Urlaubs- und Weihnachtsgeld - betriebliche Übung - vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt - Auslegung - Vorrang der Individualabrede - Leistungsbestimmung durch das Gericht
Gesetze: § 305b BGB, § 305c Abs 2 BGB, § 307 Abs 1 S 1 BGB, § 315 Abs 1 BGB, § 315 Abs 3 S 1 BGB, § 315 Abs 3 S 2 BGB, § 133 BGB, § 157 BGB, § 108 Abs 1 GewO
Instanzenzug: Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen Az: 1 Ca 234/21 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 9 Sa 66/21 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld für das Kalenderjahr 2020 und über die Erteilung einer Lohnabrechnung.
2Der Kläger ist seit dem bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Der unter dem geschlossene Arbeitsvertrag enthält ua. folgende Regelungen:
3Die Arbeitgeberin zahlte jedenfalls in den Kalenderjahren 2015 bis 2019 jeweils im Abrechnungsmonat Juni ein Urlaubsgeld iHv. zuletzt 1.522,50 Euro brutto und im Abrechnungsmonat November ein Weihnachtsgeld iHv. zuletzt 1.540,00 Euro brutto zusammen mit dem jeweiligen Monatsentgelt ohne weitere Erklärungen an den Kläger aus. Im Jahr 2020 stellte die Beklagte die Zahlung ein. In einer Mitteilung vom informierte die Beklagte ihre Mitarbeiter/-innen über die Einführung eines sog. KPI-Systems. Darin heißt es ua.:
4Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe auch für das Kalenderjahr 2020 ein Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu, da diese Zahlungen vorbehaltlos während der gesamten Beschäftigungsdauer geleistet worden seien. Auch andere Mitarbeiter hätten entsprechende Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen erhalten. Die arbeitsvertragliche Freiwilligkeitsklausel sei unwirksam.
5Der Kläger hat beantragt,
6Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, das Entstehen einer betrieblichen Übung oder eines individuellen Anspruchs werde bereits durch Nr. 3 Buchst. e des Arbeitsvertrags verhindert. Der Vorrang der Individualabrede habe bei einem solchen Freiwilligkeitsvorbehalt nicht ausdrücklich klargestellt werden müssen. Für die Annahme einer betrieblichen Übung fehle es im Übrigen bereits an einer hinreichenden Darlegung eines kollektiven Elements seitens des Klägers. Im Jahr 2020 habe aus wirtschaftlichen Gründen kein Arbeitnehmer Urlaubs- oder Weihnachtsgeld erhalten, was allen Beschäftigten so mitgeteilt worden sei. Unabhängig davon sei eine Abrechnung etwaiger Ansprüche vor Zahlung nicht erfolgreich einklagbar.
7Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr auf die Berufung des Klägers stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Gründe
8Die zulässige Revision der Beklagten ist nur hinsichtlich der Verurteilung zur Erteilung einer Abrechnung begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.
9I. Die Revision der Beklagten ist hinsichtlich der Ansprüche des Klägers auf Zahlung eines Urlaubs- und Weihnachtsgelds für das Kalenderjahr 2020 mit Ausnahme eines geringfügigen Teils der Zinsforderung unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das arbeitsgerichtliche Urteil auf die Berufung des Klägers insoweit zu Recht abgeändert. Die Klage ist hinsichtlich der Hauptforderung und des überwiegenden Teils der Zinsforderung begründet.
101. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld in nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) festzusetzender Höhe folgt aus betrieblicher Übung. Der Freiwilligkeitsvorbehalt unter Nr. 3 Buchst. e des Arbeitsvertrags und die unter Nr. 10 aufgenommene Schriftformklausel stehen einem Anspruch aus betrieblicher Übung nicht entgegen.
11a) Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille, sondern wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und ob er auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durfte (vgl. - Rn. 18 mwN). Bei den durch betriebliche Übung begründeten Vertragsbedingungen handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. §§ 305 ff. BGB ( - Rn. 14, BAGE 141, 324; - 10 AZR 483/08 - Rn. 13).
12b) Bei Zahlung einer über das arbeitsvertraglich vereinbarte Gehalt hinausgehenden Vergütung ist durch Auslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln, ob sich der Arbeitgeber nur zu der konkreten Leistung (bspw. Gratifikation im Kalenderjahr) oder darüber hinaus auch für die Zukunft verpflichtet hat ( - Rn. 11; - 10 AZR 526/10 - Rn. 11, BAGE 139, 156). Eine vertragliche Bindung wird regelmäßig anzunehmen sein, wenn besondere Umstände ein schutzwürdiges Vertrauen der Arbeitnehmer begründen ( - Rn. 12, aaO). Dabei kommt dem konkreten Verhalten des Arbeitgebers, insbesondere dessen Intensität und Regelmäßigkeit, entscheidendes Gewicht zu. Für jährlich an die gesamte Belegschaft geleistete Gratifikationen ist insoweit die Regel aufgestellt worden, nach der eine zumindest dreimalige vorbehaltlose Gewährung zur Verbindlichkeit erstarkt, falls nicht besondere Umstände hiergegen sprechen oder der Arbeitgeber bei der Zahlung einen Bindungswillen für die Zukunft ausgeschlossen hat (vgl. - Rn. 12 mwN, aaO).
13c) Nach diesen Grundsätzen sind die tatbestandlichen Voraussetzungen einer betrieblichen Übung auf Gewährung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld nach billigem Ermessen erfüllt.
14aa) Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der für einen Anspruch aus betrieblicher Übung darlegungs- und beweisbelastete Kläger alle anspruchsbegründenden Tatsachen einschließlich des erforderlichen kollektiven Tatbestands im Lauf des Verfahrens hinreichend dargelegt. Er hat insbesondere unter Beweisantritt vorgetragen, dass die Beklagte in den vergangenen Kalenderjahren nicht nur an ihn, sondern auch an weitere Beschäftigte ein Urlaubs- und Weihnachtsgeld jeweils in den Abrechnungsmonaten Juni und November gezahlt hat. Dem entspricht auch die vom Kläger eingereichte Mitteilung der Beklagten vom , in welcher die Beklagte darauf hinweist, dass die Einführung des genannten Bonussystems die in der Vergangenheit erfolgte „klassische Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlung“ ersetzen soll. Darüber hinaus hat der Kläger vorgetragen, dass die Zahlungen ohne Vorbehalt oder sonstige Erklärung erfolgt seien, was sich auch aus den von ihm eingereichten Entgeltabrechnungen für die Monate Juni und November 2019 ergibt.
15bb) Die Beklagte ist diesem Vorbringen des Klägers nicht durch substantiierten Vortrag entgegengetreten; sie konnte sich angesichts dessen schlüssigen Vortrags nicht auf ein pauschales Bestreiten beschränken. Vielmehr war sie nach den Regeln der abgestuften Darlegungslast im Prozess gemäß § 138 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO gehalten, sich auf dieses Vorbringen vollständig zu erklären. Daran fehlt es hier. Die Beklagte hat nicht bestritten, dass an die vom Kläger benannten Arbeitnehmer Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen erbracht wurden. Der Inhalt der an die „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ gerichteten Mitteilung der Beklagten vom ist unstreitig. Die Beklagte hat auch nicht konkret dargelegt, ob und ggf. an welche Arbeitnehmer(-gruppen) keine Zahlungen erfolgten, sondern lediglich eine allgemeine Zahlung bestritten. Dass das Urlaubsgeld etwa akzessorisch zum Erholungsurlaub geleistet wurde (vgl. dazu - Rn. 11, BAGE 168, 54), hat sie nicht behauptet. Soweit sie eine vorbehaltlose Zahlung in der Vergangenheit bestritten hat, folgt aus ihrem Vortrag nicht, dass sie über die Aufnahme der umstrittenen Klausel in den Arbeitsvertrag hinaus bei der Auszahlung der Leistung einen entsprechenden Vorbehalt erklärt hatte. Das Vorbringen der Beklagten erschöpft sich in einem erfolglosen Angriff auf die Schlüssigkeit des Sachvortrags des Klägers.
16cc) Die gebotene Auslegung des bisherigen Verhaltens der Beklagten lässt aus Sicht der betroffenen Arbeitnehmer auf einen entsprechenden Verpflichtungswillen der Arbeitgeberin schließen.
17(1) Nach den vorstehenden Grundsätzen unter Berücksichtigung der konkreten Einzelfallumstände wie der Häufigkeit der Leistung und der jeweils vorbehaltlos erfolgten Auszahlung konnten die bei der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer - so auch der Kläger - die über die Dauer von mehreren Jahren erfolgten Zahlungen der Zuwendungen in Form von Urlaubs- und Weihnachtsgeld unter Beachtung von Treu und Glauben nur so auffassen, dass sich die Rechtsvorgängerin der Beklagten und ihr folgend die Beklagte verpflichten wollten, jährlich und damit auch zukünftig Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu gewähren.
18(2) Der Umstand, dass die jeweiligen Zahlungen nicht in gleichbleibender Höhe erfolgten, führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Aus der nicht gleichförmigen Höhe der Sonderzahlung in den vergangenen Jahren mussten die Beschäftigten nicht den Schluss ziehen, die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin habe sich nicht dem Grund nach auf Dauer binden wollen. Vielmehr folgt daraus lediglich, dass die Arbeitgeberin keinen Leistungsanspruch in fester Höhe gewähren, sondern jedes Jahr neu nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) über die Höhe der beiden Leistungen entscheiden will (vgl. zur Gewährung einer jährlichen Sonderzahlung in unterschiedlicher Höhe - Rn. 19). Hiervon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgegangen.
19d) Der in den Arbeitsvertrag unter Nr. 3 Buchst. e aufgenommene Freiwilligkeitsvorbehalt steht der Annahme einer betrieblichen Übung und eines daraus folgenden Anspruchs auf Zahlung eines jährlichen Urlaubs- und Weihnachtsgelds nicht entgegen. Dieser ist - wie das Landesarbeitsgericht zu Recht erkannt hat - unwirksam, weil die diesbezügliche Bestimmung den Kläger gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unangemessen benachteiligt.
20aa) Der Arbeitsvertrag vom enthält Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. §§ 305 ff. BGB. Dies gilt auch für den sog. Freiwilligkeitsvorbehalt. Auch bei diesem handelt es sich um eine Vertragsbedingung iSv. § 305 Abs. 1 BGB (vgl. - Rn. 28 mwN, BAGE 147, 322).
21bb) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei nicht die Verständnismöglichkeiten des konkreten, sondern die des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind. Ansatzpunkt für die nicht am Willen der jeweiligen Vertragspartner zu orientierende Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Ist dieser nicht eindeutig, kommt es für die Auslegung entscheidend darauf an, wie der Vertragstext aus Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen ist, wobei der Vertragswille verständiger und redlicher Vertragspartner beachtet werden muss. Soweit auch der mit dem Vertrag verfolgte Zweck einzubeziehen ist, kann das nur in Bezug auf typische und von redlichen Geschäftspartnern verfolgte Ziele gelten (st. Rspr., zB - Rn. 17). Bleibt nach Ausschöpfung der Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel, geht dies gemäß § 305c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders. Der die Allgemeinen Geschäftsbedingungen verwendende Arbeitgeber muss bei Unklarheiten die ihm ungünstigste Auslegungsmöglichkeit gegen sich gelten lassen ( - Rn. 35 mwN, BAGE 139, 156). Die Anwendung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB setzt allerdings voraus, dass die Auslegung einer einzelnen AGB-Bestimmung mindestens zwei Ergebnisse als vertretbar erscheinen lässt und von ihnen keines den klaren Vorzug verdient. Es müssen „erhebliche Zweifel“ an der richtigen Auslegung bestehen. Die entfernte Möglichkeit, zu einem anderen Ergebnis zu kommen, genügt für die Anwendung der Bestimmung nicht (st. Rspr., zB - Rn. 44 mwN; - 4 AZR 387/20 - Rn. 15).
22cc) Mit der von ihr gestellten Klausel behält sich die Beklagte zunächst ein einseitiges Recht zur (erstmaligen) Entscheidung über die Gewährung von Sonderzuwendungen vor. Der Hinweis, derartige Zahlungen lägen im „freien Ermessen des Arbeitgebers“, bedeutet aber weitergehend, dass der Arbeitgeber sich deren Gewährung generell vorbehält und lediglich die - stets geltenden - allgemeinen Schranken der Rechtsausübung, insbesondere den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, die Willkür- und Maßregelungsverbote sowie den Grundsatz von Treu und Glauben zu beachten hat, die Entscheidung aber nicht am Maßstab der Billigkeit auszurichten ist (vgl. - Rn. 38, BAGE 146, 284). Dabei bezweckt die Klausel die Festlegung eines späteren Erklärungsverhaltens bereits im Vertrag, indem sie bestimmt, dass die Zahlung von Sonderzuwendungen auch dann keinen Rechtsanspruch für die Zukunft begründet, wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt. Sie zielt damit auf die Verhinderung des Entstehens jedes Rechtsanspruchs des Arbeitnehmers in Bezug auf Sonderzuwendungen, die nicht anderweitig im Vertrag festgelegt sind.
23dd) Mit diesem Inhalt hält die Vertragsklausel - wie das Landesarbeitsgericht zu Recht erkannt hat - der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht stand.
24(1) Mit dem Landesarbeitsgericht ist zunächst davon auszugehen, dass die Regelung nicht deshalb intransparent iSv. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ist, weil sie sich auf (alle) Sonderzuwendungen und nur „insbesondere“ auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld bezieht. Durch den Begriff „Sonderzuwendungen“ wird hinreichend deutlich, dass von dieser Klausel alle Zahlungen erfasst sein sollen, welche keine laufenden arbeitsvertraglich vereinbarten Leistungen (vgl. dazu - Rn. 36 f., BAGE 139, 156) sind. Auch wird durch den Begriff „Zahlung“ entgegen der Auffassung des Klägers nicht suggeriert, dass ein Anspruch auf derartige Sonderzahlungen begründet wird, der in einem weiteren Satz wieder genommen wird.
25(2) Die Klausel ist jedoch unwirksam nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, denn sie stellt nicht auf den Entstehungsgrund etwaiger Ansprüche auf Sonderzuwendungen ab und lässt nach Maßgabe des § 305c Abs. 2 BGB die Auslegung zu, dass der Vorbehalt auch spätere Individualabreden über die Zahlung von Sonderzuwendungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld erfasst. Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung, welche der vollen Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt (st. Rspr., vgl. zB - Rn. 17), lässt insoweit keine Rechtsfehler erkennen.
26(a) Nach § 305b BGB haben individuelle Vertragsabreden Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Individualabreden können grundsätzlich alle Abreden zwischen den Vertragsparteien außerhalb der einseitig vom Verwender vorgegebenen Geschäftsbedingungen sein. Sie können sowohl ausdrücklich als auch konkludent getroffen werden. Auch nachträglich getroffene Individualabreden haben Vorrang vor kollidierenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Es kommt nicht darauf an, ob die Parteien eine Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen beabsichtigt haben oder sich der Kollision mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen bewusst geworden sind. Mit diesem Vorrang der Individualabrede ist ein Freiwilligkeitsvorbehalt nicht zu vereinbaren, der so ausgelegt werden kann, dass er Rechtsansprüche aus späteren Individualabreden ausschließt ( - Rn. 51, BAGE 147, 322; - 10 AZR 526/10 - Rn. 39 mwN, BAGE 139, 156).
27(b) Ein solch weitgehendes Verständnis des Freiwilligkeitsvorbehalts liegt hier nahe, ist aber jedenfalls nach § 305c Abs. 2 BGB ernsthaft möglich. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist aus der vertraglichen Formulierung für den Arbeitnehmer nicht klar erkennbar, dass sich diese nur auf die Verhinderung einer betrieblichen Übung bezieht. Auf den Entstehungsgrund der Leistung stellt die Vertragsklausel nicht ab. Der Wortlaut von Nr. 3 Buchst. e des Arbeitsvertrags erfasst sowohl Fälle der betrieblichen Übung und auf einer Gesamtzusage beruhende Vereinbarungen als auch konkludente und sogar ausdrückliche vertragliche Einzelabreden. Eine Beschränkung auf die Verhinderung einer betrieblichen Übung oder die Vermeidung eines entsprechenden Erklärungswerts vorbehaltloser Zahlungen lässt sich dem Wortlaut hingegen nicht entnehmen. Zwar wird in der Klausel darauf hingewiesen, dass die Zahlung von Sonderzuwendungen auch dann im freien Ermessen des Arbeitgebers liege, wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt. Die Verwendung der Worte „auch wenn“ deutet jedoch darauf hin, dass eine anspruchsausschließende Wirkung der Zahlung gerade nicht nur im Fall einer vorbehaltlosen Gewährung der Leistung ohne ausdrückliche Vereinbarung erfolgen soll, sondern auch in anderen Fällen. Dies gilt umso mehr, als die Klausel vorliegend in Kombination mit einer einfachen Schriftformklausel (Nr. 10 des Arbeitsvertrags) verwendet wird. Dies verstärkt beim Vertragspartner des Verwenders ein Verständnis, wonach alle späteren Abreden, welche nicht in schriftlicher Form getroffen wurden, einschließlich Individualabreden, rechtlich entgegen § 305b BGB ohne Bedeutung für den Inhalt des Vertrags sein sollen (vgl. zur sog. doppelten Schriftformklausel unter dem Gesichtspunkt der Transparenz - Rn. 39 mwN, BAGE 126, 364).
28(c) Soweit die Revision einwendet, einer Beurteilung der Klausel als unwirksam stünden Vertrauensschutzgesichtspunkte (vgl. dazu im Rahmen der AGB-Kontrolle zuletzt - Rn. 25) entgegen, überzeugt dies nicht. Bereits vor Abschluss des Arbeitsvertrags der Parteien im Jahr 2015 hat der Senat eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers auch darin gesehen, dass ein vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt spätere Individualabreden iSv. § 305b BGB erfasst (vgl. - Rn. 38 ff., BAGE 139, 156). Es wäre Sache der Arbeitgeberin als Klauselverwenderin gewesen, für sie ungünstige Auslegungsvarianten von vornherein durch eine hinreichend deutliche Fassung des Vertragstexts auszuschließen.
29ee) Die den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligende Klausel kann auch nicht mit dem Inhalt aufrechterhalten werden, dass diese lediglich das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern soll. Insoweit kann sie auch nicht in reduzierter Form bei der Auslegung des Erklärungswerts des bisherigen Zahlungsverhaltens der Beklagten zu deren Gunsten berücksichtigt werden. Dies käme einer geltungserhaltenden Reduktion der Klausel gleich, welche im Rechtsfolgensystem des § 306 BGB nicht vorgesehen ist. Eine geltungserhaltende Reduktion wäre mit dem Zweck der §§ 305 ff. BGB, den Rechtsverkehr von unwirksamen Klauseln freizuhalten und auf einen angemessenen Inhalt der in der Praxis anzuwendenden Geschäftsbedingungen hinzuwirken, nicht vereinbar (st. Rspr., zuletzt zB - Rn. 22 mwN).
30e) Dem Anspruch des Klägers auf Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld steht auch nicht die unter Nr. 10 des Arbeitsvertrags vereinbarte einfache Schriftformklausel entgegen. Eine einfache Schriftformklausel, nach der Änderungen und Ergänzungen des Vertrags der Schriftform bedürfen, verhindert eine konkludente Vertragsänderung oder das Entstehen einer betrieblichen Übung nicht. Die Vertragsparteien können das für eine Vertragsänderung vereinbarte Schriftformerfordernis jederzeit schlüssig und formlos aufheben ( - Rn. 17, BAGE 139, 156; - 9 AZR 382/07 - Rn. 17, BAGE 126, 364 [betriebliche Übung]). Durch die vorbehaltlose Erbringung der Zahlungen seitens der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin und die widerspruchslose Entgegennahme der Zahlungen ist dies erfolgt.
312. Der Anspruch ist nicht nur dem Grund nach, sondern auch in der vom Kläger geltend gemachten Höhe gegeben.
32a) Wie bereits dargelegt (Rn. 18) ist der Anspruch des Klägers darauf gerichtet, dass der Arbeitgeber die Höhe der Leistung nach billigem Ermessen bestimmt (§ 315 Abs. 1 BGB). Ob die Beklagte, wie das Landesarbeitsgericht annimmt, im Jahr 2020 keine derartige Bestimmung vorgenommen hat oder ob eine Festsetzung der Leistung auf „Null“ erfolgt ist, worauf der Vortrag der Beklagten hindeutet, kann dahinstehen. Auch im letztgenannten Fall fehlt es an einer Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen (§ 315 Abs. 3 Satz 1 BGB). Deshalb war die Bestimmung in jedem Fall durch das Gericht vorzunehmen (§ 315 Abs. 3 Satz 2 BGB).
33aa) Eine Leistungsbestimmung entspricht billigem Ermessen, wenn die wesentlichen Umstände des Falls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt werden. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die Ermessensentscheidung zu treffen hat. Dem Inhaber des Bestimmungsrechts nach § 315 Abs. 1 BGB bleibt für die rechtsgestaltende Leistungsbestimmung ein nach billigem Ermessen auszufüllender Spielraum. Innerhalb des Spielraums können dem Bestimmungsberechtigten mehrere Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Darlegungs- und Beweislast für die Einhaltung dieser Grenzen obliegt dem Bestimmungsberechtigten ( - Rn. 51 mwN, BAGE 164, 82).
34bb) Nach diesen Grundsätzen hat die Beklagte nicht im Ansatz dargelegt, dass eine Festsetzung der Leistung auf „Null“ billigem Ermessen entsprochen hat. Zwar hat sie vorgetragen, sie habe aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation keinem Arbeitnehmer ein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld gezahlt. Sie hat aber zu dieser wirtschaftlichen Situation keine näheren Angaben gemacht.
35b) Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Ersatzleistungsbestimmung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB hält einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle stand.
36aa) Die Ersatzleistungsbestimmung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB ist vom Gericht auf Grundlage des Vortrags der Parteien zu treffen. Durch richterliche Ermessensentscheidung wird direkt über den geltend gemachten Anspruch entschieden. Die Ausübung des eigenen richterlichen Ermessens findet auf Grundlage des gesamten Prozessstoffs statt. Eine Darlegungs- und Beweislast im prozessualen Sinn besteht insoweit nicht, doch ist jede Partei gehalten, die für ihre Position sprechenden Umstände vorzutragen, weil das Gericht nur die ihm bekannten Umstände in seine Bestimmung einbringen kann (umfassend - Rn. 30 mwN, BAGE 156, 38).
37bb) Bei der durch Ersatzleistungsbestimmung iSv. § 315 Abs. 3 BGB vorzunehmenden gerichtlichen Bestimmung einer variablen Vergütung hat das Revisionsgericht den Beurteilungsspielraum, der den Tatsachengerichten dabei zusteht, nur beschränkt zu überprüfen. Es hat zu kontrollieren, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff der Billigkeit selbst verkannt hat, ob es die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat und ob es von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgegangen ist, der ihm den Zugang zu einer fehlerfreien Ermessensausübung versperrt hat (vgl. die st. Rspr. des BGH, zuletzt zB - EnZR 32/10 - Rn. 24 mwN; vgl. zur eingeschränkten Überprüfung bei der Anwendung von § 315 Abs. 1 BGB durch die Tatsachengerichte umfassend - Rn. 52 ff., BAGE 164, 82).
38cc) Die Ersatzleistungsbestimmung des Landesarbeitsgerichts, welche sich an der Höhe der Vorjahresleistung orientiert, ist danach nicht zu beanstanden. Das Landesarbeitsgericht hat weder den Rechtsbegriff der Billigkeit verkannt noch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder vom Ermessen in nicht dem Zweck entsprechender Weise Gebrauch gemacht. Vielmehr hat es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt und ist zu einem in sich widerspruchsfreien Ergebnis gekommen. Es hat auf die vom Kläger für das Vorjahr angegebenen Werte abgestellt und dabei auch die Höhe der Zahlungen, welche im Vorjahr an einen anderen Arbeitnehmer erfolgt sind, berücksichtigt. Den Vortrag der Beklagten, sie habe aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation keinem Arbeitnehmer ein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld gezahlt, hat das Landesarbeitsgericht berücksichtigt, aber mangels konkreter Ausführungen zur wirtschaftlichen Situation nicht als durchgreifend erachtet. Trägt eine Partei die für sie möglicherweise günstigen Umstände nicht hinreichend vor, lässt das die Wirksamkeit der richterlichen Leistungsbestimmung unberührt (vgl. - Rn. 30, BAGE 156, 38).
39c) Dem Kläger stehen Verzugszinsen gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB auf das Urlaubs- und Weihnachtsgeld erst seit dem bzw. dem zu, weshalb die Revision mit dieser Maßgabe zurückzuweisen war. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist die Zahlung des Urlaubsgelds jeweils mit dem Entgelt für den Monat Juni und die Zahlung des Weihnachtsgelds mit dem Entgelt für den Monat November erfolgt, weshalb von einer entsprechenden Fälligkeitsvereinbarung ausgegangen werden kann. Nach Nr. 3 Buchst. d des Arbeitsvertrags ist das monatliche Entgelt am 10. Kalendertag des jeweiligen Folgemonats fällig. Verzugszinsen stehen dem Kläger gemäß § 187 Abs. 1 BGB ab dem Tag nach Eintritt der Fälligkeit zu (vgl. - Rn. 38). Die Beklagte ist somit erst mit dem 11. Kalendertag des jeweiligen Folgemonats in Verzug geraten.
40II. Die Revision der Beklagten ist begründet, soweit diese sich gegen die Verurteilung zur Erteilung einer Abrechnung wendet. Insoweit war das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 3 ZPO).
411. Der Anspruch auf Erteilung einer Abrechnung für das von der Arbeitgeberin geleistete Arbeitsentgelt richtet sich in Ermangelung einer abweichenden tarifvertraglichen oder arbeitsvertraglichen Regelung nach § 108 Abs. 1 GewO. Danach ist dem Arbeitnehmer „bei Zahlung des Arbeitsentgelts“ eine Abrechnung in Textform zu erteilen. Wie bereits aus dem Wortlaut der Norm folgt, ist die Abrechnung erst bei tatsächlicher Zahlung des Entgelts zu erteilen. Die Abrechnung bezweckt die Information über die erfolgte Zahlung. Die Regelung dient der Transparenz. Der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er gerade den ausgezahlten Betrag erhält. Dagegen regelt § 108 GewO keinen selbständigen Abrechnungsanspruch zur Vorbereitung eines Zahlungsanspruchs ( - Rn. 45; - 5 AZR 665/06 - Rn. 18 mwN, BAGE 120, 373).
422. Wird der Abrechnungsanspruch zeitgleich mit dem Zahlungsanspruch bzw. in Abhängigkeit von diesem geltend gemacht, handelt es sich darüber hinaus um eine Klage auf eine künftige Leistung. Ein auf die Vornahme einer künftigen Handlung gerichteter Antrag ist nach § 259 ZPO nur zulässig, wenn den Umständen nach die Besorgnis gerechtfertigt ist, der Schuldner werde sich der rechtzeitigen Leistung entziehen. § 259 ZPO ermöglicht aber nicht die Verfolgung eines erst in der Zukunft entstehenden Anspruchs. Er setzt vielmehr voraus, dass der geltend gemachte Anspruch bereits entstanden ist ( - Rn. 46 mwN). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Für den noch ausstehenden Zahlungsanspruch steht dem Kläger in Ermangelung einer bereits geleisteten Zahlung derzeit kein Anspruch auf Erteilung einer Abrechnung zu.
43III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Danach sind der Beklagten ungeachtet des Obsiegens hinsichtlich des Abrechnungsanspruchs die Kosten der Revision aufzuerlegen, weil der mit 5 % der Hauptforderung bemessene Streitwert für den diesbezüglichen Antrag verhältnismäßig geringfügig ist und keine höheren Kosten verursacht hat.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:250123.U.10AZR109.22.0
Fundstelle(n):
BB 2023 S. 947 Nr. 17
DB 2023 S. 1484 Nr. 25
DB 2023 S. 2187 Nr. 37
DB 2023 S. 2187 Nr. 37
NJW 2023 S. 10 Nr. 18
NJW 2023 S. 2065 Nr. 28
ZIP 2023 S. 1964 Nr. 37
WAAAJ-37669