Erfordernis der eigenständigen und kritischen Würdigung der Einlassung des Angeklagten durch das Tatgericht
Gesetze: § 261 StPO
Instanzenzug: LG Aachen Az: 68 KLs 4/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubten“ Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen den Schuldspruch und erstrebt eine Verurteilung des Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlich unerlaubtem Besitz eines Elektroimpulsgeräts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel ist erfolgreich und führt zur Aufhebung des Urteils.
21. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3Zur Finanzierung seines erheblichen Amphetaminkonsums entschloss sich der Angeklagte spätestens Anfang März 2020, aus seiner Wohnung heraus Betäubungsmittel zu verkaufen. Am wurde die Wohnung durchsucht. Zu diesem Zeitpunkt verfügte der Angeklagte dort über 1.022,6 Gramm Amphetaminsalzzubereitung mit einem Wirkstoffgehalt von 249 Gramm Amphetaminbase, 195,838 Gramm MDMA-Zubereitung mit einem Wirkstoffgehalt von 77,1 Gramm MDMA-Base sowie 116,56 Gramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 12 Gramm THC. Die Betäubungsmittel waren an verschiedenen Stellen in der Wohnung verteilt, namentlich im Gefrierschrank in der Küche, in einem Abstellraum sowie im Wohnzimmer. Im Bereich der Arbeitsplatte der Küche befand sich ein funktionsfähiger Elektroschocker ohne Prüfzeichen. Jedenfalls 550 Gramm des Amphetamins und jeweils die Hälfte der übrigen Betäubungsmittel hatte der Angeklagte zur gewinnbringenden Weiterveräußerung vorgesehen. Aus früheren Betäubungsmittelverkäufen verfügte er über Bargeld in Höhe von 4.565 Euro.
4Aufgrund der Einlassung des Angeklagten, der Elektroschocker habe seiner damaligen Lebensgefährtin gehört, die ihm um Weihnachten 2019 erzählt habe, diesen zum Eigenschutz zu besitzen, habe nicht aufgeklärt werden können, ob der Angeklagte sich über dessen Verfügbarkeit bewusst gewesen sei. Insbesondere habe nicht ausgeschlossen werden können, dass der Angeklagte davon ausgegangen sei, dass seine damalige Lebensgefährtin den Elektroschocker in ihrer Handtasche oder im Auto gelagert habe, er deshalb an diesen nicht mehr gedacht habe und sich einer Zugriffsmöglichkeit auf ihn nicht bewusst gewesen sei.
52. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Der Schuldspruch lediglich wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision wendet sich zu Recht gegen die Beweiswürdigung, wonach der Angeklagte keine Kenntnis davon gehabt habe, dass sich griffbereit in seiner Küche ein Elektroimpulsgerät befunden habe.
6a) Die den Feststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung begegnet – auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabes (st. Rspr.; vgl. Rn. 11 mwN) – in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
7aa) Die Urteilsgründe lassen die erforderliche eigenständige und kritische Würdigung der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vermissen; dies lässt besorgen, dass das Tatgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen, nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und der Entscheidung zugrunde zu legen sind, wenn es für ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit keine Beweise gibt. Vielmehr ist die Einlassung des Angeklagten – ebenso wie andere Beweismittel – auf ihre Plausibilität und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (vgl. etwa , NStZ 2021, 574). Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. Senat, Urteil vom – 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184).
8(1) Das Landgericht verhält sich bereits nicht dazu, inwieweit der bei der Durchsuchung „in der Küche sitzend angetroffene“ Angeklagte den „im Bereich der Arbeitsplatte in der Küche“ seiner Wohnung befindlichen Elektroschocker nicht habe wahrnehmen können. Zwar konnte sich der in der Hauptverhandlung vernommene Zeuge V. an den konkreten Belegenheitsort des Elektroimpulsgeräts nicht mehr erinnern. Eine eigene Würdigung der konkreten Örtlichkeit hat das Landgericht indes nicht vorgenommen. Dies drängte sich jedoch schon deshalb auf, weil sich ebenfalls in der Küche SIM-Karten, erhebliche Bargeldmengen und „fest in der Wand verbaute Monitore“ befanden, die Bilder einer im Eingangsbereich angebrachten Kamera übertrugen und zur Überzeugung der Strafkammer dazu dienten, „dass der Angeklagte im Falle unerwünschten Besuches vorbereitet sein wollte“.
9(2) Auch die Würdigung der Einlassung des Angeklagten zur Nutzung des Elektroschockers durch seine Lebensgefährtin erweist sich als lückenhaft. Insbesondere drängte sich insoweit die Erörterung der Frage auf, warum das Elektroimpulsgerät bei dieser Zweckbestimmung in der Küche des Angeklagten hätte liegen sollen, zumal offenbleibt, wann sich die Lebensgefährtin des Angeklagten im Rahmen der seit April 2019 bestehenden Beziehung und des „jedenfalls zeitweise“ gemeinsamen Zusammenlebens überhaupt beim Angeklagten aufgehalten hat. Ohne nähere Ausführungen dazu erweist sich auch die Erwägung der Strafkammer, die Lebensgefährtin des Angeklagten könne das Gerät „ggf. auch erst kurz vor der Durchsuchung ohne sein Wissen in der Küche zurückgelassen“ haben, als rein spekulativ.
10bb) Soweit das Landgericht ein gegen das Verfügungsbewusstsein des Angeklagten sprechendes Indiz darin sieht, dass er „nach Betäubungsmitteln und Waffen befragt, sofort kooperativ auf die gelagerten Betäubungsmittel verwies, sich […] zu einer Waffe aber nicht erklärte“, wird dabei übergangen, dass sich in der Wohnung ausweislich der Aussage des Zeugen R. noch eine „PTB-Waffe“ befand, die der Angeklagte gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten ebenfalls verschwiegen hat. Außerdem hätte in diesem Zusammenhang auch Berücksichtigung finden müssen, dass schon deshalb erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben des Angeklagten bestehen mussten, weil die Strafkammer dessen Einlassung in der Hauptverhandlung hinsichtlich des Fremdbesitzes an zwei Päckchen Amphetamin als „reine Schutzbehauptung“ erachtet und seine Behauptung, das aufgefundene Marihuana und MDMA sei ausschließlich zum Eigenkonsum bestimmt gewesen, für widerlegt gehalten hat.
11cc) Schließlich ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht, dass das Landgericht die erforderliche Gesamtwürdigung aller Indizien vorgenommen hat. Die Strafkammer hat unberücksichtigt gelassen, dass – auch wenn keine der Indiztatsachen für sich alleine zum Nachweis der Täterschaft der Angeklagten ausreichen würde – die Möglichkeit besteht, dass sie in ihrer Gesamtheit die entsprechende Überzeugung vermitteln können (st. Rspr.; vgl. etwa , NStZ-RR 2023, 59, 60 mwN).
12b) Das Urteil beruht auch auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einem anderen, für den Angeklagten ungünstigen Beweisergebnis gelangt wäre, wenn es auf der Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung entschieden hätte. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.
133. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Amphetamin auf der Gefährlichkeitsskala einen mittleren Platz einnimmt, weshalb die Gefährlichkeit dieses Stoffes keinen wesentlichen Strafschärfungsgrund darstellt (vgl. Senat, Beschluss vom – 2 StR 275/90, StV 1990, 494; ; a.A. BVerfG, NStZ-RR 1997, 342, 343; Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl., vor § 29 Rn. 206).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:010323U2STR366.22.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-40264