlage von § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG erlassenen Corona-Verordnung vom in der Fassung der Änderungsverordnung vom , wonach der Betrieb der in § 4 Nr. 1 bis 15 genannten Einrichtungen, darunter auch Frisöre, landesweit und generell untersagt wurde (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 117 ff, 173 ff). Die Klägerin wurde somit nicht gezielt personenbezogen - quasi punktuell - als infektionsschutzrechtliche Störerin mit einem beruflichen Tätigkeitsverbot nach § 31 Satz 1 IfSG belegt, sondern sie war Teil der von den landesweiten Betriebsschließungen betroffenen Allgemeinheit.
21Die Auffassung der Klägerin, aus der Bezugnahme auf § 31 IfSG in der Präambel der Corona-Verordnung ergebe sich, dass ihr gegenüber eine Maßnahme nach § 31 IfSG angeordnet und sie als ansteckungsverdächtige, nach § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG grundsätzlich anspruchsberechtigte Person behandelt worden sei, trifft damit nicht zu. § 31 IfSG wird in der Präambel lediglich neben § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG genannt. Da die in Rede stehende Betriebsuntersagung die Klägerin (nur) als Angehörige der Allgemeinheit erfasste, findet die Maßnahme jedoch ihre Grundlage in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Es ist deshalb nicht tragfähig, von der Zitierung unter anderem des § 31 IfSG in der Präambel der Corona-Verordnung des beklagten Landes darauf zu schließen, dass die Normadressaten der Rechtsverordnung in der Rechtsfolge wie Adressaten einer Maßnahme auf der Grundlage dieser Bestimmung zu behandeln wären.
22Das Berufungsgericht hat daher zu Recht angenommen, dass der Bezugnahme auf § 31 IfSG in der Verordnungspräambel im Zusammenhang mit den landesweiten Betriebsuntersagungen ("Lockdown") keine Bedeutung zukommt.
232. Ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Geldentschädigung ergibt sich auch nicht aus § 65 Abs. 1 IfSG.
24a) Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG ist eine Entschädigung in Geld zu leisten, soweit auf Grund einer Maßnahme zur Verhütung übertragbarer Krankheiten nach §§ 16, 17 IfSG Gegenstände vernichtet, beschädigt oder in sonstiger Weise in ihrem Wert gemindert werden oder ein anderer nicht nur unwesentlicher Vermögensnachteil verursacht wird. § 65 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG bestimmt, dass eine Entschädigung nicht erhält, dessen Gegenstände mit Krankheitserregern oder mit Gesundheitsschädlingen als vermutlichen Überträgern solcher Krankheitserreger behaftet oder dessen verdächtig sind. Dadurch wird klargestellt, dass eine Entschädigung nur dann geleistet werden soll, wenn sich die seuchenhygienische Maßnahme gegen einen Nichtstörer gerichtet hat (Begründung des Entwurfs des Seuchenrechtsneuordnungsgesetzes, BT-Drucks. 14/2530, S. 89). Die Vorschrift ist Ausprägung des Aufopferungsgedankens und stellt daher eine spezialgesetzliche Regelung für die im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht bestehenden Entschädigungsansprüche zugunsten von Nichtstörern dar (Senat, Urteil vom aaO Rn. 23).
25b) Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist § 65 Abs. 1 IfSG nur bei Maßnahmen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten einschlägig. Durch den Verweis auf die §§ 16, 17 IfSG wird ausschließlich auf den Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" Bezug genommen. Diese Vorschriften sind einschlägig, solange (nur) die Gefahr des Auftretens einer übertragbaren Krankheit besteht; sobald hingegen eine übertragbare Krankheit beziehungsweise eine erste Infektion aufgetreten ist, gelten die spezielleren Vorschriften des Fünften Abschnitts (§§ 24 ff IfSG) mit der Folge, dass die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG trifft und eine Entschädigung nur noch auf der Grundlage von § 56 IfSG in Betracht kommt (Senat aaO Rn. 24 ff, insb. Rn. 27).
26Im vorliegenden Fall dienten die Corona-Verordnung vom und die Änderungsverordnung vom sowie die Folgeverordnungen der Bekämpfung der COVID-19-Krankheit. Diese hatte sich zu den Zeitpunkten des Verordnungserlasses bereits in Baden-Württemberg und in ganz Deutschland ausgebreitet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte am den COVID-19-Ausbruch zur Pandemie erklärt und für Europa bereits mehr als 20.000 bestätigte Fälle mit knapp 1.000 Todesfällen gezählt (siehe auch Lagebericht des Robert Koch-Instituts - RKI - vom , S. 6). Am vermeldete das RKI 7.156 bestätigte Fälle in Deutschland, davon 1.479 in Baden-Württemberg, und stufte das Risiko für die Bevölkerung als "hoch" ein, auch wenn nicht davon ausgegangen werden konnte, dass diese bereits flächendeckend angesteckt war (siehe oben Nr. 1 Buchst. b). Am lag die Zahl der Infektionen deutschlandweit bei 67.366. In Baden-Württemberg wurden 13.410 Infektionen festgestellt (VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 181; siehe auch Senat aaO Rn. 28).
273. Die Klägerin kann den geltend gemachten Entschädigungsanspruch auch nicht auf eine analoge Anwendung von § 56 Abs. 1 oder § 65 Abs. 1 IfSG stützen. Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke.
28Aus der Entstehungsgeschichte der Entschädigungstatbestände des Infektionsschutzgesetzes sowie aus der Gesetzgebungstätigkeit während der Corona-Pandemie ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber übersehen haben könnte, für auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützte infektionsschutzrechtliche Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit keine Entschädigung vorgesehen zu haben. Den Vorschriften, die regeln, dass nur bestimmte Beeinträchtigungen zu entschädigen sind, liegt vielmehr das Konzept einer punktuellen Entschädigungsgewährung zugrunde. Der Gesetzgeber hat mit §§ 56, 65 IfSG ein plangemäß vollständiges Entschädigungsregime geschaffen, das bewusst nur bestimmte Beeinträchtigungskonstellationen erfassen sollte. Danach bleiben (rechtmäßige) infektionsschutzrechtliche Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit grundsätzlich entschädigungslos (Senat aaO Rn. 40 ff).
294. Das Berufungsgericht hat einen Entschädigungsanspruch aus § 55 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 PolG BW ebenfalls zu Recht abgelehnt.
30a) Danach können unbeteiligte Personen, denen gegenüber die Polizei eine Maßnahme getroffen hat, eine angemessene Entschädigung für den ihnen dadurch entstandenen Schaden verlangen. Landesrechtliche Entschädigungsbestimmungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts sind jedoch neben den Vorschriften des Infektionsschutzrechts nicht anzuwenden, soweit eine Entschädigung für rechtmäßig auferlegte infektionsschutzrechtliche Beschränkungen in Rede steht (Senat aaO Rn. 49 ff). Dass diese Sperrwirkung nur für rechtmäßig auferlegte Beschränkungen gilt, ergibt sich daraus, dass die Entschädigungsansprüche der §§ 56, 65 IfSG rechtmäßige Maßnahmen betreffen und das Infektionsschutzgesetz keine Regelung über die Haftung für rechtswidrige infektionsschutzrechtliche Maßnahmen enthält (Senat aaO Rn. 50). Demgemäß ist in der Begründung zum Entwurf des Seuchenrechtsneuordnungsgesetzes darauf hingewiesen worden, dass weitergehende Ansprüche aus Amtshaftung unberührt bleiben (BT-Drucks. 14/2530, S. 87).
31Dass im vorliegenden Fall die Corona-Verordnung vom und die Änderungsverordnung vom auf der Grundlage von § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG rechtmäßig ergangen sind, hat das Berufungsgericht ausführlich und zutreffend begründet (BU 19-25).
32b) Soweit die Klägerin die Verhältnismäßigkeit der Betriebsuntersagung für Frisöre nach § 4 Abs. 1 Nr. 15 Corona-VO in der Fassung der Änderungsverordnung im Hinblick auf die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG und die von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsfreiheit (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) in Zweifel zieht, teilt der Senat diese Bedenken nicht.
33aa) Die landesrechtlichen Regelungen, die Betriebsschließungen anordneten, verfolgten das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen Gefahren zu bekämpfen. Mit den einschneidenden Maßnahmen wollte der Staat seine Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bürger (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) wahrnehmen und verfolgte mithin einen legitimen Zweck (Shirvani, NVwZ 2020, 1457, 1458), der selbst schwere Grundrechtseingriffe rechtfertigen kann (vgl. BVerfG, NJW 2022, 1672 Rn. 21). In der zweiten Märzhälfte 2020 bestand nach den Erkenntnissen des hierzu berufenen Robert Koch-Instituts (§ 4 IfSG) eine ernste Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung, und es drohte eine Überlastung des Gesundheitssystems (VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 204 ff).
34bb) Die sechswöchige Betriebsuntersagung für Frisöre war auch geeignet, erforderlich und angemessen, um den angestrebten Zweck zu erreichen.
35(1) Hinsichtlich der Geeignetheit ist entscheidend, ob das eingesetzte Mittel schlechthin oder objektiv untauglich ist. Die Möglichkeit der Zweckerreichung ist ausreichend, wobei dem Normgeber grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum bei der Beurteilung der Geeignetheit der Maßnahme zusteht (vgl. BVerfGE 126, 331, 361 f; 143, 246 Rn. 285; Shirvani aaO S. 1458). Fachwissenschaftliche, insbesondere epidemiologische Erkenntnisse sind zu berücksichtigen (Shirvani aaO S. 1459). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die ausgesprochenen Betriebsuntersagungen waren insbesondere geeignet, das Aufeinandertreffen von Menschen (auch) in einem Frisörgeschäft zu verhindern und dadurch drohende Infektionsketten zu unterbinden und einen Multiplikationseffekt zu verhindern. Hierdurch sollte dem exponentiellen Wachstum entgegengewirkt und die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus verlangsamt werden. Die Überlastung der medizinischen Versorgungskapazitäten im Land wurde vermieden und wichtige Zeit für die Entwicklung von Therapie- und Präventionsmöglichkeiten (zB die Bereitstellung von Impfstoffen) gewonnen (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 212 zur Schließung von Fitnessstudios).
36(2) Die auf wenige Wochen beschränkte Betriebsuntersagung war auch erforderlich, weil gleich geeignete, mildere Mittel nicht zur Verfügung standen.
37Ein Gesetz ist erforderlich, wenn der Normgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können, wobei dem Gesetzgeber insoweit ebenfalls ein Beurteilungsspielraum zusteht (BVerfG, NJW 2022, 139 Rn. 204 - Bundesnotbremse I). Nach der Erkenntnislage zu Beginn der Corona-Pandemie durfte der Verordnungsgeber davon ausgehen, dass es kein gleich geeignetes milderes Mittel zur Verhinderung von Übertragungen des SARS-CoV-2-Virus als die verfahrensgegenständliche Betriebsuntersagung gab, da hierdurch jedenfalls sicher Kontakte zwischen Menschen, die grundsätzlich eine Gefahr der Übertragung des Coronavirus darstellen, vermieden werden konnten. Impfschutz, eine hinreichende Immunisierung der Bevölkerung auf Grund abgelaufener Infektionen oder erfolgversprechende Therapiemöglichkeiten standen zu diesem Zeitpunkt senatsbekannt nicht zur Verfügung (siehe auch VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 215 f). Verstärkte Hygienemaßnahmen wie zum Beispiel die Beschränkung der Kundenzahl und das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen hätten das Infektionsrisiko in den betroffenen Betriebsstätten zwar begrenzen, nicht aber auf Null reduzieren können. Ein einem gänzlichen Kontaktverbot vergleichbarer Schutz wäre dadurch nicht erreicht worden (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 217).
38(3) Die Betriebsuntersagung für Frisöre war auch verhältnismäßig im engeren Sinne (angemessen).
39Eine Maßnahme ist verhältnismäßig im engeren Sinne (angemessen), wenn der mit ihr verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen (zB BVerfGE 100, 313, 375 f; 155, 119 Rn. 195). Auch bei der Prüfung der Angemessenheit besteht grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers (BVerfG, NJW 2022, 167 Rn. 135 - Bundesnotbremse II).
40Der durch die Betriebsuntersagung bewirkte Eingriff in die Berufsfreiheit der Klägerin und in ihr Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb hat erhebliches Gewicht. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes wurde durch die sechswöchige Betriebsuntersagung auch der Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG beeinträchtigt.Denn solche Maßnahmen greifen unmittelbar in den Betrieb als wirtschaftlichen Organismus ein. Es wird damit dessen ungestörtes Funktionieren unterbunden und der Inhaber daran gehindert, von dem Gewerbebetrieb als der von ihm aufgebauten und aufrechterhaltenen Organisation sachlicher und persönlicher Mittel den bestimmungsgemäßen Gebrauch zu machen. Dies kann existenzgefährdend sein oder gar zum vollständigen Verlust des Gewerbebetriebs führen. Es geht daher nicht allein um dem Schutz von Art. 12 Abs. 1 GG unterliegenden Chancen und Erwerbsmöglichkeiten (BeckOGK/Dörr, BGB, § 839 Rn. 1083 m. zahlr. w.N. [Stand: ]; siehe auch Senat, Urteil vom aaO Rn. 59; abweichend VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 229 ff; offengelassen von , juris Rn. 11).
41Die Klägerin musste ihr Frisörgeschäft vom 23. März bis Anfang Mai 2020, insgesamt sechs Wochen lang, geschlossen halten, obwohl sie nach den Feststellungen der Vorinstanzen zu dem Infektionsgeschehen nichts beigetragen hatte. Dem stand jedoch die Notwendigkeit gegenüber, auf die exponentielle Weiterverbreitung des Coronavirus und die befürchtete Überlastung des Gesundheitswesens mit weitreichenden kontaktbeschränkenden Maßnahmen zu reagieren, um das Infektionsgeschehen abzubremsen, dadurch Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen zu schützen und die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in Deutschland sicherzustellen (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 222).
42Das Gewicht des Eingriffs in die Rechte der von Betriebsschließungen Betroffenen ist zudem durch die verschiedenen und umfangreichen staatlichen Hilfsmaßnahmen für die von der Betriebsuntersagung betroffenen Unternehmen entscheidend relativiert worden. Die "Soforthilfe Corona", die ab dem zur Verfügung stand, und für Betriebe mit bis zu fünf Beschäftigten bis zu 9.000 € betragen konnte, führte in Baden-Württemberg zu 245.000 Bewilligungen mit einem Gesamtvolumen von 2,1 Milliarden Euro. Die "Überbrückungshilfe I" des Bundes erreichte in Baden-Württemberg einen Umfang von insgesamt 32,9 Millionen Euro. Hinzukam, dass pandemiebedingt die Bezugsbedingungen für Kurzarbeitergeld gelockert wurden. Im Jahr 2020 gewährte die Bundesagentur für Arbeit Kurzarbeitergeld (einschließlich der Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen) in Höhe von 22,07 Milliarden Euro (VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 223).
43Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist weiter zu bedenken, dass die Dauer der Schließungsanordnung mit sechs Wochen der Klägerin unter Berücksichtigung des von ihr grundsätzlich zu tragenden Unternehmerrisikos noch zumutbar war. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Verordnungsgeber von Anfang an eine "Ausstiegs-Strategie" im Blick hatte und ein schrittweises Öffnungskonzept entwickelte und umsetzte (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 224).
445. Eine Entschädigungspflicht des beklagten Landes nach den Grundsätzen über den enteignenden Eingriff ist ebenfalls zu verneinen.
45a) Ansprüche aus dem richterrechtlich entwickelten Institut des enteignenden Eingriffs scheitern bereits daran, dass das den §§ 56, 65 IfSG zugrundeliegende und gesetzgeberisch als abschließend gedachte Konzept einer punktuellen Entschädigung im Bereich der Eigentumseingriffe nicht durch die Gewährung richterrechtlicher Ansprüche unterlaufen werden darf. Die infektionsschutzrechtlichen Entschädigungsvorschriften gehen auch insoweit vor (Senat, Urteil vom aaO Rn. 55 ff).
46b) Unabhängig von der Frage der Sperrwirkung der §§ 56, 65 IfSG ist der Anwendungsbereich des Rechtsinstituts des enteignenden Eingriffs nicht eröffnet, wenn es darum geht, im Rahmen einer Pandemie durch flächendeckende infektionsschutzrechtliche Maßnahmen verursachte Schäden auszugleichen. Zur Bewältigung eines derartigen "Globalphänomens" ist das Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs nicht entwickelt worden. Es ist keine geeignete Grundlage, um massenhaft auftretende Schäden auszugleichen (vgl. Senat, Urteil vom - III ZR 220/86, BGHZ 102, 350, 361 f zur Haftung der öffentlichen Hand für weitflächig auftretende, durch Luftverunreinigungen verursachte Waldschäden). Der Bundesgerichtshof hat eine Haftung aus diesem Rechtsinstitut deshalb bisher nur angenommen bei einzelfallbezogenen Eigentumsbeeinträchtigungen durch hoheitliche Realakte, straßenrechtliche Planfeststellungsbeschlüsse oder Verwaltungsakte (Senat, Urteile vom aaO und vom - III ZR 330/04, NJW 2005, 1363; siehe auch Beschluss vom - III ZR 110/97, NJW 1998, 1398, 1399).
476. Ebenso wenig kann der Klägerin unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung des Eigentums eine Entschädigung zuerkannt werden.
48Bei den hier in Rede stehenden, auf § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützten infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen (Betriebsschließungen) handelt es sich um den Vollzug von Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Begrenzungen der Eigentümerbefugnisse, die die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls in einen gerechten Ausgleich bringen, sind als Ausdruck der Sozialgebundenheit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen (Senat, Urteil vom aaO Rn. 59). Der Gesetzgeber kann jedoch bei der Regelung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG unter dem Gesichtspunkt der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung ausnahmsweise verpflichtet sein, Ausgleichsregelungen vorzusehen, um eine unzumutbare Belastung des Eigentümers zu verhindern. Ausgleichsmaßnahmen bedürfen jedoch immer einer gesetzlichen Grundlage. Bei Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist daher kein Raum für eine Entschädigung ohne gesetzliche Grundlage (BVerfGE 100, 226, 244 f). Fehlt eine Vorschrift - wie im Fall von flächendeckenden infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit auf der Grundlage von § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG - ist es daher unzulässig, einen Ausgleichsanspruch kraft Richterrechts zu gewähren. Ein solcher Anspruch kommt nur in Betracht, wenn der Gesetzgeber, dem das Budgetrecht zusteht, ihn geregelt hat (Senat aaO Rn. 59 ff; siehe auch VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 259 f).
49Außerdem ist die Rechtsfigur der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung bislang vor allem auf Härtefälle zulasten einzelner Eigentümer angewandt worden, während es im Rahmen einer Pandemie um eine unkalkulierbare Vielzahl von Betroffenen geht (Senat aaO Rn. 61; VGH Baden-Württemberg aaO).
507. Der Umstand, dass die infektionsschutzrechtlichen Betriebsuntersagungen aus dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 nach dem geltenden Recht (§ 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 56, 65 IfSG) keine Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche begründen, ist auch im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden.
51a) Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, für Belastungen, wie sie für die Klägerin mit der in den Betriebsuntersagungen liegenden Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG einhergingen, Ausgleichsansprüche zu regeln. Das Ausmaß der Schließung von Frisörgeschäften mit einer Dauer von sechs Wochen war unter Berücksichtigung des den Betriebsinhaber grundsätzlich treffenden Unternehmerrisikos nicht unzumutbar. Demgegenüber waren die gesamtstaatlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie außerordentlich. Die Pandemie hatte gravierende Auswirkungen in nahezu allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen. Da die Grundbelastung der Bevölkerung bereits hoch war und die Gesellschaft dem Einzelnen in der Krise mehr abverlangt als unter normalen Verhältnissen, verschiebt sich der Vergleichsmaßstab zur Bestimmung einer Ausgleichspflicht für entstandene Schäden. Eine besondere, die Regelung gesetzlicher Entschädigungsansprüche bedingende Belastungsintensität kann sich erst dann ergeben, wenn Einzelne gerade im Vergleich zu sonstigen, ebenfalls intensiv Betroffenen signifikant stärker betroffen sind (VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 269). Daran fehlt es hier.
52Eine Betriebsschließung von sechs Wochen war angesichts der gesamten wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Auswirkungen der Pandemie nicht derart gravierend, dass gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 GG eine verfassungsrechtliche Pflicht bestand, hierfür Entschädigungsansprüche zu normieren. Die Normierung von Entschädigungsansprüchen, die die wirtschaftlichen Schäden, die in Pandemiezeiten durch Betriebsuntersagungen entstanden sind, abbilden, würde die Grenze zu einer allgemeinen staatlichen Gefährdungshaftung überschreiten und zur Überforderung des Staates führen. Die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates ist begrenzt. Die Verfassung verpflichtet ihre Staatsorgane nicht zu unmöglichen Leistungen. Dementsprechend muss der Staat in Pandemiezeiten sich gegebenenfalls auf seine Kardinalpflichten zum Schutz der Bevölkerung beschränken (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 270).
53Es entspricht der Rechtsprechung des Senats, dass staatliche Ausnahmezustände wie zum Beispiel Kriege, komplexe militärische Auslandseinsätze oder Pandemiezeiten unter dem Gesichtspunkt der Aufopferung keine Eintrittspflicht des Staates für zivile Schäden begründen können (vgl. Senat, Urteil vom - III ZR 140/15, BGHZ 212, 173 Rn. 18 zur Unanwendbarkeit des Amtshaftungsrechts auf zivile Schäden bei bewaffneten Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte). Hilfeleistungen für von einer Pandemie schwer getroffene Wirtschaftsbereiche sind keine Aufgabe der Staatshaftung. Vielmehr folgt aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), dass die staatliche Gemeinschaft Lasten mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und nur zufällig einen bestimmten Personenkreis treffen. Hieraus ergibt sich zunächst nur die Pflicht zu einem innerstaatlichen Ausgleich, dessen nähere Gestaltung weitgehend dem Gesetzgeber überlassen ist. Erst eine solche gesetzliche Regelung kann konkrete Ausgleichsansprüche der einzelnen Geschädigten begründen (vgl. BVerfGE 27, 253, 283 zum Ausgleich von Besatzungsschäden). Dieser sozialstaatlichen Verpflichtung kann der Staat zum Beispiel dadurch nachkommen, dass er - wie im Fall der COVID-19-Pandemie geschehen - haushaltsrechtlich durch die Parlamente abgesicherte Ad-hoc-Hilfsprogramme auflegt ("Corona-Hilfen"), die die gebotene Beweglichkeit aufweisen und eine lageangemessene Reaktion erlauben, indem Hilfen spürbar und zeitnah ausgezahlt werden (Senat aaO Rn. 62). Dabei kommt dem Staat ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, der sich daran zu orientieren hat, für grundsätzlich wirtschaftlich gesunde Unternehmen die Folgen der sie unverschuldet treffenden Pandemie abzumildern (vgl. VGH Baden-Württemberg aaO Rn. 272). Die oben unter 4 b bb (3) dargestellten staatlichen Hilfen im Rahmen des ersten Lockdowns genügten diesen Anforderungen. Davon hat auch die Klägerin profitiert, deren Liquidität durch Zahlung von 9.000 € im Rahmen der "Soforthilfe Corona" sichergestellt wurde.
54b) Fehlt es somit an einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Schaffung von Ausgleichsansprüchen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, kommt es auf die von der Revision aufgeworfene Frage, ob § 56 Abs. 1 IfSG im Wege der verfassungskonformen Auslegung als Entschädigungstatbestand gegenüber von flächendeckenden Betriebsschließungen betroffenen infektionsschutzrechtlichen Nichtstörern herangezogen werden könnte, nicht mehr an (zu dieser Frage siehe auch , juris Rn. 29 ff). Ungeachtet dessen ist eine verfassungskonforme Auslegung von § 56 Abs. 1 IfSG dahingehend, die Klägerin wie eine Ansteckungsverdächtige zu behandeln und zu entschädigen, abzulehnen (vgl. Senat aaO Rn. 21). Für § 65 Abs. 1 IfSG gilt nichts Anderes (vgl. aaO Rn. 35).
558. Ansprüche aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG) beziehungsweise enteignungsgleichem Eingriff scheiden schon deshalb aus, weil die streitigen Verordnungen vom 17. und rechtmäßig ergangen sind (siehe ergänzend Senat aaO Rn. 64 ff).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:110523UIIIZR41.22.0
Fundstelle(n):
BB 2023 S. 1602 Nr. 28
DB 2023 S. 1789 Nr. 31
NWB-Eilnachricht Nr. 20/2023 S. 1423
NWB-Eilnachricht Nr. 20/2023 S. 1423
WM 2023 S. 2100 Nr. 45
ZIP 2023 S. 1486 Nr. 28
ZAAAJ-42988