BAG Urteil v. - 6 AZR 32/22

Grob fehlerhafte Sozialauswahl - Nachschieben von Kündigungsgründen

Gesetze: § 113 InsO, § 125 Abs 1 InsO, § 111 S 3 Nr 1 BetrVG, § 102 BetrVG, § 1 Abs 3 KSchG, § 91 Abs 1 ZPO

Instanzenzug: Az: 10 Ca 3370/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 16 Sa 374/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten noch um die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.

2Der 1975 geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit dem bei der H GmbH (im Folgenden Schuldnerin) als Armaturenschlosser beschäftigt. Der Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Mit Beschluss vom eröffnete das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter. Dieser zeigte am gleichen Tag drohende Masseunzulänglichkeit an.

3Auf der Grundlage eines mit dem Betriebsrat der Schuldnerin am abgeschlossenen Interessenausgleichs mit Namensliste kündigte der Beklagte 61 der zu diesem Zeitpunkt beschäftigten 396 Arbeitnehmer. Von den zwölf Mitarbeitern der Vergleichsgruppe „Armaturenfertigung“, der auch der Kläger angehörte, betraf dies zwei Arbeitnehmer.

4Nachdem die Betriebsparteien auf Initiative des Beklagten ab Ende April 2020 über einen erneuten Personalabbau verhandelt hatten, unterzeichneten sie am einen zweiten Interessenausgleich. Dieser sah auf der Grundlage der vom Gläubigerausschuss am beschlossenen Betriebsstilllegung zum nach Ausproduktion die Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse vor. Dabei verständigten sich die Betriebsparteien darauf, dass die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer, die für die Ausproduktion nicht benötigt würden, nach Einholung ggf. notwendiger Zustimmungen (zB gemäß §§ 168 ff. SGB IX) unter Berücksichtigung der Kündigungsfrist des § 113 InsO zum nächstzulässigen Termin zu kündigen seien. Die für die Ausproduktion notwendigen Arbeitnehmer sollten nach Abschluss des Interessenausgleichs ebenfalls eine Kündigung erhalten, die allerdings nicht zum frühestmöglichen Termin, sondern erst zum geplanten Ende der Ausproduktion am wirksam werden sollte. Weiter kamen die Betriebsparteien in dem Interessenausgleich überein, dass aufgrund der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse eine soziale Auswahl entbehrlich sei.

5Bestandteil des Interessenausgleichs vom waren drei Namenslisten. Die erste Liste enthielt die Namen derjenigen 107 Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse zum nächstzulässigen Termin beendet werden sollten. In der zweiten Liste waren 190 für die Ausproduktion benötigte Arbeitnehmer namentlich genannt, die eine Kündigung zum erhalten sollten. In der dritten Namensliste fanden sich 40 Arbeitnehmer, denen schon auf der Grundlage des ersten Interessenausgleichs vom gekündigt worden war und die entweder Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten. Diesen sollte vorsorglich zum nächstzulässigen Termin erneut gekündigt werden. Von den noch zehn Mitarbeitern der Armaturenfertigung waren fünf, ua. Herr A, auf der zweiten Namensliste (Kündigung zum Ende der Ausproduktion am ) genannt. Der Kläger war als Nr. 44, ebenso wie Herr M und die übrigen drei Mitarbeiter der Armaturenfertigung, auf der Liste derjenigen Arbeitnehmer namentlich genannt, die zum nächstzulässigen Termin zu kündigen waren.

6Herr A ist 1990 geboren, verheiratet, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet und seit bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Herr M ist 1968 geboren, unverheiratet, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet und seit bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt.

7Nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige erklärte der Beklagte die Kündigung aller Arbeitsverhältnisse der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer. Im Falle des Klägers erfolgte die Kündigung nach ordnungsgemäßer Durchführung des Zustimmungsverfahrens gemäß §§ 168 ff. SGB IX mit Schreiben vom zum .

8Mit seiner beim Arbeitsgericht am eingegangenen Klage hat der Kläger ua. die Unwirksamkeit dieser Kündigung geltend gemacht.

9Er hat die Auffassung vertreten, die Unwirksamkeit folge bereits daraus, dass eine soziale Auswahl erforderlich gewesen, aber nicht vorgenommen worden sei. Zudem hätte in seiner Vergleichsgruppe nicht ihm, sondern Herrn A zum nächstzulässigen Termin gekündigt werden müssen. Außerdem könne sich der Beklagte nicht darauf berufen, dass ihm, dem Kläger, auch dann zum nächstzulässigen Termin gekündigt worden wäre, wenn der Beklagte eine soziale Auswahl vorgenommen hätte. Diesbezüglich sei der Betriebsrat nicht angehört worden. Ein Nachschieben der Gründe für die soziale Auswahl sei unzulässig.

10Der Kläger hat - soweit für die Revision relevant - beantragt

11Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, einer sozialen Auswahl habe es nicht bedurft. Aufgrund der Betriebsstilllegung zum seien alle Arbeitsplätze entfallen und er habe sämtlichen Arbeitnehmern - wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten - gekündigt. § 1 Abs. 3 KSchG sehe eine soziale Auswahl nur dann vor, wenn einer oder mehrere, aber nicht alle (identischen) Arbeitsplätze wegfielen, dh. am Ende weiterhin Beschäftigungsmöglichkeiten bestünden. Nur dann könne der Zweck der Sozialauswahl, die Sozialkassen langfristig zu schonen, überhaupt erreicht werden. Stehe der Entfall aller Arbeitsplätze, wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten, bei Kündigungsausspruch fest, würden die Sozialkassen in jedem Fall voll - mit allen Arbeitnehmern - belastet. Eine soziale Auswahl sei daher zwecklos. Selbst wenn eine solche erforderlich gewesen sein sollte, wäre es zulässig gewesen, den Kläger als einen von fünf Arbeitnehmern zum nächstzulässigen Termin zu kündigen. Herr M und nicht der Kläger wäre anstelle des Herrn A bis zum weiterbeschäftigt worden. Das Unterlassen der sozialen Auswahl hätte sich mithin auf das Auswahlergebnis nicht ausgewirkt. Er, der Beklagte, könne sich hierauf auch berufen. Dem Betriebsrat seien sämtliche Sozialdaten aller Mitarbeiter mitgeteilt worden.

12Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben, während es den Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers abgewiesen hat. Das Landesarbeitsgericht hat die im Umfang des jeweiligen Unterliegens eingelegten Berufungen beider Parteien zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt allein der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag bezüglich der Kündigungsschutzklage weiter.

Gründe

13Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist durch die Kündigung vom mit Ablauf des aufgelöst worden.

14I. Der zulässige Kündigungsschutzantrag ist unbegründet. Die Kündigung vom ist sozial gerechtfertigt, § 1 Abs. 1, Abs. 3 KSchG.

151. Der Beklagte kann sich in Bezug auf diese Kündigung auf die Privilegierungen des § 125 Abs. 1 InsO stützen. Es liegt eine Betriebsänderung iSv. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG vor. Der Beklagte beabsichtigte, den Betrieb zum stillzulegen. Die Betriebsparteien haben unter dem einen formwirksamen Interessenausgleich mit drei Namenslisten abgeschlossen. Dabei handelt es sich nicht um „Teil-Namenslisten“, die den Anforderungen des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht genügten (Einzelheiten im Parallelverfahren  - Rn. 60). Der Name des Klägers ist unter der laufenden Nr. 44 auf der Liste derjenigen Arbeitnehmer genannt, denen mit der Frist des § 113 InsO zum nächstzulässigen Termin gekündigt werden sollte.

162. Damit wird vermutet, dass die Kündigung vom durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO). Diese Vermutung hat der Kläger nicht widerlegt. Er hat in den Vorinstanzen die auch im Interessenausgleich vom dokumentierte unternehmerische Entscheidung des Beklagten, den Betrieb der Insolvenzschuldnerin zum endgültig und dauerhaft stillzulegen, lediglich bestritten und darauf hingewiesen, dass viele Beschäftigte noch tätig seien. Das ist unzureichend. In der Revision hat der Kläger die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung sei durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, auch nicht mehr in Frage gestellt.

173. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Betriebsparteien verpflichtet waren, die Entscheidung, welche Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des § 113 InsO zum nächstmöglichen Termin und welche unter Außerachtlassung der in dieser Norm enthaltenen Frist erst zum gekündigt werden, nach sozialen Auswahlkriterien zu treffen. Der Umstand, dass die Unternehmerentscheidung die Stilllegung des gesamten Betriebs und damit die Kündigung aller Arbeitsverhältnisse zum Gegenstand hatte, machte eine soziale Auswahl im vorliegenden Fall nicht entbehrlich. Das hat der Senat in dem Parallelverfahren ( - Rn. 62 ff.) bereits entschieden und nimmt zur Begründung darauf Bezug.

184. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts hat sich der Fehler im Auswahlverfahren aber nicht auf das Auswahlergebnis ausgewirkt, sodass das Unterlassen der sozialen Auswahl nicht kausal für die Kündigung des Klägers war. Der Beklagte hat aufgezeigt, dass mit der Entscheidung, das Arbeitsverhältnis des Klägers in der „ersten Welle“ zum zu kündigen, eine objektiv vertretbare Auswahl getroffen worden ist und sich deshalb die Auswahlentscheidung bezogen auf den Kläger als nicht grob fehlerhaft erweist. Seine Auswahl stellt mithin noch ein zulässiges Abwägungsergebnis dar.

19a) Der Arbeitgeber hat, da auch ein mangelhaftes Auswahlverfahren zu einem objektiv vertretbaren Auswahlergebnis führen kann, im Prozess die Möglichkeit aufzuzeigen, dass und aus welchen Gründen soziale Gesichtspunkte gegenüber dem klagenden Arbeitnehmer deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn ein seitens des Arbeitnehmers gerügter Auswahlfehler unterblieben wäre, gekündigt worden wäre. Dabei ist es - entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts - nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber darlegt, dass die Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers die einzig zulässige Auswahlentscheidung gewesen wäre. Es ist ausreichend, dass es eine zulässige ist. Das hat der Senat in dem Parallelverfahren ( - Rn. 71) bereits entschieden und verweist darauf zur Begründung.

20b) Der Beklagte hat sich darauf berufen, dass selbst unter Zugrundelegung der Annahme des Klägers, dass der bis zum weiterbeschäftigte Herr A sozial weniger schutzbedürftig sei, nicht der Kläger, sondern Herr M eine Kündigung erst zum Ende der Ausproduktion erhalten hätte. Angesichts der geringen Unterschiede in der sozialen Schutzbedürftigkeit wäre die Weiterbeschäftigung des Herrn M bis zum anstelle des Klägers eine objektiv vertretbare Auswahlentscheidung, die unter Berücksichtigung des Wertungsspielraums des Beklagten die sozialen Auswahlkriterien gemäß § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ausreichend berücksichtigt hätte und nicht grob fehlerhaft gewesen wäre. Während der 1975 geborene, einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte, verheiratete Kläger mit zwei Kindern seit 1992 beschäftigt ist, weist der 1968 geborene, unverheiratete Herr M mit einem Kind eine Beschäftigungszeit seit 1985 auf. Herr M ist daher sieben Jahre älter und sieben Jahre länger beschäftigt als der Kläger, hat allerdings zwei Unterhaltspflichten weniger und ist weder schwerbehindert noch gleichgestellt, wobei die Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung im Anwendungsbereich des § 125 InsO kein beachtliches Kriterium ist. In diesem Fall nicht den Kläger, sondern Herrn M bis zum zu beschäftigen, genügte unter Berücksichtigung des Wertungsspielraums bei der sozialen Auswahl den gesetzlichen Anforderungen. Die Kündigung des Klägers zum nächstzulässigen Termin stellt sich daher, wenn auch rein zufällig, als eine zulässige Auswahlentscheidung dar.

21Dem Vorbringen des Beklagten ist der Kläger nicht weiter entgegengetreten. Insbesondere hat er sich nicht auf weitere Arbeitnehmer berufen, die zwar bis zum beschäftigt wurden, gleichwohl aber weniger sozial schutzbedürftig als er selbst seien.

22c) Dem Beklagten war es nicht aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, eine hypothetische soziale Auswahl in den Rechtsstreit einzuführen, auch wenn die Betriebsratsanhörung hierzu keine Informationen enthielt. Auf die Frage, ob dem Betriebsrat die Sozialdaten sämtlicher Arbeitnehmer mitgeteilt worden sind, kommt es dabei nicht an.

23aa) Der Arbeitgeber, der bei einer durchgeführten Sozialauswahl bestimmte Arbeitnehmer übersehen oder für nicht vergleichbar gehalten und deshalb dem Betriebsrat die für die soziale Auswahl (objektiv) erheblichen Umstände nicht mitgeteilt hat, ist grundsätzlich berechtigt, seinen Vortrag auf entsprechende Rüge im Prozess zu ergänzen. Darin liegt kein nach § 102 BetrVG unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen (vgl.  - Rn. 42, BAGE 130, 182; - 2 AZR 385/99 - zu B IV 3 b der Gründe mwN). Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitgeber aus nachvollziehbaren Gründen bei Erklärung der Kündigung davon ausgegangen ist, eine Sozialauswahl sei insgesamt entbehrlich ( - Rn. 48). Da der Arbeitgeber bei der Betriebsratsanhörung regelmäßig noch nicht wissen kann, welche Unwirksamkeitsgründe der Arbeitnehmer gegenüber der Kündigung in einem etwaigen Kündigungsschutzprozess geltend machen will, wäre der Arbeitgeber weitgehend rechtlos gestellt, würde man ihm insoweit ergänzenden Sachvortrag abschneiden. Der vom Arbeitnehmer geltend gemachte Unwirksamkeitsgrund führte dann im Regelfall zu seinem Obsiegen, weil dem Arbeitgeber eine substantiierte Erwiderung zu dem vorgetragenen Sachverhalt aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen verwehrt wäre (vgl.  - zu B III 2 c der Gründe).

24bb) Danach liegt kein unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen vor. Die Betriebsparteien haben zunächst eine soziale Auswahl insgesamt für entbehrlich gehalten, da allen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte. Auf die entsprechende Rüge des Klägers hin konnte der Beklagte sodann im Prozess seinen Vortrag ergänzen und zu den für eine hypothetische Sozialauswahl maßgeblichen sozialen Daten der mit dem Kläger vergleichbaren Arbeitnehmer und deren Gewichtung vortragen. Das ist letztlich Konsequenz des Grundsatzes der subjektiven Determination. Dabei haben entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts die Betriebsparteien vorliegend nicht zahlreiche Auswahlentscheidungen getroffen, wobei der Beklagte nunmehr im Prozess die Gründe für die getroffene Auswahlentscheidung austauscht. Vielmehr ist - auch nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts - eine Auswahlentscheidung der Betriebsparteien gemäß § 1 Abs. 3 KSchG gänzlich unterblieben.

25II. Die Kostentragungspflicht des Klägers folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:081222.U.6AZR32.22.0

Fundstelle(n):
BB 2023 S. 1139 Nr. 20
BB 2023 S. 1203 Nr. 21
NJW 2023 S. 10 Nr. 21
NJW 2023 S. 1836 Nr. 25
RAAAJ-38981