BSG Urteil v. - B 11 AL 40/21 R

(Arbeitslosengeldanspruch - persönliche Arbeitslosmeldung im Anschluss an Arbeitsunfähigkeitszeiten - Rückwirkung bei fehlender Dienstbereitschaft - Rückwirkung auf den ersten Tag der Arbeitslosigkeit anstatt Beschäftigungslosigkeit - analoge Anwendung von § 141 Abs 3 SGB 3)

Leitsatz

Die persönliche Arbeitslosmeldung wirkt bei fehlender Dienstbereitschaft der zuständigen Arbeitsagentur auf den ersten Tag der Arbeitslosigkeit zurück, wenn der erste Tag der Beschäftigungslosigkeit wegen Arbeitsunfähigkeit weiter zurückliegt.

Gesetze: § 138 Abs 1 Nr 1 SGB 3, § 141 Abs 3 SGB 3 vom

Instanzenzug: SG Dresden Az: S 9 AL 145/19 Gerichtsbescheidvorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 3 AL 57/20 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin begehrt die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) für den Zeitraum vom bis .

2Die Klägerin stand bis zum in einem Arbeitsverhältnis. Vom 25.7. bis zum bezog sie Krankengeld. Da die zuständige Dienststelle bereits geschlossen hatte, meldete sich die Klägerin am (Freitag) nach 14.00 Uhr telefonisch beim Servicecenter der Beklagten ab dem arbeitsfähig und arbeitsuchend. Bis einschließlich war keine zuständige Arbeitsagentur dienstbereit. Die Klägerin meldete sich daher erst am (Donnerstag) persönlich arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg.

3Die Beklagte bewilligte der Klägerin - zunächst vorläufig - für die Zeit ab dem Alg (Bescheid vom ). Den Widerspruch, mit dem die Klägerin die Bewilligung von Alg auch für die Zeit vom bis begehrte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom ).

4Während des Klageverfahrens hat die Beklagte der Klägerin abschließend Alg für den Zeitraum vom 3.1. bis zum bewilligt (Bescheid vom ). Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom verurteilt, der Klägerin auch "in der Zeit" vom bis zum Alg zu zahlen (Gerichtsbescheid vom ). Die am erfolgte persönliche Arbeitslosmeldung entfalte nach § 141 Abs 3 SGB III aF trotz des vorherigen Krankengeldbezugs Rückwirkung, da frühestens an diesem Tag Dienstbereitschaft vorgelegen habe. Zwar sei die Vorschrift aufgrund ihres Ausnahmecharakters eng auszulegen. Sie sei jedoch infolge einer historischen und teleologischen Auslegung auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden.

5Auf die vom SG zugelassene Berufung hat das LSG den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Der Wortlaut des § 141 Abs 3 SGB III aF stelle für die Rückwirkung einer Arbeitslosmeldung auf den ersten Tag "der Beschäftigungslosigkeit" ab. Die beiden gesetzlich definierten Begriffe "Beschäftigungslosigkeit" und "Arbeitslosigkeit" könnten vom reinen Wortlaut und von der Gesetzessystematik her nicht gleichgesetzt werden. Weder eine andere Auslegung noch - mangels planwidriger Regelungslücke - eine analoge Anwendung seien möglich.

6Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 141 Abs 3 SGB III aF. Die Voraussetzungen einer analogen Anwendung dieser Norm lägen vor. Verfassungsrechtliche Grundsätze geböten eine Gleichbehandlung gleich gelagerter Sachverhalte.

7Die Klägerin beantragt,das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom zurückzuweisen.

8Die Beklagte beantragt,die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

9Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung.

Gründe

10Die Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat zu Unrecht den der Klage stattgebenden Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat auch für den Zeitraum vom bis einen Anspruch auf Alg.

111. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen nur noch der Bescheid vom . Dieser hat den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG), der ursprünglich Gegenstand des Rechtsstreits war, gemäß § 96 Abs 1 SGG ersetzt. Zwar enthält der Bescheid vom ausdrücklich lediglich die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 3.1. bis zum und keine Ablehnung für den hier streitigen Zeitraum; er stellt aber inhaltlich die Ablehnung des Begehrens der Klägerin dar, ihr Alg bereits ab dem zu gewähren (vgl - BSGE 60, 43 <44> = SozR 4100 § 105 Nr 2 S 2 = juris RdNr 13). Gegen diesen Bescheid wendet sich die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG).

122. Die Klägerin hat auch für die Zeit vom bis einen Anspruch auf Alg. Infolge der fehlenden Dienstbereitschaft der zuständigen Dienststelle der Beklagten wirkte die Arbeitslosmeldung der Klägerin am auf den ersten Tag der Arbeitslosigkeit, nämlich den zurück.

13Einen Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit (§ 136 Abs 1 Nr 1 SGB III) hat gemäß § 137 Abs 1, wer arbeitslos ist (Nr 1), sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet (Nr 2) und die Anwartschaftszeit erfüllt hat (Nr 3). Arbeitslos iS von § 137 Abs 1 Nr 1 SGB III ist gemäß § 138 Abs 1 SGB III, wer nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit, Nr 1), sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen, Nr 2) und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit, Nr 3). Die Klägerin war nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG arbeitslos in diesem Sinne und erfüllte die Anwartschaftszeit.

14Die Klägerin hatte sich für den streitigen Zeitraum zudem arbeitslos gemeldet. Die Arbeitslosmeldung iS von § 137 Abs 1 Nr 2 SGB III ist in § 141 SGB III geregelt. Im vorliegenden Fall ist § 141 SGB III in der vom bis geltenden Fassung anzuwenden. Danach hat sich die oder der Arbeitslose persönlich bei der zuständigen Agentur für Arbeit arbeitslos zu melden (Abs 1 Satz 1).

15Die Arbeitslosmeldung ist materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung für den Bezug von Alg ( - BSGE 60, 43 <44> = SozR 4100 § 105 Nr 2 S 2 = juris RdNr 14; - SozR 3-4100 § 105 Nr 1 S 2 = juris RdNr 14 - jeweils auch zum Folgenden). Sie hat die Erklärung einer Tatsache zum Inhalt, nämlich der Arbeitslosigkeit. Sie soll der Agentur für Arbeit die Kenntnis vermitteln, dass ein Leistungsfall eingetreten ist, damit diese Vermittlungsbemühungen entfalten kann, um die Arbeitslosigkeit und damit auch die Leistungspflicht möglichst rasch zu beenden.

16a) Die telefonische Meldung der Klägerin am reichte zwar nicht aus, um das Erfordernis der persönlichen Arbeitslosmeldung iS des § 141 Abs 1 Satz 1 SGB III zu erfüllen (vgl Brand in ders, SGB III, 9. Aufl 2021, § 141 RdNr 2; Cormann in Böttiger/Körtek/Schaumberg, SGB III, 3. Aufl 2019, § 141 RdNr 4; Lauer in Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Aufl 2021, § 141 RdNr 10; Öndül in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 3. Aufl 2023, § 141 RdNr 40; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, § 141 RdNr 30, Stand Juni 2022). Das ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der Norm und der Gegenüberstellung mit der Parallelvorschrift des § 38 Abs 1 Satz 3 SGB III aF, der zwischen der persönlichen Arbeitsuchendmeldung und einer (formlosen) Anzeige differenziert.

17b) Die persönliche Arbeitslosmeldung der Klägerin vom wirkt aber aufgrund einer analogen Anwendung des § 141 Abs 3 SGB III aF (seit dem § 141 Abs 2 SGB III) auf den zurück. Danach wirkt die persönliche Meldung an dem nächsten Tag, an dem die Agentur für Arbeit dienstbereit ist, auf den ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit des oder der Arbeitslosen zurück, wenn die zuständige Agentur für Arbeit an diesem Tag nicht dienstbereit war. Eine örtlich zuständige Agentur für Arbeit war nach den Feststellungen des bis nicht dienstbereit.

18aa) Allerdings ist § 141 Abs 3 SGB III aF nicht unmittelbar anwendbar, da es sich beim nicht um den ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit der Klägerin handelte. Beschäftigungslosigkeit iS von § 138 Abs 1 Nr 1 SGB III besteht nach der Rechtsprechung des BSG (zuletzt - juris RdNr 17 mwN), wenn die Beschäftigung faktisch ein Ende gefunden hat, wenn also die das Beschäftigungsverhältnis prägende persönliche Abhängigkeit des Beschäftigten, die sich in der faktischen Verfügungsgewalt (Direktionsrecht) des Arbeitgebers und der Dienstbereitschaft des Arbeitnehmers ausdrückt, entfällt (leistungsrechtlicher Beschäftigungsbegriff). Dies ist nach einer Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall zu beurteilen. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG war die Klägerin jedenfalls bereits seit dem - nach dem Ende ihres bis bestehenden Arbeitsverhältnisses - durchgehend beschäftigungslos.

19Es handelt sich bei der Beschäftigungslosigkeit - wie sich aus § 138 Abs 1 SGB III ergibt - um eine Voraussetzung der Arbeitslosigkeit, sie ist aber mit dieser nicht identisch. Die Unterscheidung, die der Gesetzgeber zwischen Beschäftigungslosigkeit und Arbeitslosigkeit getroffen hat, steht einer Auslegung des § 141 Abs 3 SGB III aF dahingehend entgegen, hier - punktuell - diese begriffliche Differenzierung aufzugeben und von einer synonymischen Terminologie auszugehen (vgl Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, § 141 RdNr 81a, Stand Juni 2022; aA Bienert, info also 2020, 176 <177>).

20Der erste Tag der Arbeitslosigkeit war hier der , weil die Klägerin erst seit diesem Tag wegen des Eintritts der Arbeitsfähigkeit (auch) verfügbar iS des § 138 Abs 1 Nr 3 SGB III war.

21bb) § 141 Abs 3 SGB III aF ist aber auf die vorliegende Konstellation analog anzuwenden (zu den Voraussetzungen einer analogen Anwendung - SozR 4-4300 § 131a Nr 3 RdNr 19 unter Verweis auf - SozR 4-4300 § 131a Nr 1 RdNr 23 f mwN), weil sich insofern aus der Entstehungsgeschichte der Norm eine planwidrige Regelungslücke ergibt (aA Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, § 141 RdNr 81a, Stand Juni 2022).

22Die Vorgängervorschrift in § 105 Satz 2 AFG bezog die Rückwirkung der Arbeitslosmeldung bei nicht dienstbereitem Arbeitsamt auf den ersten Tag der Arbeitslosigkeit, also nicht auf den ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit. Die Nachfolgeregelung - § 122 Abs 3 SGB III in der vom bis geltenden Fassung - bestimmte sodann, dass, wenn das zuständige Arbeitsamt an einem Tag, an dem der Arbeitslose sich persönlich arbeitslos melden will, nicht dienstbereit ist, die persönliche Meldung an dem nächsten Tag, an dem das Arbeitsamt dienstbereit ist, auf den Tag zurückwirkt, an dem das Arbeitsamt nicht dienstbereit war. Nach dieser Regelung kam es also weder auf den ersten Tag der Arbeitslosigkeit noch den der Beschäftigungslosigkeit an, sondern auf den (subjektiven) Willen des Arbeitslosen, sich arbeitslos zu melden (so heute noch § 325 Abs 2 Satz 2 SGB III, der die Rückwirkung der Antragstellung aber "in gleicher Weise wie eine Arbeitslosmeldung" anordnet). Dies änderte der Gesetzgeber mit Wirkung zum und formulierte mit § 122 Abs 3 SGB III aF die auf den ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit abstellende Regelung, die dann ab mit lediglich redaktionellen Änderungen in § 141 Abs 3 SGB III aF überführt worden ist. Die Änderung des § 122 Abs 3 SGB III aF mit Wirkung zum beruht auf dem Motiv des Gesetzgebers, den erheblichen Prüfaufwand der Arbeitsämter hinsichtlich des subjektiven Elements zu vermeiden (vgl Begründung des Gesetzentwurfs vom , BT-Drucks 14/873 S 12 f; siehe bereits - SozR 4-4300 § 131 Nr 6 RdNr 15). Indessen gibt es in den Gesetzesmaterialien keine Hinweise darauf, aus welchen Gründen, statt wie noch ausdrücklich in § 105 Satz 2 AFG und daran anknüpfend in § 122 Abs 3 SGB III in der vom bis geltenden Fassung, nicht mehr auf eine bestehende Arbeitslosigkeit, sondern auf den ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit abgestellt wird. Allein die Tatsache, dass der Begriff der Beschäftigungslosigkeit auch in der Begründung des Gesetzentwurfs verwandt wird, sagt über die Motivlage des Gesetzgebers nichts aus, sondern deutet nur auf eine Perpetuierung der Ungenauigkeit der Begriffswahl auch an dieser Stelle hin.

23Ein Prüfaufwand der Arbeitsverwaltung hinsichtlich eines subjektiven Elements ist jedenfalls dann nicht erheblich und die Fallgruppe planwidrig in den Anwendungsbereich des § 141 Abs 3 SGB III nicht einbezogen, wenn das Auseinanderfallen des ersten Tags der Arbeitslosigkeit und des ersten Tags der Beschäftigungslosigkeit nicht auf dem freien Entschluss des Versicherten beruht, sondern auf dessen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Es bestehen auch keine sachlichen Gründe dafür, dass in dieser Konstellation der Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt werden sollte oder müsste.

24Eine Arbeitslosmeldung bereits bei Eintritt der Beschäftigungslosigkeit war im vorliegenden Fall nicht erforderlich, weil die Klägerin aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht verfügbar war. Die Arbeitslosmeldung der Klägerin am ersten dienstbereiten Tag der Agentur für Arbeit nach Ende der Arbeitsunfähigkeit wirkt deshalb auf den ersten Tag zurück, an dem die Klägerin wieder arbeitsfähig und damit verfügbar sowie arbeitslos iS des § 138 Abs 1 SGB III war.

25Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom (B 11 AL 12/14 R - SozR 4-4300 § 131 Nr 6 RdNr 15) die Rechtsfrage zur Rückwirkung der Arbeitslosmeldung anders beurteilt hat, hält er hieran nicht fest.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:150223UB11AL4021R0

Fundstelle(n):
UAAAJ-42916