BFH Beschluss v. - VIII B 98/22

Zum Verlust des Rügerechts bei Verfahrensfehlern

Leitsatz

NV: Unterlässt es der Kläger in der mündlichen Verhandlung, die mangelnde Durchführung der in der mündlichen Verhandlung beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens in Form einer Wissensprüfung nochmals zu rügen, hat dies keinen Verlust des Rügerechts zur Folge, wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem FG seinen Beweisantrag unmittelbar vor der Stellung seines Sachantrags gestellt hat, die Beteiligten danach nicht mehr weiter zur Sache verhandelt haben und der Kläger auch nicht aufgrund sonsti-ger Umstände erkennen konnte, dass das FG von der beantragten Beweiserhebung absehen werde.

Gesetze: ZPO § 295; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; FGO § 155;

Instanzenzug:

Tatbestand

1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war im Streitjahr 2013 als Unternehmensberater tätig. Er wandte sich gegen die Qualifizierung seiner Einkünfte als solche aus Gewerbebetrieb (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Streitjahrs —EStG—), da er als beratender Betriebswirt Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG) erzielt habe. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren wies das Finanzgericht (FG) die Klage ab.

2 Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger einen Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der FinanzgerichtsordnungFGO—) dergestalt geltend, dass das FG die beantragte Durchführung einer Wissensprüfung unterlassen habe.

Gründe

3 II. Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in Gestalt einer unterlassenen Beweisaufnahme durch das FG vor, der zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG führt (§ 116 Abs. 6 FGO).

4 1. Die Verfahrensrüge ist in zulässiger Form erhoben worden. In der Beschwerdebegründung wurden die Voraussetzungen für einen Verfahrensmangel, hier die Verletzung der Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO, in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Form dargelegt. Hat das FG —wie im Streitfall— selbst im Urteil begründet, weshalb es von der Erhebung beantragter Beweise abgesehen hat, genügt hierfür bereits die —erfolgte— schlichte Rüge der Nichtbefolgung des Beweisantritts (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom  - VIII B 60/06, BFH/NV 2007, 1341, unter 2. [Rz 7]; vom  - VII B 87/00, BFH/NV 2001, 147, unter 1. [Rz 4], m.w.N.). Da die Stellung des Beweisantrags aus dem Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung vor dem FG ersichtlich ist, erübrigen sich auch weitere Ausführungen des Klägers dazu, dass die Nichterhebung des angebotenen Beweises in der mündlichen Verhandlung gerügt worden oder weshalb eine solche Rüge nicht möglich gewesen ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom  - XI B 58/02, BFH/NV 2003, 787, unter 1. [Rz 3]; vom  - IV B 51/05, BFH/NV 2007, 1089, unter 1. [Rz 3]).

5 2. Das FG hat seine Aufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verletzt, indem es die vom Kläger beantragte Wissensprüfung nicht vorgenommen hat.

6 a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (Untersuchungsgrundsatz). Es ist dabei zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO), darf aber im Regelfall auf die von einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (vgl. , BFH/NV 2007, 1495, unter II.1. [Rz 15], m.w.N.).

7 Die im Wege eines Sachverständigengutachtens vorzunehmende Wissensprüfung ist ein ergänzendes Beweismittel, das dem Steuerpflichtigen, der behauptet, als Autodidakt eine einem beratenden Betriebswirt ähnliche Tätigkeit auszuüben, ermöglichen soll, die von der BFH-Rechtsprechung geforderte Breite und Tiefe seiner Vorbildung nachzuweisen (vgl. , BFHE 257, 556, BStBl II 2017, 882). Macht der Steuerpflichtige im Prozess geltend, er habe die erforderlichen Kenntnisse, muss er Tatsachen dazu vortragen, wie er die Kenntnisse erworben hat und inwieweit er diese in der Praxis einsetzt. Stehen diese Tatsachen nicht bereits zur Überzeugung des Gerichts fest, muss das FG aufgrund seiner Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) den vom Kläger gestellten Anträgen zur Erhebung von Beweisen entsprechen, die geeignet erscheinen, den erforderlichen Nachweis der Kenntnisse zu erbringen (, juris, unter II.c f. [Rz 13 f.]). Zum Nachweis der erforderlichen Kenntnisse kann auch die Vornahme einer Wissensprüfung gehören, wenn sich aus den vorgetragenen Tatsachen zum Erwerb und Einsatz der Kenntnisse bereits erkennen lässt, dass der Kläger über hinreichende Kenntnisse verfügen könnte. Dabei dürfen die Darlegungsanforderungen nicht überspannt werden (, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2009, 898, unter II.2.c aa [Rz 26], m.w.N.).

8 b) Im Streitfall lagen die Voraussetzungen für die Durchführung einer Wissensprüfung vor. Das FG durfte daher von der Beweiserhebung nicht absehen. Es hat die Anforderungen an die Voraussetzungen einer beantragten Wissensprüfung im konkreten Fall überspannt.

9 Die Ausführungen des Klägers in seiner Klagebegründung beim FG zu seinem Ausbildungs- und Berufsweg sowie seine Erläuterungen zu seinem theoretischen und praktischen Wissenserwerb auf den für die Tätigkeit eines beratenden Betriebswirts relevanten Fachgebieten (vgl. Bl. 29 ff. der FG-Akte) gehen über die pauschale Behauptung, er habe die erforderlichen Fachkenntnisse (hierzu , BFH/NV 2007, 1495, unter II.1. [Rz 19]), deutlich hinaus. Nur unsubstantiiertes Pauschalvorbringen zum Erwerb und zum Vorhandensein von Wissen versperrt den Zugang zur Wissensprüfung (, BFH/NV 2013, 930, Rz 20). Die Ausführungen des Klägers bezeichnen dagegen dezidiert Tätigkeitsinhalte, Tätigkeitszeiträume und Auftraggeber. Der Kläger war zudem grundsätzlich nicht gehalten, zu jedem der vielen Einzelfächer mit ihren jeweiligen Unterdisziplinen, die in einem Vergleichsstudiengang belegt werden müssen, Arbeitsproben oder Bescheinigungen über besuchte Fortbildungslehrgänge vorzulegen, um seiner Darlegungspflicht (Möglichkeit des Vorhandenseins von Wissen) zu genügen und zur Examinierung zugelassen zu werden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 930, Rz 20). Das FG durfte daher im konkreten Fall, ohne sich auf ein Sachverständigengutachten über die betriebswirtschaftliche Einordnung der Darlegungen des Wissenserwerbs und der eingereichten Unterlagen stützen zu können, nicht davon ausgehen, dass das Erlangen hinreichenden Wissens nicht möglich erscheine und daher von der beantragten Beweiserhebung nicht absehen.

10 c) Das angefochtene FG-Urteil kann auch auf dem Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen. Die unterbliebene Beweiserhebung war für die zu treffende Sachentscheidung erheblich, denn es ist nicht auszuschließen, dass das FG hinsichtlich der Frage, ob der Kläger im Streitjahr eine einem beratenden Betriebswirt ähnliche Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ausgeübt hat, nach der Durchführung einer Wissensprüfung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

11 3. Entgegen der Auffassung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt) hat der Kläger sein Recht zur Rüge des Verfahrensmangels nicht gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) verloren.

12 a) Ein Verfahrensmangel kann nicht mehr erfolgreich geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können und —ausdrücklich oder stillschweigend— verzichtet haben (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO). Zu diesen verzichtbaren Mängeln gehört auch das Übergehen eines Beweisantrags. Das Rügerecht geht bereits durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren, und zwar unabhängig von einem Verzichtswillen (ständige Rechtsprechung, z.B. , BFH/NV 2004, 217, unter II. [Rz 5]). Der Verfahrensmangel muss in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt werden, in der der Rügeberechtigte erschienen ist. Die „nächste“ mündliche Verhandlung kann —wie im vorliegenden Fall— auch die sich unmittelbar an den Verfahrensfehler anschließende Verhandlung sein (, BFH/NV 2007, 1654, unter 2.c [Rz 9]; , BFHE 183, 518, BStBl II 1998, 152, unter II.3.c bb [Rz 67]).

13 b) Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens in Form einer Wissensprüfung gestellt und so zum Ausdruck gebracht, die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens durch das FG sei verfahrensfehlerhaft (BFH-Beschlüsse vom  - VIII B 30/20, BFH/NV 2021, 789, Rz 6; vom  - IV B 200/04, BFHE 214, 168, BStBl II 2006, 709, unter II.2.a [Rz 19]). Dass der Kläger in unmittelbarem Anschluss an den Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung einen Sachantrag gestellt hat, ändert hieran nichts. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat er in der mündlichen Verhandlung die Nichterhebung des Beweises zwar nicht nochmals ausdrücklich gerügt. Dies kann nach der Rechtsprechung aber nur dann einen Verlust des Rügerechts zur Folge haben, wenn zu erkennen war, dass das Gericht die beantragte Vernehmung nicht durchführen werde (, BFH/NV 2005, 1843, m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Im Streitfall bestand die Besonderheit, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung seinen Beweisantrag unmittelbar vor und damit in engem zeitlichen Zusammenhang mit seinem Sachantrag gestellt hat. Danach haben die Beteiligten nicht mehr weiter zur Sache verhandelt. Bei einer solchen Sachlage kann das Verhalten des Klägers jedenfalls dann nicht als Rügeverzicht gewertet werden, wenn dieser nicht damit rechnen musste, dass das FG dem Beweisantrag nicht entsprechen werde. Der Kläger hat hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Durchführung einer Beweiserhebung als erforderlich ansehe. Besondere Umstände, aufgrund derer er in Betracht ziehen musste, das FG werde eine notwendige Beweiserhebung unterlassen (, BFH/NV 2012, 422, Rz 26), lagen hier nicht vor. Ausweislich des Sitzungsprotokolls wies die Vorsitzende in unmittelbarem Anschluss an die Stellung des Beweisantrags lediglich darauf hin, dass sich als „Voraussetzung für eine Wissensprüfung aus den vorgelegten Unterlagen ergeben müsse, dass das Vorliegen des Wissens wahrscheinlich sei“. Aus diesem Hinweis auf die abstrakten Voraussetzungen für die Durchführung einer Wissensprüfung musste und konnte der Kläger keine eindeutigen Schlüsse darauf ziehen, dass das FG seinem Beweisantrag nicht folgen werde.

14 4. Der Senat hält es für geboten, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).

15 5. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

16 6. Die Übertragung der Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2023:B.160523.VIIIB98.22.0

Fundstelle(n):
AO-StB 2023 S. 207 Nr. 7
AO-StB 2023 S. 208 Nr. 7
NJW 2023 S. 10 Nr. 25
QAAAJ-41069