Sozialgerichtsverfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - gerügte Verkennung des Rechtsmittel- bzw Streitgegenstands
Gesetze: § 106 Abs 1 SGG, § 112 Abs 2 S 2 SGG, § 123 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 133 BGB
Instanzenzug: Az: S 11 R 142/20 Gerichtsbescheidvorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 5 R 465/20 Urteil
Gründe
1I. Der 1974 geborene Kläger beantragte am erstmals die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente bei der Beklagten. Diese lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Klage, Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers blieben erfolglos (; ; ). Während des Berufungsverfahrens erließ die Beklagte den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , mit dem sie die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ablehnte. Das SG hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ). Die daraufhin angestrengte Berufung des Klägers hat das zurückgewiesen. Es ist davon ausgegangen, der Kläger habe am eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit beantragt. In der Person des Klägers seien die Anspruchsvoraussetzungen des § 240 SGB VI schon deswegen nicht erfüllt, weil er nicht vor dem geboren worden sei.
2Der Kläger hat am Prozesskostenhilfe (PKH) für die Durchführung eines Beschwerdeverfahrens gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG beantragt. Der Senat hat ihm PKH bewilligt und den Prozessbevollmächtigten beigeordnet (Beschluss vom ). Am hat der nunmehr anwaltlich vertretene Kläger wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zugleich hat er Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, die er mit Schriftsatz vom begründet hat.
3II. 1. Dem Kläger wird gemäß § 67 Abs 1 SGG die beantragte Wiedereinsetzung in die Beschwerdeeinlegungsfrist des § 160a Abs 1 Satz 2 SGG gewährt. Er hat innerhalb dieser Frist den PKH-Antrag gestellt und die vorgeschriebene Erklärung vorgelegt und sodann innerhalb einer Frist von einem Monat ab Zustellung des PKH-Beschlusses am die Nichtzulassungsbeschwerde formgerecht eingelegt (vgl zu den Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in eine Rechtsmittel<begründungs>frist nach PKH-Entscheidung - SozR 3-1500 § 67 Nr 5 S 12 f; aus jüngerer Zeit zB - juris RdNr 4). Ihm wird zudem gemäß § 67 Abs 2 Satz 4 SGG von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Beschwerdebegründungsfrist des § 160a Abs 2 Satz 1 SGG gewährt.
42. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Der geltend gemachte Verfahrensmangel wird nicht anforderungsgerecht bezeichnet.
5Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die Beschwerdebegründung wird den daraus abgeleiteten Anforderungen nicht gerecht.
6Der Kläger rügt, das SG und ihm folgend das LSG seien von einem unzutreffenden Streitgegenstand ausgegangen. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei einem nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten - wie hier in beiden Tatsacheninstanzen der Kläger - darauf hinwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG; vgl hierzu zB B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 106 RdNr 5a). Bei nicht eindeutigen Anträgen ist in entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB der wirkliche Wille zu erforschen (vgl zB - juris RdNr 12 mwN). Im Zweifel ist nicht bloß der im Verwaltungsverfahren gestellte Antrag, sondern auch der Klageantrag als Prozesshandlung unter Berücksichtigung des Günstigkeitsprinzips (Grundsatz der Meistbegünstigung) so auszulegen, dass das Begehren des Klägers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (vgl - BSGE 74, 77, 79 = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 47; - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 29; - juris RdNr 6, jeweils mwN; speziell zur Auslegung eines Antrags als Überprüfungsantrag zB B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16). Die Bezeichnung eines Verfahrensmangels, der in der Verkennung des Rechtsmittel- bzw Streitgegenstands liegt, erfordert daher die lückenlose Darlegung des Verfahrensgangs unter Auslegung der den Rechtsmittel- bzw Streitgegenstand bestimmenden Entscheidungen und Erklärungen sowie die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Regelungsgehalt der angegriffenen Verwaltungsentscheidungen, dem Klagebegehren, der Entscheidung erster Instanz und dem Berufungsbegehren (vgl zB - juris RdNr 5 mwN; - juris RdNr 13). Diesen Anforderungen entspricht das Beschwerdevorbringen jedenfalls deswegen nicht, weil die den Streitgegenstand formenden Entscheidungen und Erklärungen nicht hinreichend dargestellt und bewertet werden.
7Der Kläger trägt vor, er habe 2019 keinen erneuten Rentenantrag gestellt, sondern einen Überprüfungsantrag. Wie er im Einzelnen ausführt, habe er am eine Anfrage sowie am einen ausdrücklich Antrag an die Beklagte gerichtet und dabei jeweils auf den Rentenantrag vom Bezug genommen. Nach dem Günstigkeitsprinzip hätte die Beklagte dies als Überprüfungsantrag nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X werten müssen, bezogen auf den ursprünglichen Ablehnungsbescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und gerichtet auf die Gewährung der ihm günstigsten Rente wegen Erwerbsminderung. Dass der ursprüngliche Ablehnungsbescheid 2019 noch nicht bestandskräftig gewesen sei, stehe diesem Verständnis nicht entgegen. Auch das SG habe es versäumt, den beschiedenen Antrag nach dem Günstigkeitsprinzip auszulegen. Dieser Fehler habe in der Berufungsinstanz fortgewirkt. Bei sachgerechter Antragsauslegung hätte das LSG die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Ablehnungsentscheidung der Beklagten überprüfen und dabei auch neue medizinische Ermittlungen in Betracht ziehen müssen.
8Dieses Vorbringen zielt vor allem auf etwaige Versäumnisse im Verwaltungsverfahren. Bereits insofern ist zweifelhaft, ob der Kläger sich ausreichend mit seinem eigenen Vorbringen auseinandersetzt. Wie er selbst unter Hinweis auf einen Gesprächsvermerk vom hervorhebt, hat er gegenüber der Beklagten ausdrücklich eine Berufsunfähigkeitsrente beantragt. Der Kläger zeigt jedenfalls nicht hinreichend auf, inwiefern seinem Gesamtvorbringen im gerichtlichen Verfahren unter Berücksichtigung des Günstigkeitsprinzips zu entnehmen gewesen sein könnte, dass es ihm, anders als von der Beklagten angenommen, um eine Überprüfung des Bescheids vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom gegangen sei.
9Es spricht zwar manches dafür, dass es für den Kläger tatsächlich günstiger gewesen wäre, wenn er eine Überprüfung des letztgenannten Bescheids nach § 44 SGB X beantragt hätte. Die Beschwerde zeigt jedoch nicht auf, was der Kläger im Berufungsverfahren erklärt und vorgebracht hat, nachdem auch das SG offensichtlich davon ausgegangen ist, er habe 2019 einen weiteren Rentenantrag gestellt. Mangels Ausführungen zu seinen (sinngemäßen) Anträgen in erster und zweiter Instanz setzt der Kläger sich insbesondere nicht damit auseinander, dass das LSG im Berufungsurteil einen Antrag wiedergegeben hat, wonach sich der Anfechtungsteil seiner Klage (nur) gegen den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom richtet und er die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit begehrt. Der seinerzeit unvertretene Kläger ist im Übrigen noch in seinem PKH-Antrag vor dem BSG lediglich auf die ihm nach seinem Dafürhalten zu Unrecht vorenthaltene Rente wegen Berufsunfähigkeit eingegangen. Vor diesem Hintergrund reicht der mit der Beschwerde erhobene, allgemein gehaltene Vorwurf, SG und LSG hätten sich ebenso wie die Beklagte keinerlei Gedanken über den Verfahrens- bzw Streitgegenstand gemacht, nicht aus.
10Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:180123BB5R15322B0
Fundstelle(n):
TAAAJ-36740