Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 14, 15 und 24 – Ladepunkte für Elektrofahrzeuge – Bereitstellung von Vorrichtungen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen, Lieferung der erforderlichen Elektrizität sowie Leistung von technischer Unterstützung und von IT‑Diensten – Einstufung als ‚Lieferung von Gegenständen‘ oder ‚Dienstleistung
Leitsatz
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine komplexe einheitliche Leistung eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in geänderter Fassung darstellt, wenn sie sich zusammensetzt aus
der Bereitstellung von Ladevorrichtungen für Elektrofahrzeuge (einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs),
der Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterien des Elektrofahrzeugs,
der notwendigen technischen Unterstützung für die betreffenden Nutzer und
der Bereitstellung von IT‑Anwendungen, die es dem betreffenden Nutzer ermöglichen, einen Anschluss zu reservieren, den Umsatzverlauf einzusehen und in einer elektronischen Geldbörse gespeicherte Guthaben zu erwerben und sie für die Bezahlung der Aufladungen zu verwenden.
Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 14, RL 2006/112/EG Art. 15, RL 2006/112/EG Art. 24
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom (ABl. 2010, L 10, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) und P. w W. wegen eines Antrags auf Aufhebung eines Steuervorbescheids vom (im Folgenden: Steuervorbescheid).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/112
3 In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…“
4 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“
5 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt sind Elektrizität, Gas, Wärme oder Kälte und ähnliche Sachen.“
6 Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.“
Richtlinie 2014/94/EU
7 Art. 4 Abs. 8 der Richtlinie 2014/94/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (ABl. 2014, L 307, S. 1) lautet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Betreiber von öffentlich zugänglichen Ladepunkten von jedem Elektrizitätsversorgungsunternehmen in der Union – vorbehaltlich der Zustimmung des Versorgungsunternehmens – ungehindert Strom beziehen können. Die Betreiber von Ladepunkten dürfen den Kunden Leistungen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen auf der Grundlage eines Vertrags, auch im Namen und Auftrag anderer Dienstleister, erbringen.“
Polnisches Recht
8 Art. 7 Abs. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom (Dz. U., Nr. 54, Position 535) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Als Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über die Gegenstände zu verfügen …“
9 Art. 8 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
„Als Dienstleistung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt jede Leistung an eine natürliche Person, eine juristische Person oder eine nicht rechtsfähige Organisationseinheit, die keine Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 7 ist …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
10 P. w W. beabsichtigt, eine Tätigkeit auszuüben, die in der Errichtung und dem Betrieb von öffentlich zugänglichen Ladestationen für Elektrofahrzeuge besteht. Diese Ladestationen würden mit sogenannten Multistandard-Ladegeräten ausgestattet, die sowohl über Schnellladeanschlüsse mit Gleichstrom als auch über Langsamladeanschlüsse mit Wechselstrom verfügten. Die normale Ladezeit eines Elektrofahrzeugs auf 80 % der Batteriekapazität mittels Schnellladeanschlüssen werde etwa 20 bis 30 Minuten betragen. Die Ladezeit eines Fahrzeugs mittels Langsamladeanschlüssen werde etwa vier bis sechs Stunden betragen.
11 Der den Nutzern in Rechnung gestellte Preis werde insbesondere von der Ladezeit, ausgedrückt in Stunden für Langsamladeanschlüsse bzw. in Minuten für Schnellladeanschlüsse, sowie von der von dem betreffenden Nutzer gewählten Art des Anschlusses abhängen. Die Zahlungen könnten nach jedem Ladevorgang oder am Ende eines vereinbarten Abrechnungszeitraums geleistet werden, ohne dass die Möglichkeit ausgeschlossen werde, ein System einzurichten, das den Kauf von Guthaben ermögliche, die in einer elektronischen Geldbörse angesammelt werden und zum Aufladen des betreffenden Elektrofahrzeugs verwendet werden könnten.
12 Die bei jedem Ladevorgang erbrachte Leistung könne grundsätzlich je nach dem Bedarf des betreffenden Nutzers folgende Umsätze umfassen:
Bereitstellung von Ladevorrichtungen, einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs,
Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterie des Elektrofahrzeugs sowie
notwendige technische Unterstützung.
13 P. w W. beabsichtige auch, eine spezielle Plattform, Website oder Anwendungssoftware bereitzustellen, über die die jeweiligen Nutzer einen bestimmten Anschluss reservieren und den Verlauf der getätigten Umsätze und der erfolgten Zahlungen einsehen könnten.
14 Für alle diese Leistungen werde P. w W. einen einheitlichen Preis in Rechnung stellen.
15 P. w W. beantragte bei der Steuerbehörde die Erteilung eines Steuervorbescheids, mit dem bescheinigt werde, dass es sich bei der geplanten Tätigkeit um eine „Dienstleistung“ im Sinne von Art. 8 des Mehrwertsteuergesetzes handele.
16 In dem Steuervorbescheid vertrat die Steuerbehörde die Auffassung, dass die Lieferung der für das Aufladen eines Elektrofahrzeugs erforderlichen Elektrizität als die Hauptleistung anzusehen sei, während die anderen von P. w W. angebotenen (Dienst‑)Leistungen als Nebenleistungen anzusehen seien. Daraus folge, dass die Bereitstellung von Geräten, die ein rasches Aufladen von Elektrofahrzeugen ermöglichten, durch P. w W. nicht als der dominierende Bestandteil des betreffenden Umsatzes anzusehen sei und dass das Aufladen des Fahrzeugs nicht von untergeordneter Bedeutung sei.
17 Auf eine Klage von P. w W. hob der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) mit Urteil vom den Steuervorbescheid auf. Dieses Gericht meinte, die primäre Absicht der Nutzer von Ladestationen bestehe darin, Geräte zu nutzen, die es ihnen ermöglichten, ihr Fahrzeug schnell und effizient aufladen zu können. Damit bestehe die Hauptleistung aus der Sicht des betreffenden Nutzers im Zugang zu einer Ladestation und in der notwendigen Verbindung eines Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs. Ziel eines solchen Umsatzes sei es nicht, Elektrizität anzubieten, sondern den betreffenden Nutzern die hochentwickelten Ladevorrichtungen zur Verfügung zu stellen, mit denen diese Ladestationen ausgestattet seien.
18 Zum einen würden die betreffenden Nutzer, wenn es ihnen nur um den Kauf von Elektrizität für ihre Elektrofahrzeuge gehen würde, das Netz bei sich zu Hause oder das Netz an ihrem Arbeitsplatz nutzen, anstatt auf öffentliche Ladestationen zurückzugreifen. Sie entschieden sich für die Nutzung öffentlicher Ladestationen allein aufgrund der dort verfügbaren Ladeanschlüsse mit verschiedenen Standards, die ein schnelleres und effizienteres Aufladen der Batterien von Elektrofahrzeugen ermöglichten. Zum anderen werde der Preis nicht nach Maßgabe der geladenen Elektrizität berechnet. Unter diesen Umständen ergebe sich die Attraktivität des Angebots von Stationen zum Aufladen dieser Fahrzeuge hauptsächlich aus der Ladezeit und nicht aus dem Zugang zur Elektrizität als solcher.
19 Die Leistung von P. w W. unterscheide sich von derjenigen von Tankstellen, die herkömmliche Kraftstoffe anböten, da dabei nicht auf die Art oder die Qualität von Kraftstoffen abgestellt werde, die bei jedem Lieferanten identisch seien, sondern auf die Schnelligkeit und die Effizienz des Aufladens, wobei es auf die Merkmale der den betreffenden Nutzern zur Verfügung gestellten Geräte ankomme.
20 Die Steuerbehörde legte bei dem vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen das in Rn. 17 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) ein. Zur Stützung der Kassationsbeschwerde macht die Steuerbehörde geltend, dass bei der entgeltlichen Bereitstellung von Stationen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen die Hauptleistung in einer Lieferung von Gegenständen, nämlich von Elektrizität, bestehe.
21 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind die drei in Rn. 12 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umsätze eng miteinander verbunden, so dass sie einen einheitlichen komplexen Umsatz darstellen. Dagegen stelle die Einrichtung einer speziellen Plattform, Website oder Anwendungssoftware, die es dem betreffenden Nutzer ermögliche, einen bestimmten Anschluss zu reservieren und den Verlauf der getätigten Umsätze und Zahlungen einzusehen, eine Nebenleistung dar, die Teil dieses einheitlichen komplexen Umsatzes sei und den Verbrauchern das Aufladen ihrer Fahrzeuge erleichtern solle.
22 Das vorlegende Gericht meint, in Anbetracht dessen, dass der Zugang zu den Ladevorrichtungen, der den Kunden angeboten werde, um sicherzustellen, dass Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterie des Fahrzeugs übertragen werde, kein Nebenbestandteil der Lieferung von Elektrizität sei, müsse der dominierende Bestandteil der in den Rn. 12 und 21 des vorliegenden Urteils beschriebenen einheitlichen Leistung bestimmt werden. In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Ansicht von P. w W. die Entscheidung, die Dienste einer bestimmten Ladestation in Anspruch zu nehmen, durch den Wunsch bestimmt werden könne, die für das Aufladen des Fahrzeugs erforderliche Zeit zu verkürzen, um eine Fahrt rasch fortsetzen zu können. Ausschlaggebend aus der Sicht des betreffenden Nutzers sei daher weniger der Energiepreis als vielmehr der Zugang zu einer spezialisierten Infrastruktur, die eine kürzere Aufenthaltsdauer an der Ladestation gewährleiste.
23 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass die Nutzung der Ladestationen keinen Selbstzweck darstelle, sondern das Aufladen der Batterie eines Elektrofahrzeugs ermöglichen solle. Im Zusammenhang damit hätten die Nutzer dieser Stationen die Wahl zwischen Schnell- und Langsamladepunkten, die sie nicht nur nach Maßgabe der Ladezeit, sondern auch unter Berücksichtigung der Merkmale der Batterie des Fahrzeugs auswählten. Der Zugang zu den Ladevorrichtungen stelle daher das Mittel dar, um die Lieferung von Elektrizität, die die dominierende Leistung darstelle, unter besseren Bedingungen in Anspruch zu nehmen.
24 Allerdings ließen zum einen der Umstand, dass der Preis für das Aufladen auch eine Gebühr für das Abstellen des Fahrzeugs umfasse, und zum anderen die Bezugnahme in Art. 4 Abs. 8 der Richtlinie 2014/94 auf von den Betreibern von Ladepunkten erbrachte „Leistungen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen“ Zweifel hinsichtlich der Einstufung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einheitlichen Leistung als „Lieferung von Gegenständen“ oder als „Dienstleistung“ im Sinne der Richtlinie 2006/112 aufkommen.
25 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Handelt es sich bei der komplexen Leistung, die an Ladepunkten an die Nutzer von Elektrofahrzeugen erbracht wird und Folgendes umfasst:
Bereitstellung von Ladevorrichtungen (einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs),
Sicherstellung der Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterien des Elektrofahrzeugs,
notwendige technische Unterstützung für die Fahrzeugnutzer,
Bereitstellung einer speziellen Plattform, Website oder Anwendungssoftware für die Nutzer, mit der der betreffende Anschluss reserviert werden kann und der Umsatzverlauf sowie getätigte Zahlungen eingesehen werden können, wobei auch die Nutzung einer sogenannten elektronischen Geldbörse angeboten wird, mit der für die einzelnen Ladevorgänge gezahlt werden kann,
um eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 oder um eine „Dienstleistung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine komplexe einheitliche Leistung eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie oder eine „Dienstleistung“ im Sinne ihres Art. 24 Abs. 1 darstellt, wenn sie sich zusammensetzt aus
der Bereitstellung von Ladevorrichtungen für Elektrofahrzeuge (einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs);
der Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterien des Elektrofahrzeugs;
der notwendigen technischen Unterstützung für die betreffenden Nutzer;
der Bereitstellung von IT‑Anwendungen, die es dem betreffenden Nutzer ermöglichen, einen Anschluss zu reservieren, den Umsatzverlauf einzusehen und in einer elektronischen Geldbörse gespeicherte Guthaben zu erwerben und sie für die Bezahlung der Aufladungen zu verwenden.
27 Es ist darauf hinzuweisen, dass bei einem Umsatz, der verschiedene Einzelleistungen und Handlungen umfasst, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, um zu bestimmen, ob dieser Umsatz für Zwecke der Mehrwertsteuer zwei oder mehr getrennte Leistungen oder eine einheitliche Leistung umfasst und ob im letztgenannten Fall diese einheitliche Leistung als „Lieferung von Gegenständen“ oder als „Dienstleistung“ einzustufen ist (Urteile vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 52, und vom , Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Insbesondere ergibt sich zwar aus Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112, dass jeder Umsatz in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, doch darf ein Umsatz, der eine wirtschaftlich einheitliche Leistung darstellt, im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden. Insoweit ist davon auszugehen, dass eine einheitliche Leistung dann vorliegt, wenn zwei oder mehr Einzelleistungen oder Handlungen des Steuerpflichtigen für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 53, und vom , Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Unter bestimmten Umständen sind ferner mehrere formal eigenständige Leistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung oder Befreiung führen könnten, als einheitlicher Umsatz anzusehen, wenn sie nicht voneinander unabhängig sind (Urteil vom , Everything Everywhere, C‑276/09, EU:C:2010:730, Rn. 23).
30 Das ist namentlich dann der Fall, wenn ein oder mehrere Teile als die Hauptleistung, andere Teile dagegen als eine oder mehrere Nebenleistungen anzusehen sind, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Eine Leistung ist insbesondere dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 54, und vom , Frenetikexito, C‑581/19, , Rn. 41).
31 Ob die betreffende Leistung unter den Umständen des konkreten Falles eine einheitliche Leistung darstellt, haben im Rahmen der mit Art. 267 AEUV errichteten Zusammenarbeit die nationalen Gerichte festzustellen, die dazu alle endgültigen Tatsachenbeurteilungen vorzunehmen haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 55, und vom , Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Im Ausgangsverfahren geht es um eine Kombination von Umsätzen, die in der Lieferung von Elektrizität zum Aufladen von Elektrofahrzeugen und der Erbringung verschiedener Dienstleistungen wie der Einrichtung des Zugangs zu Ladepunkten und der Erleichterung ihrer Nutzung, der notwendigen technischen Unterstützung und IT‑Anwendungen, die die Reservierung eines Anschlusses, die Verfolgung des Umsatzverlaufs und die Bezahlung der Umsätze ermöglichen, bestehen. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellen die Lieferung und die Leistung, um die es geht, für die Zwecke der Mehrwertsteuer einen einheitlichen Umsatz dar. Angesichts der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ist nicht ersichtlich, dass diese Einstufung gegen eines der in den Rn. 27 bis 30 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien verstößt.
33 In Bezug auf den Begriff „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne der Richtlinie 2006/112 bestimmt deren Art. 14 Abs. 1, dass als solche die Übertragung der Befähigung gilt, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Dieser Begriff umfasst jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 59, und vom , Herst, C‑401/18, EU:C:2020:295, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem wird nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie Elektrizität einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt.
34 Was den Begriff „Dienstleistung“ im Sinne der Richtlinie 2006/112 betrifft, geht aus deren Art. 24 Abs. 1 hervor, dass darunter jeder Umsatz fällt, der keine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 dieser Richtlinie ist.
35 Bei der Prüfung, ob eine komplexe einheitliche Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende als „Lieferung von Gegenständen“ oder als „Dienstleistung“ im Sinne dieser Richtlinie einzustufen ist, sind sämtliche Umstände, unter denen der Umsatz abgewickelt wird, zu berücksichtigen, um dessen charakteristische Bestandteile zu ermitteln und darunter die dominierenden Bestandteile zu bestimmen. Die fraglichen Bestandteile sind aus der Sicht des durchschnittlichen Nutzers von Ladepunkten und – im Rahmen einer Gesamtbetrachtung – mit Rücksicht auf die qualitative und nicht nur quantitative Bedeutung der Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Gegenständen zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 61 und 62 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
36 So greift zum einen die Bezugnahme in Art. 4 Abs. 8 der Richtlinie 2014/94 auf „Leistungen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen“ der Einstufung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsatzes als „Lieferung von Gegenständen“ oder als „Dienstleistung“ im Sinne der Richtlinie 2006/112 nicht vor. Zweck der Richtlinie 2014/94 ist nämlich nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Mindestanforderungen für die Errichtung der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe einschließlich Ladepunkten für Elektrofahrzeuge. Sie hat daher nicht zum Ziel, irgendeine Regelung über die mehrwertsteuerliche Behandlung der Versorgung mit alternativem Kraftstoff zu treffen.
37 Zum anderen können, da die Vermarktung eines Gegenstands stets mit einer minimalen Dienstleistung verbunden ist, bei der Beurteilung des Anteils der Dienstleistung an der Gesamtheit einer komplexen Leistung, zu der auch die Lieferung eines Gegenstands gehört, nur diejenigen Dienstleistungen berücksichtigt werden, die sich von denen unterscheiden, die notwendig mit der Vermarktung des betreffenden Gegenstands verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 63, und vom , Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Katowicach, C‑703/19, EU:C:2021:314, Rn. 50).
38 Insoweit stellt erstens der Umsatz, der in der Übertragung von Elektrizität an die Batterie eines Elektrofahrzeugs besteht, eine Lieferung von Gegenständen dar, da er den Nutzer des Ladegeräts ermächtigt, die übertragene Elektrizität, die nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt ist, zum Zweck des Antriebs seines Fahrzeugs zu verbrauchen.
39 Zweitens setzt eine solche Versorgung der Batterie eines Elektrofahrzeugs mit Elektrizität den Einsatz einer geeigneten Ladevorrichtung voraus, die ein mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs zu verbindendes Ladegerät einschließen kann. Folglich stellt die Gewährung des Zugangs zu dieser Vorrichtung eine minimale Dienstleistung dar, die notwendig mit der Lieferung von Elektrizität verbunden ist, und kann daher bei der Beurteilung des Anteils, den die Dienstleistung an der Gesamtheit eines komplexen Umsatzes ausmacht, der auch diese Lieferung von Elektrizität umfasst, nicht berücksichtigt werden.
40 Drittens stellt die technische Unterstützung, die für die betreffenden Nutzer notwendig sein kann, ihrerseits keinen eigenen Zweck dar, sondern das Mittel, um die Lieferung der für den Antrieb des Elektrofahrzeugs erforderlichen Elektrizität unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen. Sie stellt somit eine Nebenleistung zu dieser Lieferung von Elektrizität dar.
41 Dies gilt auch für die Bereitstellung von IT‑Anwendungen, die es dem betreffenden Nutzer ermöglichen, einen Anschluss zu reservieren, den Umsatzverlauf einzusehen und Guthaben für die Bezahlung der Aufladungen zu erwerben. Solche Leistungen bieten dem Nutzer nämlich bestimmte zusätzliche praktische Möglichkeiten, die allein darauf abzielen, die Übertragung der für das Aufladen seines Fahrzeugs erforderlichen Elektrizität zu verbessern und einen Überblick über die in der Vergangenheit getätigten Umsätze zu geben.
42 Daraus folgt, dass die Übertragung von Elektrizität grundsätzlich den charakteristischen und dominierenden Bestandteil der einheitlichen und komplexen Leistung darstellt, zu der das vorlegende Gericht den Gerichtshof befragt.
43 Dieses Ergebnis wird nicht durch den von diesem Gericht angeführten Umstand in Frage gestellt, dass bei der Berechnung des für das Aufladen eines Elektrofahrzeugs geschuldeten Betrags nicht nur die Menge der übertragenen Elektrizität, sondern auch eine Gebühr für die Abstellzeit während dieses Aufladens berücksichtigt werden kann. Insbesondere bedeutet dies lediglich, dass sich der Preis je Einheit des gelieferten Gegenstands, d. h. der Elektrizität, nicht nur aus den Kosten für die Elektrizität als solche zusammensetzt, sondern auch aus der Nutzungszeit der den betreffenden Nutzern zur Verfügung gestellten Geräte.
44 Die in Rn. 42 des vorliegenden Urteils dargelegte Schlussfolgerung wird auch nicht entkräftet, wenn der betreffende Wirtschaftsteilnehmer den Preis allein auf der Grundlage der Dauer des Aufladens berechnet. Da nämlich die Menge der gelieferten Elektrizität von der während der Zeit der entsprechenden Übertragung übertragenen Leistung abhängt, spiegelt auch eine solche Berechnung den Preis je Einheit dieser Elektrizität wider.
45 In ähnlicher Weise reicht der bloße Umstand, dass der Preis je Einheit beim Schnellladen mit Gleichstrom geringfügig höher ist als der bei einem langsamen Aufladen mit Wechselstrom, nicht aus, um aus der Sicht des betreffenden Nutzers die Schnelligkeit und Effizienz dieses Aufladens zu einem charakteristischen und dominierenden Bestandteil des betreffenden Umsatzes zu machen.
46 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine komplexe einheitliche Leistung eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellt, wenn sie sich zusammensetzt aus
der Bereitstellung von Ladevorrichtungen für Elektrofahrzeuge (einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs),
der Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterien des Elektrofahrzeugs,
der notwendigen technischen Unterstützung für die betreffenden Nutzer und
der Bereitstellung von IT‑Anwendungen, die es dem betreffenden Nutzer ermöglichen, einen Anschluss zu reservieren, den Umsatzverlauf einzusehen und in einer elektronischen Geldbörse gespeicherte Guthaben zu erwerben und sie für die Bezahlung der Aufladungen zu verwenden.
Kosten
47 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine komplexe einheitliche Leistung eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in geänderter Fassung darstellt, wenn sie sich zusammensetzt aus
der Bereitstellung von Ladevorrichtungen für Elektrofahrzeuge (einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs),
der Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterien des Elektrofahrzeugs,
der notwendigen technischen Unterstützung für die betreffenden Nutzer und
der Bereitstellung von IT‑Anwendungen, die es dem betreffenden Nutzer ermöglichen, einen Anschluss zu reservieren, den Umsatzverlauf einzusehen und in einer elektronischen Geldbörse gespeicherte Guthaben zu erwerben und sie für die Bezahlung der Aufladungen zu verwenden.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2023:312
Fundstelle(n):
ZAAAJ-38640