Bedeutung einer Telekommunikationsüberwachung während der Tatbegehung und eines Vollzugs von Untersuchungshaft für die Strafzumessung
Gesetze: § 51 Abs 1 S 1 StGB, § 64 StGB, § 112 StPO
Instanzenzug: Az: 114 KLs 22/21
Gründe
1Das Landgericht hat verurteilt
2Es hat ferner die Unterbringung des Angeklagten W. in einer Entziehungsanstalt bei Vorwegvollzug von einem Jahr Freiheitstrafe angeordnet sowie gegen die Angeklagten W. und G. Wr. als Gesamtschuldner die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 209.395 €, gegen den Angeklagten G. Wr. darüber hinaus in Höhe weiterer 1.405 € als Alleinschuldner. Hiergegen richtet sich die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten und auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft.
A)
3Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
I.
4Die Angeklagten W. und G. Wr. betrieben seit November 2020 gemeinsam den Handel von Kokain, das sie von unbekannt gebliebenen Lieferanten bezogen. In zwei Fällen wurden sie vom Angeklagten R. Wr. unterstützt. Im Einzelnen:
51. Am (Fall 1 der Urteilsgründe) übernahmen die Angeklagten W. und G. Wr. in B. 1 kg Kokain in zwei Teilen mit Wirkstoffgehalten von 77% bzw. 50% Kokainhydrochlorid, das sie nach K. verbrachten, portionierten und an verschiedene Abnehmer gewinnbringend veräußerten.
62. Am (Fall 2 der Urteilsgründe), am (Fall 3 der Urteilsgründe), am (Fall 4 der Urteilsgründe) und am (Fall 6 der Urteilsgründe) erwarben die Angeklagten W. und G. Wr. in S. jeweils 500 g Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 77% Kokainhydrochlorid, das sie in den Folgetagen gewinnbringend an verschiedene Abnehmer veräußerten.
73. Am (Fall 5 der Urteilsgründe) erwarben die Angeklagten W. und G. Wr. in S. 2 kg Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 77% Kokainhydrochlorid, von dem sie noch am selben Tag 1 kg an einen unbekannten Abnehmer und in den Folgetagen weiteres Kokain an andere Abnehmer jeweils gewinnbringend veräußerten.
84. Am (Fall 7 der Urteilsgründe) übernahmen die Angeklagten W. und G. Wr. in S. 500 g Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 77% Kokainhydrochlorid, am (Fall 8 der Urteilsgründe) 1.000,45 g Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von 97,5%. Um den wie stets vorab zu entrichtenden Kaufpreis an den Lieferanten zahlen zu können, hatte der Angeklagte R. Wr. für die erste Lieferung einen Betrag in unbekannter Höhe „leihweise zur Verfügung“ gestellt, für die zweite Lieferung einen Betrag von 7.000 €, wobei er dessen Verwendung jeweils kannte und billigte. Er war auch zugegen, als die Angeklagten W. und G. Wr. das Kokain aus der ersten Lieferung an verschiedene Abnehmer gewinnbringend veräußerten; aus dem Veräußerungserlös erhielt R. Wr. das geliehene Geld zurück. Nach Erhalt der zweiten Lieferung wurden die Angeklagten W. und G. Wr. festgenommen und das Kokain sichergestellt. Bei einer anschließenden Wohnungsdurchsuchung wurden beim Angeklagten W. insgesamt 221,71 g Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von 77,4% und 1.405 € aufgefunden und sichergestellt.
95. Den Wirkstoffgehalt hat die Strafkammer im Fall 8 der Urteilsgründe einem Wirkstoffgutachten entnommen, bei den Taten der Fälle 2 bis 7 den Wirkstoffgehalt des in der Wohnung des Angeklagten W. aufgefundenen Kokains zugrunde gelegt. Aus der Telefonüberwachung ergebe sich, dass die Angeklagten W. und G. Wr. Kokain von besonders guter Qualität verkauften, auch die Lieferung im Fall 8 der Urteilsgründe zeige, dass „es Kokain von grundsätzlich guter Qualität war“. Lediglich in Fall 1 ergebe sich aus den überwachten Gesprächen eine Beschwerde hinsichtlich einer Teilmenge; insoweit sei von der durchschnittlichen Qualität von 74% Kokainhydrochlorid ein „weiterer Abschlag“ anzunehmen, für eine Absenkung unter 50% Wirkstoffgehalt bestehe indes kein Anlass, da auch das diesbezügliche Kokain – ohne weitere Reklamation – an einen Abnehmer habe verkauft werden können.
106. Aus dem Verkauf der genannten Kokainmengen hätten die Angeklagten W. und G. Wr. unter Zugrundelegung eines geschätzten Verkaufspreises von 40 €/g, der die unterschiedlichen Preise und den Eigenkonsum berücksichtige, und einer zum Verkauf zur Verfügung stehenden Kokainmenge von 5,27 kg insgesamt 210.800 € erlangt. Hiervon seien beim Angeklagten W. die bei diesem sichergestellten 1.405 € in Abzug zu bringen.
II.
11Im Dezember 2020 begannen die Angeklagten G. und R. Wr. mit Unterstützung des Angeklagten W. den Aufbau und Betrieb einer Cannabisplantage, deren Ertrag zum gewinnbringenden Verkauf und zum Eigenkonsum genutzt werden sollte (Fall 9 der Urteilsgründe). Nach der Festnahme von G. Wr. baute R. Wr. die bereits in Blüte stehenden Pflanzen ab, bei Erreichen der vollständigen Erntereife wäre ein Ertrag von 3,5 kg Marihuana mit einem Wirkstoff von mindestens 5% erzielt worden.
B)
12Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind wirksam auf die die drei Angeklagten betreffenden Rechtsfolgenaussprüche beschränkt (nachfolgend I.). Sie sind hinsichtlich der Strafaussprüche begründet (nachfolgend II.) und führen gemäß § 301 StPO zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung der Einziehungsentscheidung betreffend den Angeklagten G. Wr. (nachfolgend III.).
I.
13Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind auf den jeweiligen Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Zwar hat die Staatsanwaltschaft beantragt, das angefochtene Urteil insgesamt aufzuheben. Allerdings widersprechen sich hier Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründungsschrift, weswegen das Angriffsziel nach ständiger Rechtsprechung durch Auslegung zu ermitteln ist (vgl. , juris Rn. 10 mwN; vgl. auch Nr. 156 RiStBV). Danach beanstandet die Staatsanwaltschaft lediglich die Rechtsfolgenaussprüche. Die Beschränkung ist auch wirksam. Soweit die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Fälle 2, 3, 4, 6 und 7 der Urteilsgründe geltend macht, dass die Strafkammer als Mindestmenge rechtsfehlerhaft eine zu niedrige Handelsmenge angenommen habe, bei Fall 9 der Urteilsgründe eine zu niedrige Ertragsmenge, mit der Folge, dass die festgestellten Kokain- bzw. Marihuanamengen nicht als „Grundlage für die Einzelstrafen“ oder für die Einziehungsentscheidungen dienen könnten, kann dies losgelöst vom Schuldspruch beurteilt werden. Nach den getroffenen Feststellungen ist auszuschließen, dass die von der Staatsanwaltschaft begehrte Neubestimmung der Handels- und Ertragsmengen die Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Frage stellen könnte.
II.
14Während die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten W. in einer Entziehungsanstalt keinen Rechtsfehler erkennen lässt, halten sämtliche Strafaussprüche auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes (vgl. Rn. 54; vom – 5 StR 387/15, NStZ-RR 2016, 105, 106) rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dies zieht hinsichtlich des Angeklagten W. die Aufhebung der Anordnung von Vorwegvollzug nach sich.
151. Allerdings kann die Revision nicht durchdringen, soweit sie sich gegen die vom Landgericht festgestellten Handels- bzw. Ertragsmengen richtet. Diese beruhen auf einer revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung.
16a) Die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt daher allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Ebenso ist es allein Sache des Tatrichters, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen Indizien in der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zu bewerten. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überhöhte Anforderungen stellt. Liegen solche Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre. Ebenso wenig kann das Revisionsgericht auf der Grundlage einer abweichenden Beurteilung der Bedeutung einer vom Tatrichter vertretbar bewerteten Indiztatsache in dessen Überzeugungsbildung eingreifen (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom – 2 StR 513/16 Rn. 20 mwN; Rn. 6 mwN; KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 337 Rn. 29, 30).
17b) Daran gemessen ist gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts nichts zu erinnern.
18(1) Wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend dargelegt hat, ist nicht ersichtlich, welche von der Beschwerdeführerin als relevant erachteten „Beweismittel und Indizien“ in einer Gesamtwürdigung tragfähig größere Kokainhandelsmengen belegen sollen. Vielmehr hat die Strafkammer auf der Grundlage einer umfassenden und sorgfältigen Beweiswürdigung die jeweiligen Einlassungen der Angeklagten, auch wenn es diese als zum Teil widerlegt angesehen hat, mit Blick auf die Kokainmengen nicht zu widerlegen vermocht, was – zumal angesichts einer insoweit nicht möglichen Sicherstellung und fehlender sonstiger Beweismittel – keinen Rechtsfehler aufweist. Dass einzelne Indizien – wie die Beschwerdeführerin meint – auch anders gewertet hätten werden können (Ein „Telefonat könnte sogar vielmehr darauf hindeuten, dass…“), vermag der Revision nicht zum Erfolg zu verhelfen.
19(2) Gleiches gilt für die Ertragserwartung im Fall 9 der Urteilsgründe. Es ist insbesondere nicht zu beanstanden, dass die Strafkammer bei der Schätzung der Ertragsmenge – eine genauere Bestimmung war nicht möglich – mit Blick auf den Zweifelssatz Sicherheitsabschläge vorgenommen hat; dass diese unverhältnismäßig hoch sein könnten, ist nicht ersichtlich. Mit urteilsfremdem Vorbringen zum Inhalt eines Sachverständigengutachtens kann die Beschwerdeführerin mit der Sachrüge nicht durchdringen.
202. Die Strafzumessungserwägungen der Strafkammer begegnen aber insoweit durchgreifenden rechtlichen Bedenken, als nicht anerkannte Strafzumessungsgründe strafmildernd eingestellt wurden.
21a) Rechtsfehlerhaft ist hinsichtlich aller Angeklagten als strafmildernd gewertet worden, dass die Taten unter polizeilicher Beobachtung mittels Telekommunikationsüberwachung, teilweise auch durch technische Überwachung und Observation, stattfanden. Zwar kann eine engmaschige und lückenlose polizeiliche Überwachung eines Betäubungsmittelgeschäfts ein bestimmender Strafzumessungsgrund zugunsten des Angeklagten sein, dem neben einer Sicherstellung der Drogen eigenes Gewicht zukommt, wenn durch die Überwachungsmaßnahmen eine tatsächliche Gefährdung der Gesundheit der Allgemeinheit durch das Rauschgift ausgeschlossen war (vgl. ; vom – 5 StR 2/21, NStZ-RR 2022, 140, 141; Senat, Beschluss vom – 2 StR 257/20, NStZ 2021, 54, 55 mwN). Hier sind die Betäubungsmittel aber – außer in den Fällen 8 und 9 der Urteilsgründe – in den Verkehr gelangt, sodass sich die Gefahr für das durch die Straftatbestände des BtMG geschützte Rechtsgut realisiert hat. Ein Anspruch des Straftäters darauf, dass die Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten, besteht nicht (vgl. aaO; vom – 5 StR 542/20, NJW 2022, 1826, 1827 Rn. 118).
22b) Rechtlichen Bedenken begegnet es ferner, dass die Strafkammer strafmildernd den erstmaligen Vollzug von Untersuchungshaft eingestellt hat. Der – auch erstmalige – Vollzug von Untersuchungshaft ist regelmäßig für die Strafzumessung ohne Bedeutung, weil sie nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet wird (st. Rspr.; vgl. nur − 4 StR 312/18 mwN). Zwar kann es einen strafmildernden Umstand darstellen, wenn die erlittene Untersuchungshaft mit über die üblichen hinausgehenden Beschwernissen für einen Angeklagten verbunden ist (vgl. MüKo-StGB/Maier, 4. Aufl., § 46 Rn. 344 ff. mwN). Solche können sich beispielsweise – wie der Senat bereits mit Beschluss vom – 2 StR 507/21, entschieden hat – auch aus pandemiebedingten Einschränkungen resultieren. Konkrete über die üblichen hinausgehenden Beschwernisse hat die Strafkammer jedenfalls hinsichtlich der Angeklagten W. und R. Wr. nicht festgestellt.
23c) Soweit die Strafkammer zugunsten des Angeklagten G. Wr. gewertet hat, dass dieser „im Rahmen der Hauptverhandlung auf die Asservate“ verzichtet habe, ist auch dies nicht ohne Rechtsfehler. Denn es nicht ersichtlich, ob es sich um Gegenstände mit strafzumessungsrelevantem Wert oder um solche handelte, die der Angeklagte – wie etwa Betäubungsmittel – ohnedies nicht hätte behalten dürfen (vgl. Senat, Urteil vom – 2 StR 158/21).
24d) Nicht unbedenklich ist es ferner, dass das Landgericht die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB beim Angeklagten W. strafmildernd berücksichtigt hat. Zwischen diesen Rechtsfolgen besteht grundsätzlich keine “Wechselwirkung”. Strafe und Maßregel sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. verhängt werden (vgl. Senat, Urteil vom – 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362, 365; vgl. auch Rn. 3 mwN).
253. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafzumessung auf den aufgezeigten Rechtsfehlern beruht. Er hebt daher die Strafaussprüche insgesamt auf, auch um dem neuen Tatrichter eine in sich stimmige Einzel- und Gesamtstrafbemessung zu ermöglichen. Die Feststellungen sind von den Wertungsfehlern nicht berührt und auch ansonsten rechtsfehlerfrei getroffen, sie haben Bestand. Indes zieht der Wegfall der Strafaussprüche nach sich, dass auch die Anordnung von Vorwegvollzug aufzuheben ist.
III.
26Die Einziehungsentscheidungen hinsichtlich des Wertes von Taterträgen, den die Strafkammer ausgehend von den rechtsfehlerfrei angenommenen Handelsmengen (siehe oben) ermittelt hat, weisen keinen Rechtsfehler zum Vorteil der Angeklagten auf. Gemäß § 301 StPO ist jedoch die gegen den Angeklagten G. Wr. als Alleinschuldner angeordnete Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.405 € aufzuheben, sie hat zu entfallen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:280922U2STR127.22.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-34327