Sexueller Missbrauch von Kindern: Voraussetzungen der Strafbarkeit sexueller Handlungen vor einem Kind
Gesetze: § 176 Abs 4 Nr 1 StGB vom , § 176 Abs 6 StGB vom , § 176a Abs 3 StGB vom , § 184h Nr 2 StGB vom
Instanzenzug: Az: 10 KLs 15/20
Gründe
1Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht gemäß § 176a Abs. 3, § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB idF vom in den Fällen II. 2. a), b) und c) der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass die Angeklagte sexuelle Handlungen „vor“ einem Kind im Sinne von § 184h Nr. 2 StGB vorgenommen hat.
3a) Die Strafbarkeit von sexuellen Handlungen „vor“ einem Kind gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF ist nach § 184h Nr. 2 StGB auf solche Handlungen beschränkt, die von dem Kind wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von handlungsleitender Bedeutung ist, es ihm hierauf also ankommt (vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 1 StR 79/14, BGHSt 60, 44 Rn. 19; Urteil vom – 4 StR 699/10 Rn. 4; Urteil vom – 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376, 378 ff.; offen Rn. 5 f.; Beschluss vom – 3 StR 370/12 Rn. 4).
4b) Von diesen Maßgaben ist das Landgericht im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung zwar ausgegangen (UA 21), hat aber in den Fällen II. 2. a), b) und c) der Urteilsgründe keine entsprechenden konkreten Tatsachen festgestellt. Nach den insoweit unter Ziffer II. der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen duschte die Angeklagte am zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter. „In Gegenwart des Kindes“ führte sie sich einen Massagestab in ihre Vagina ein und „manipulierte daran“ (Fall 2. a)). Am badeten die beiden Kinder der Angeklagten. Mit entblößtem Genitalbereich begab sich die Angeklagte vor die Badewanne und befriedigte sich selbst, indem sie einen Massagestab in ihre Vagina einführte (Fall 2. b)). Letzteres tat sie ebenfalls am beim gemeinsamen Duschen mit ihrem knapp fünfjährigen Sohn (Fall 2. c)). Von dem Geschehen fertigte die Angeklagte jeweils Videoaufnahmen, die sie ‒ wie von vornherein beabsichtigt ‒ per WhatsApp an ihren gesondert verfolgten Sexualpartner versandte, der eine dominante Rolle („Dom“) ihr als „Sub“ gegenüber innehatte.
5c) Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht. Denn aus ihnen ergibt sich weder eine Wahrnehmung der sexuellen Handlungen durch die Kinder noch die handlungsleitende Bedeutung einer solchen Wahrnehmung für die Angeklagte.
6Auch der Gesamtheit der Urteilsgründe ist hierzu nichts zu entnehmen. Die in der Beweiswürdigung mitgeteilten Angaben eines Kriminalbeamten zum Inhalt der Videoaufnahmen sprechen eher dagegen. So wirkte im Fall 2. a) die seitlich hinter der Angeklagten stehende Tochter während der sexuellen Handlungen „offensichtlich abgelenkt und mit dem Duschen beschäftigt“. Im Fall 2. b) saßen die Kinder in der Badewanne und spielten im Wasser, während ihnen die Angeklagte beim Einführen des Massagestabs den Rücken zuwandte. Im Fall 2. c) stand der Sohn der Angeklagten seitlich hinter seiner Mutter und beobachtete nur „anfänglich das Geschehen“ (UA 17). Ob hiervon die sexuellen Handlungen erfasst sind, bleibt unklar. Für die verfahrensgegenständlichen Taten ohne Aussagekraft ist zudem die Einlassung der Angeklagten, wonach die Kinder „auch immer mehr bei ihr mitbekommen“ hätten (UA 13).
7Ebenso wenig versteht sich mit Blick auf die jeweiligen Körperpositionen von selbst, dass es der Angeklagten auf eine Wahrnehmung ihrer sexuellen Handlungen durch die Kinder angekommen wäre und sie daher – was für einen Schuldspruch nach § 176a Abs. 3 StGB aF aufgrund der Inbezugnahme von § 176 Abs. 6 StGB aF bereits genügen würde (vgl. Renzikowski in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 176a Rn. 32; Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 176a Rn. 25) – zumindest versucht hätte, vor ihren Kindern sexuelle Handlungen vorzunehmen, die Gegenstand einer zu verbreitenden kinderpornographischen Schrift sein sollten. Beweiswürdigende Erwägungen hierzu enthält das Urteil nicht. Dass die Angeklagte ihre Kinder in das sexuelle Geschehen einzubeziehen gedachte, folgt auch nicht schon aus ihrem festgestellten Bestreben (UA 6), den Bitten ihres Sexualpartners nachzukommen, ihr zusehen zu können, wie sie sich unter der Dusche in Gegenwart der Kinder selbst befriedige.
8d) Der Senat kann insbesondere angesichts der vorhandenen Videoaufnahmen nicht ausschließen, dass ein neues Tatgericht noch Feststellungen wird treffen können, die eine Verurteilung der Angeklagten tragen.
92. Der Schuldspruch im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe ist ebenfalls rechtsfehlerhaft. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, dass die Angeklagte am bei einem gemeinsamen Bad mit ihrer Tochter erklärte, sie könne sich als Frau schöne Gefühle machen, und sich einen Finger vaginal einführte. Damit hat die Angeklagte unter Einbeziehung des ihre sexuelle Handlung wahrnehmenden Kindes eine Tat gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF begangen. Die für den ergangenen Schuldspruch nach § 176a Abs. 3 StGB aF erforderliche Absicht, diese Tat zum Gegenstand einer kinderpornographischen Schrift zu machen, ist den Urteilsgründen jedoch nicht zu entnehmen. Die von der Angeklagten „in der Folgezeit“ gefertigten und versandten Fotografien betrafen keine sexuellen Handlungen vor dem Kind.
10Der Senat folgt – auch im Blick auf die von der Strafkammer vorgenommene, mit dem ergangenen Schuldspruch korrespondierende Verfahrensbeschränkung gemäß § 154a StPO – dem Antrag des Generalbundesanwalts, den Schuldspruch in diesem Fall dahin zu ändern, dass die Angeklagte des sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF schuldig ist. Dem steht § 265 StPO nicht entgegen, denn es ist auszuschließen, dass sich die geständige Angeklagte anders als geschehen hätte verteidigen können.
113. a) Die Aufhebung des angefochtenen Urteils in den Fällen II. 2. a), b) und c) sowie die Schuldspruchänderung im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe führen zum Wegfall der jeweiligen Einzelstrafen. Dies entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage.
12b) Darüber hinaus weist die Strafzumessung einen Rechtsfehler auf, der zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs führt. Die Strafkammer hat bei der Zumessung aller Einzelstrafen straferschwerend berücksichtigt, dass die Angeklagte „bei der Ausführung der Taten bewusst ihre eigenen Interessen, nämlich die Aufrechterhaltung und Förderung ihrer Beziehung […], über das Interesse ihrer Kinder gestellt“ und „diese zum Objekt im Rahmen der Auslebung ihrer masochistischen Neigungen gemacht“ habe. Mit diesen Erwägungen hat die Strafkammer der Angeklagten der Sache nach die Begehung der Taten angelastet und damit gegen das Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB verstoßen (vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 4 StR 237/04 Rn. 11).
134. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
14Das neue Tatgericht hat aufgrund der Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen auch die Voraussetzungen und die Anwendbarkeit des § 21 StGB ‒ ohne jede Bindung an das insoweit nicht mehr existente erste Urteil ‒ zu prüfen (vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 4 StR 610/19 Rn. 6; jew. mwN). Im Falle der erneuten Annahme eines Eingangsmerkmals aufgrund einer Sexualpräferenzstörung (vgl. hierzu Kaspar in SSW-StGB, 5. Aufl., § 20 Rn. 74 ff. mwN) wird es dabei zu bedenken haben, dass die – aus einem Bemühen, die Anfertigung der Videos zu verbergen, abgeleitete – Erkenntnis der Angeklagten, die vorgenommenen sexuellen Handlungen seien falsch, entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil (UA 19) als solche nur ihre Unrechtseinsicht, nicht aber ihre Steuerungsfähigkeit belegen könnte.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:170123B4STR216.22.0
Fundstelle(n):
CAAAJ-37265