BGH Beschluss v. - 3 StR 481/22

Anforderungen an Darlegungen im Urteil bei Verurteilung zu Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld

Gesetze: § 2 Abs 1 JGG, § 17 Abs 2 JGG, § 18 Abs 2 JGG, § 105 Abs 1 Nr 1 JGG

Instanzenzug: LG Krefeld Az: 21 KLs 14/22

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen begab sich der zur Tatzeit 19 Jahre alte Angeklagte in einen Drogeriemarkt, nahm dort Parfums und andere Kosmetika im Gesamtwert von 153,80 € an sich, steckte diese in seine Jackentasche und passierte den Kassenbereich, ohne die Waren zu bezahlen. Dabei wurde er von einem Sicherheitsmitarbeiter des Geschäfts beobachtet, der ihn ansprach und aufforderte, die entwendeten Gegenstände herauszugeben. Dem kam der Angeklagte nicht nach, sondern versuchte zu flüchten. Er wurde jedoch von dem Mitarbeiter festgehalten. Um sich im Besitz des Diebesgutes zu erhalten und mit diesem fliehen zu können, schlug der Angeklagte mit den Armen um sich und versuchte, sich aus dem Zugriff des Wachmannes zu befreien. Da dieser ihn jedoch weiterhin festhielt, biss der Angeklagte ihn kräftig in beide Hände und in den Brustbereich, wodurch das Opfer blutende Bisswunden erlitt, die ärztlicher Behandlung bedurften. Letztlich gelang es dem Mitarbeiter, den Angeklagten zu Boden zu bringen und dort bis zum Eintreffen der Polizei zu fixieren.

II.

31. Der Schuldspruch wegen räuberischen Diebstahls gemäß §§ 252, 249 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB lässt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.

4Zwar hat die Strafkammer in der Liste der angewandten Vorschriften und in den Urteilsgründen als Rechtsgrundlage für die Verurteilung wegen räuberischen Diebstahls fälschlich „§§ 252, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB“ angeführt. Dies stellt den Schuldspruch aber nicht in Frage. Der Senat sieht davon ab, die Liste der angewandten Vorschriften (§ 260 Abs. 5 Satz 1 StPO) zu korrigieren; dies kann auch außerhalb des Rechtsmittelverfahrens jederzeit von Amts wegen erfolgen (vgl. , juris Rn. 32; MüKoStPO/Maier, § 260 Rn. 340 f.).

52. Auch die Entscheidung, auf den Angeklagten, der zum Tatzeitpunkt Heranwachsender war, Jugendstrafrecht anzuwenden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

6a) Nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ist auf einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Das Jugendgerichtsgesetz geht bei der Beurteilung des Reifegrades nicht von festen Altersgrenzen aus, sondern stellt auf eine dynamische Entwicklung des noch jungen Menschen zwischen 18 und 21 Jahren ab. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch im größeren Umfang wirksam sind. Hat der Angeklagte dagegen bereits die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, dann ist auf ihn allgemeines Strafrecht anzuwenden (st. Rspr.; s. nur , NStZ 2022, 758 Rn. 17).

7b) Das Landgericht hat tragfähig begründet, dass bei dem 2003 geborenen Angeklagten, der 2019 als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling aus seinem Heimatland Guinea nach Deutschland kam und zur Tatzeit weder selbständig wohnte noch sich in Ausbildung befand oder einer Erwerbstätigkeit nachging, Reifeverzögerungen vorlagen, weshalb er zum Tatzeitpunkt in seiner Entwicklung einem Jugendlichen entsprach.

83. Dagegen hält die Verurteilung des Angeklagten zu einer Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Weder die Erforderlichkeit der Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG noch deren Höhe (§ 18 Abs. 2 JGG) hat das Landgericht rechtsfehlerfrei begründet.

9a) Hinsichtlich der von der Jugendkammer getroffenen Feststellung, Jugendstrafe sei wegen der Schwere der Schuld erforderlich, gilt:

10aa) Der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter ist jugendspezifisch zu bestimmen (vgl. , juris Rn. 8; vom - 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 13; vom - 1 StR 239/17, NStZ 2018, 659; vom - 2 StR 320/15, BGHSt 61, 188 Rn. 11). Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können; entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben (st. Rspr.; vgl. , juris Rn. 8; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 19; vom - 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 13; vom - 2 StR 217/19, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 8 Rn. 11; vom - 1 StR 239/17, NStZ 2018, 659, 660; vom - 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407 Rn. 10; MüKoStGB/Radtke/Scholze, 4. Aufl., § 17 JGG Rn. 64 mwN).

11bb) Hieran gemessen tragen die Erwägungen der Urteilsgründe die Annahme, die Schwere der Schuld erfordere die Verhängung von Jugendstrafe, nicht. Denn die Jugendkammer hat bei ihrer Beurteilung ausschließlich auf den äußeren Unrechtsgehalt der Tat abgehoben und die Schwere der Schuld rechtsfehlerhaft allein damit begründet, es habe sich um eine „nicht unerhebliche Gewalttat“ gehandelt. Demgegenüber hat das Landgericht die innere Tatseite gänzlich außer Betracht gelassen; es hat im Urteil insbesondere nicht erörtert, inwieweit sich charakterliche Haltung, Persönlichkeit und Tatmotivation des Angeklagten in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben.

12b) Unabhängig davon erweist sich auch die Bemessung der Jugendstrafe gemäß § 18 Abs. 2, § 105 Abs. 2 JGG als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

13aa) Bei der Jugendstrafe bildet das Ausmaß der individuellen Schuld wegen des hier ebenfalls geltenden verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes den Rahmen, innerhalb dessen die - erzieherisch erforderliche - Strafe gefunden werden muss. Das Mindestmaß der Jugendstrafe muss schuldangemessen sein; ihr Höchstmaß darf auch bei Berücksichtigung des Erziehungszwecks nicht über das Maß der Tatschuld des Jugendlichen beziehungsweise Heranwachsenden hinausgehen (vgl. , NJW 2005, 2140, 2141; , NStZ 2022, 755 Rn. 7; vom - 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 14; vom - 2 StR 217/19, NStZ 2020, 301 Rn. 9; MüKoStGB/Radtke/Scholze, 4. Aufl., § 17 JGG Rn. 14 mwN, § 18 JGG Rn. 6 f., 16).

14Auch wenn eine Jugendstrafe ausschließlich wegen der Schwere der Schuld verhängt wird, ist bei der Bemessung der Strafhöhe innerhalb des vorgenannten Rahmens der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 2 Abs. 1, § 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen. Daneben sind allerdings auch andere Strafzwecke, bei Gewaltverbrechen und anderen schwerwiegenden Straftaten namentlich der Sühnegedanke und das Erfordernis eines gerechten Schuldausgleichs, zu beachten. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen dabei in der Regel miteinander in Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. , NStZ 2022, 755 Rn. 7; vom - 3 StR 436/21, juris Rn. 17; vom - 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 14; vom - 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407 Rn. 12). Mit zunehmendem Alter des Angeklagten verliert der Erziehungsgedanke allerdings typischerweise an Bedeutung und rückt, insbesondere bei gravierenden Straftaten, das Erfordernis des gerechten Schuldausgleichs immer mehr in den Vordergrund (, juris Rn. 14 mwN).

15Die Urteilsgründe müssen daher in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist. Die Begründung darf nicht wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Eine lediglich formelhafte Erwähnung des Erziehungsgedankens reicht grundsätzlich nicht aus (st. Rspr.; vgl. , juris Rn. 31; Beschluss vom - 1 StR 352/22, juris Rn. 5; Urteil vom - 4 StR 177/22, NStZ 2022, 755 Rn. 6; Beschlüsse vom - 3 StR 279/21, juris Rn. 5; vom - 3 StR 581/14, NStZ-RR 2015, 154, 155; vom - 3 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 186).

16Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert von der Jugendkammer zudem, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Vollstreckung von Jugendstrafe für die weitere Entwicklung des Angeklagten abzuwägen (vgl. , juris Rn. 5; Urteil vom - 4 StR 177/22, NStZ 2022, 755 Rn. 6; Beschluss vom - 3 StR 581/14, NStZ-RR 2015, 154, 155; Urteil vom - 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407 Rn. 12, 19; Beschluss vom - 3 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 186, 187).

17bb) Diesen Anforderungen genügt das Urteil nicht. Bei der Bemessung der Jugendstrafe hat sich das Landgericht ganz wesentlich an im Erwachsenenstrafrecht geltenden Strafzumessungsgesichtspunkten orientiert und dabei eine Abwägung für und gegen den Angeklagten sprechender Umstände wie bei der Verurteilung eines zur Tatzeit Erwachsenen vorgenommen. Es hat entscheidend auf das Gewicht des äußeren Tatunrechts und die Tatfolgen abgestellt, sich aber weder mit der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten auseinandergesetzt noch sich zu dem hieraus ergebenden konkreten Erziehungsbedarf verhalten. Der Erziehungsgedanke findet im Urteil nur insofern Erwähnung, als die Urteilsgründe die vorstehend erwähnte Abwägung abschließen mit der Feststellung, „Aufgrund des erheblichen Tatunrechts und der Tatfolgen sowie der erzieherischen Defizite des Angeklagten“ sei eine Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten „tat- und schuldangemessen und erzieherisch geboten“. Eine derartige lediglich formelhafte Erwähnung des Erziehungsgedankens reicht indes nicht aus.

18c) Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Um dem neuen Tatgericht eine in sich stimmige Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen, hebt der Senat auch die zugehörigen Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO).

194. Soweit das Landgericht von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB, § 7 Abs. 1, § 105 Abs. 1 JGG abgesehen hat, ist ein Rechtsfehler nicht erkennbar. Diese Entscheidung der Jugendkammer hat daher Bestand.

20Das Landgericht hat zwar einen Hang des Angeklagten zu übermäßigem Betäubungsmittelkonsum, den Symptomcharakter der Tat als Beschaffungskriminalität und die Gefahr zukünftiger vergleichbarer Delinquenz bejaht, die Erfolgsaussicht einer solchen Maßregel aber verneint. Dabei hat die Jugendkammer - der Einschätzung des gemäß § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO gehörten psychiatrischen Sachverständigen folgend - unter anderem darauf abgestellt, eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sei unter erzieherischen Gesichtspunkten für den Angeklagten schädlich, weil er dann mit hoher Wahrscheinlichkeit mit strafrechtlich erheblich vorbelasteten anderen Untergebrachten in engen Kontakt käme, die einen negativen Einfluss auf ihn hätten. Diese wären zudem sehr wahrscheinlich deutlich älter als der gegenwärtig 20 Jahre alte und Reifeverzögerungen aufweisende Angeklagte, weshalb seine soziale Isolierung zu besorgen sei. Gegen diese Erwägungen ist von Rechts wegen nichts zu erinnern; sie tragen gemeinsam mit weiteren vom Landgericht angeführten Umständen, darunter die schlechten deutschen Sprachkenntnisse des Angeklagten und seine geringe psychische Belastbarkeit, die Annahme, eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt werde voraussichtlich nicht bewirken, dass der Angeklagte in Freiheit zumindest über einen längeren Zeitraum keinen übermäßigen Drogenkonsum mehr betreiben werde.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:070223B3STR481.22.0

Fundstelle(n):
MAAAJ-35808