Tarifierung von Kälberhütten
Leitsatz
1. Setzt die Pos. 9406 KN zwingend voraus, dass ein vorgefertigtes Gebäude einen Raum zu allen Seiten vollständig umschließen muss?
2. Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Setzt die Pos. 9406 KN voraus, dass das vorgefertigte Gebäude groß genug ist, um einem durchschnittlich großen Menschen das Betreten zu ermöglichen und ist hierfür mindestens ein betretbarer Bereich in Stehhöhe für einen solchen Menschen erforderlich oder genügt auch eine Betretbarkeit in gebeugter Körperhaltung?
Gesetze: KN Pos. 9406 Pos. 3926 Anm. 4 zu Kap. 94 KN Pos. 9406, Pos. 3926, Anm. 4 zu Kap. 94;
Instanzenzug: ,
Tatbestand
I.
1 Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) vertreibt Haltungslösungen für die Kälberaufzucht.
2 Am beantragte sie die Erteilung einer verbindlichen Zolltarifauskunft (vZTA) für von ihr regelmäßig eingeführte Waren unterschiedlicher Größe und Machart, die als Kälberhütten oder Kälberiglus bezeichnet werden. Die aus einem Gehäuse (Wände und Dach) und —modellabhängig— zum Teil auch einem Fußbodenelement bestehenden Waren sind mit Einstreu- und Belüftungsöffnungen sowie an der Vorderseite mit einer Eintrittsöffnung ohne Tür versehen. Für einige Modelle sind Türen als optionales Zubehör erhältlich. Lediglich die größte Hütte (eine „Gruppenhütte“) wird ohne Bodenelement eingeführt und anschließend um einen Boden aus Massivholz ergänzt. Das kleinste streitgegenständliche Modell besitzt eine Länge von 147 cm, eine Breite von 109 cm und eine Höhe von 117 cm. Die Gruppenhütte hat die Maße 220 cm x 273 cm x 183 cm. Die Kälberhütten werden üblicherweise außerhalb von Ställen aufgestellt und dienen den Tieren als Witterungsschutz. Sie bestehen aus Polyethylen (mit einem Anteil von 8 % Titandioxid) und einem Metallrahmen als Grundlage jeder Hütte. Zudem ist ein metallischer Rahmen in den Türrahmen eingeschweißt. Der Anteil dieser metallischen Bauteile an der Gesamtware variiert zwischen 12 % und 21 %.
3 Die Klägerin begehrte eine Einreihung in die damalige Unterposition (Unterpos.) 9406 0080 der Kombinierten Nomenklatur (KN) als „vorgefertigte Gebäude“ bestehend „aus anderen Stoffen“.
4 Mit vZTA vom reihte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Hauptzollamt —HZA—) die Waren vom Antrag abweichend als „andere Waren aus Kunststoffen, andere als von den Unterpositionen (KN) 3926 1000 bis 3926 9092 erfasst“, in die Unterpos. 3926 9097 KN ein.
5 Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Erteilung einer vZTA, mit der die streitgegenständlichen Waren (Kälberhütten) als „vorgefertigte Gebäude“ in die Unterpos. 9406 0080 KN eingereiht würden. Das HZA habe sie zu Recht nach ihrer stofflichen Beschaffenheit als „andere Waren aus Kunststoffen, andere als von den Unterpositionen (KN) 3926 1000 bis 3926 9092 erfasst“, in die Unterpos. 3926 9097 KN eingereiht; der Kunststoff Polyethylen verleihe den Hütten ihren wesentlichen Charakter.
6 Die Kälberhütten seien insbesondere nicht nach der Anmerkung (Anm.) 2 Buchstabe (Buchst.) x zu Kapitel (Kap.) 39 KN aus diesem Kapitel ausgewiesen. Danach gehörten Waren des Kap. 94 KN nicht zu Kap. 39 KN. Die Kälberhütten stellten keine Waren des Kap. 94 KN dar, insbesondere keine vorgefertigten Gebäude der Position (Pos.) 9406 KN.
7 Einer Einreihung als „vorgefertigte Gebäude“ stehe bereits entgegen, dass die Kälberhütten an der Vorderseite über eine Eintrittsöffnung für das Kalb verfügten, die nahezu die gesamte Frontseite umfasse. Da die Eintrittsöffnung nicht durch eine Tür oder ähnliches verschlossen oder abgedeckt sei, fehle es an der Bildung eines umschlossenen Raumes. Dies sei jedoch Voraussetzung für das Vorliegen eines Gebäudes im Sinne (i.S.) der Pos. 9406 KN. Die vom Unionsgesetzgeber in Anm. 4 zu Kap. 94 KN beispielhaft genannten Gebäude (Wohngebäude, Baustellenunterkünfte, Bürogebäude, Schulen, Kaufhäuser, Schuppen, Garagen oder ähnliche Gebäude) verfügten alle über Wände sowie ein Dach und bildeten einen umschlossenen Raum, der zu verschiedenen Zwecken von einem Menschen betreten und genutzt werden könne. Nach dieser Anmerkung unterfielen der Pos. 9406 KN die dort genannten Gebäude und solche, die diesen „ähnlich“ seien. Diese gemeinsamen objektiven Merkmale und Eigenschaften wiesen auch die in den nachfolgenden Unterpositionen ausdrücklich genannten vorgefertigten Gebäude auf, nämlich „Mobilheime“ und „Gewächshäuser“. Für eine weitergehende Auslegung des Gebäudebegriffs unter Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch bestehe vor dem Hintergrund der sich aus dem Wortlaut der Anm. 4 zu Kap. 94 KN ergebenden hinreichenden Bestimmbarkeit des zolltarifrechtlichen Gebäudebegriffs keine Notwendigkeit. Die englischen und französischen Sprachfassungen der genannten Bestimmungen wichen inhaltlich nicht von der jeweiligen deutschen Übersetzung ab und stellten das Einreihungsergebnis damit nicht in Frage.
8 Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision, die sie wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung des FG erfordere die Einreihung der Kälberhütten in die Pos. 9406 KN nicht das Vorhandensein eines allseitig umschlossenen Raumes. Der Verordnungstext und seine Anmerkungen enthielten ein solches Tatbestandsmerkmal nicht. Zu den in Anm. 4 zu Kap. 94 KN genannten Gebäudebeispielen zählten überdies auch „Schuppen“, die —betrachte man etwa Maschinen- und sonstige Lagerschuppen— mitunter über nicht verschließbare Ein- und Ausfahröffnungen oder sogar eine vollständig offene Seite verfügten. Zu beachten sei, dass es sich bei den in Anm. 4 zu Kap. 94 KN aufgeführten Beispielen um eine Wiederholung der in den Erläuterungen zum Harmonisierten System (HS) 02.0 zur Pos. 9406 HS genannten Beispiele handele, ebenso wie auch in Chapter 94 Note 4 Harmonized Tariff Schedule of the United States. Das HS gelte weltweit in über 200 Staaten. In vielen Drittstaaten, aber auch in den südeuropäischen Mitgliedstaaten der Union, sei aufgrund der vorherrschenden Witterungsverhältnisse ein vollständig umschlossener Raum für die Nutzung eines Gebäudes nicht unbedingt erforderlich. Es sei auch nicht ohne Weiteres eindeutig, dass „vorgefertigte Gebäude“ von Menschen betreten werden können beziehungsweise ob dies zwingend in aufrechtem Gang oder auch großen Menschen möglich sein müsse.
9 Das HZA vertritt demgegenüber die Auffassung, dass angesichts fehlender Begriffsbestimmungen im Positionswortlaut, den Anmerkungen sowie den Erläuterungen für den Begriff „vorgefertigte Gebäude“ zwar zunächst auf den allgemeinen Sprachgebrauch zurückzugreifen sei (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union —EuGH— Profit Europe vom - C-397/17 und C-398/17, EU:C:2018:564). Zu beachten sei aber zusätzlich, dass nicht alle Erzeugnisse, die vom Begriff des „Gebäudes“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs erfasst seien, auch „vorgefertigte Gebäude“ i.S. der Anm. 4 zu Kap. 94 KN und des Wortlauts der zolltariflichen Pos. 9406 KN darstellten. Den in Anm. 4 zu Kap. 94 KN aufgelisteten Gebäuden seien unter anderem (u.a.) folgende Eigenschaften immanent: Sie seien allseitig umschlossen, zum langfristigen (immobilen) Einsatz bestimmt, wiesen eine stabile Bauweise auf und müssten groß genug sein, um einer durchschnittlich großen Person das Betreten zu ermöglichen. Für die streitgegenständlichen Kälberhütten treffe dies nicht zu.
Gründe
II.
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1. | Setzt die Position 9406 KN zwingend voraus, dass ein vorgefertigtes Gebäude einen Raum zu allen Seiten vollständig umschließen muss? |
2. | Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Setzt die Position 9406 KN voraus, dass das vorgefertigte Gebäude groß genug ist, um einem durchschnittlich großen Menschen das Betreten zu ermöglichen und ist hierfür mindestens ein betretbarer Bereich in Stehhöhe für einen solchen Menschen erforderlich oder genügt auch eine Betretbarkeit in gebeugter Körperhaltung? |
III.
11 Nach Auffassung des Senats kommt es für die Lösung des Streitfalls auf die folgenden Vorschriften des Unionsrechts an, an deren Auslegung für den Streitfall entscheidungserhebliche Zweifel bestehen.
12 Für die streitgegenständliche vZTA vom ist die KN in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1101/2014 der Kommission vom zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (Amtsblatt der Europäischen Union —ABlEU— 2014, Nr. L 312, 1), die am in Kraft getreten ist, maßgeblich. In den für den Streitfall und die Beantwortung der Vorlagefragen nach Ansicht des Senats entscheidenden Teilen ist die KN seither ohne relevante Änderungen geblieben.
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Die für den Streitfall maßgeblichen Vorschriften der KN lauten: | |
3926 | Andere Waren aus Kunststoffen und Waren aus anderen Stoffen der Positionen 3901 bis 3914 |
9406 00 | Vorgefertigte Gebäude |
14 Anm. 1 zu Kap. 39 KN:
1. Als „Kunststoffe“ gelten in der Nomenklatur die Stoffe der Positionen 3901 bis 3914, die im Zeitpunkt der Polymerisation oder in einem späteren Stadium unter einer äußeren Einwirkung (im Allgemeinen Wärme und Druck, falls erforderlich auch unter Zuhilfenahme von Lösemitteln oder Weichmachern) durch Gießen, Pressen, Strangpressen, Walzen oder ein anderes Verfahren eine Form erhalten können oder erhalten haben, die auch nach Beendigung der äußeren Einwirkung erhalten bleibt.
15 Anm. 2 Buchst. x zu Kap. 39 KN:
2. Zu Kapitel 39 gehören nicht:
...
x) Waren des Kapitels 94 (z.B. Möbel, Beleuchtungskörper, Reklameleuchten, vorgefertigte Gebäude);
16 Anm. 4 zu Kap. 94 KN:
Als „vorgefertigte Gebäude“ im Sinne der Position 9406 gelten Gebäude, die im Werk fertig gestellt worden sind oder als Einzelteile geliefert, gemeinsam zur Abfertigung gestellt, auf der Baustelle zusammengesetzt werden, wie Wohngebäude, Baustellenunterkünfte, Bürogebäude, Schulen, Kaufhäuser, Schuppen, Garagen oder ähnliche Gebäude.
17 Allgemeine Vorschrift für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur —AV— 2 a:
Jede Anführung einer Ware in einer Position gilt auch für die unvollständige oder unfertige Ware, wenn sie im vorliegenden Zustand die wesentlichen Beschaffenheitsmerkmale der vollständigen oder fertigen Ware hat. Sie gilt auch für eine vollständige oder fertige oder nach den vorstehenden Bestimmungen dieser Vorschrift als solche geltende Ware, wenn diese zerlegt oder noch nicht zusammengesetzt gestellt wird.
18 AV 3 b:
Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, und für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellungen, die nach der Allgemeinen Vorschrift 3 a) nicht eingereiht werden können, werden nach dem Stoff oder Bestandteil eingereiht, der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, wenn dieser Stoff oder Bestandteil ermittelt werden kann.
IV.
19 Hinsichtlich der für die Tarifierung der eingeführten Ware maßgeblichen Auslegung der Pos. 9406 KN bestehen Zweifel. Es kommt im Streitfall auf eine exakte Definition des an dieser Stelle geltenden Gebäudebegriffs an, weil diese Definition den Ausschlag dafür gibt, ob die Waren als „vorgefertigte Gebäude“ in die Pos. 9406 KN oder als „andere Waren aus Kunststoffen ...“ in die Pos. 3926 KN einzureihen sind. Die Auswahl der jeweiligen Unterposition ist vorliegend nicht streitig. Anders als in anderen Regelungszusammenhängen des Unionsrechts —konkret etwa in Art. 12 Absatz 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABlEU 2006, Nr. L 347, 1), der den mehrwertsteuerrechtlichen Gebäudebegriff auf mit dem Boden fest verbundene Bauwerke einengt— enthält der Gemeinsame Zolltarif keine ausdrückliche Definition des Gebäudebegriffs.
20 1. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist —vorbehaltlich der Anwendbarkeit einer Einreihungsverordnung— im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zolltarifliche Einreihung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen der KN und den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind. Die Erläuterungen sowohl zum HS als auch zur KN sind demgegenüber zwar nicht verbindlich, aber wichtige Hilfsmittel, um eine einheitliche Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs zu gewährleisten. Sie können wertvolle Hinweise für dessen Auslegung liefern (EuGH-Urteil PRODEX vom - C-72/21, EU:C:2022:312, Rz 28 f., m.w.N.).
21 2. Die Pos. 3926 KN erfasst nach ihrem Wortlaut „Andere Waren aus Kunststoffen ...“.
22 Die streitgegenständlichen Kälberhütten wären nach der Anm. 1 zu Kap. 39 KN und der AV 3 b entsprechend ihrer stofflichen Beschaffenheit —Fertigung überwiegend aus dem Kunststoff Polyethylen— grundsätzlich von der Pos. 3926 KN erfasst. Die Anm. 2 Buchst. x zu Kap. 39 KN bestimmt indes, dass Waren des Kap. 94 (u.a. vorgefertigte Gebäude) aus Kap. 39 ausgewiesen sind.
23 Für den Streitfall entscheidungserheblich ist mithin die Frage, ob die streitgegenständlichen Waren „vorgefertigte Gebäude“ i.S. der Pos. 9406 KN sind.
24 a) Die erste Vorlagefrage zielt in diesem Zusammenhang auf eine Klärung ab, ob ein vorgefertigtes Gebäude i.S. der Pos. 9406 KN einen Raum zu allen Seiten hin vollständig umschließen muss. Ist dies der Fall, könnten die von der Klägerin eingeführten Kälberhütten nicht als vorgefertigte Gebäude eingereiht werden, weil sie jeweils über eine offene Frontseite als Ein- und Austrittsöffnung verfügen. Der Wortlaut der Pos. 9406 KN auf der einen und die Anm. 4 zu Kap. 94 KN auf der anderen Seite lassen sich bezüglich des Erfordernisses einer geschlossenen Bauweise unterschiedlich interpretieren, weshalb der vorlegende Senat den EuGH um Klärung ersucht.
25 aa) Für die Sichtweise der Klägerin, dass ein allseitig umschlossener Raum keine zwingende Voraussetzung für das Vorliegen eines vorgefertigten Gebäudes i.S. der Pos. 9406 KN ist, spricht in erster Linie, dass weder der Wortlaut des Verordnungstextes noch die dazu gegebenen Anmerkungen ein solches Tatbestandsmerkmal ausdrücklich enthalten. Ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal als maßgebliches Abgrenzungskriterium für die zolltarifliche Einreihung von Waren heranzuziehen, widerspricht der oben genannten EuGH-Rechtsprechung, wonach die Einreihung einer Ware im Interesse der Rechtssicherheit zuvorderst anhand der im Wortlaut der Positionen der KN und den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln verankerten objektiven Merkmale und Eigenschaften vorzunehmen ist. Auch nach dem allgemeinem Sprachgebrauch erfordern Gebäude zwar eine Überdeckung, aber nicht zwingend Wände auf allen Seiten, sodass ein allseitig umschlossener Raum besteht. So können fest errichtete und überdachte, zu einer oder mehreren Seiten hin offene Unterstände einer gewissen Größe, die dem Schutz von Tieren, Menschen oder Sachen dienen, nach der allgemeinen Verkehrsanschauung durchaus Gebäude sein.
26 Die in Anm. 4 zu Kap. 94 KN genannten Gebäudebeispiele —Wohngebäude, Baustellenunterkünfte, Bürogebäude, Schulen, Kaufhäuser, Schuppen, Garagen— bilden zwar ganz überwiegend allseitig umschlossene Räume. Zu Recht weist die Klägerseite aber darauf hin, dass beispielsweise Schuppen, die in der Auflistung Tierställen am nächsten kommen dürften, mitunter auch über eine oder mehrere vollständig offene Seiten verfügen können.
27 Verlangte man eine allseitig geschlossene Bauweise als zwingende Voraussetzung für „vorgefertigte Gebäude“ i.S. der Pos. 9406 KN, führte dies mitunter zu unstimmigen Abgrenzungsergebnissen. Wie das FG im Streitfall festgestellt hat, sind für einige der streitgegenständlichen Warenmodelle Türen als optionales Zubehör erhältlich. Ausgestattet mit diesen Türen würden die Kälberhütten einen umschlossenen Raum bilden. Obgleich dann jeweils sich stark ähnelnde, aus Sicht des Verwenders im Wesentlichen identische Erzeugnisse vorlägen, wären sie an dieser Stelle im Zolltarif nicht gleichgestellt. Eine Behandlung der türlosen Kälberhütten als unvollständige Ware i.S. der AV 2 a scheidet nach Dafürhalten des vorlegenden Senats in diesem Zusammenhang aus, da es sich bei den für einige Modelle verfügbaren Türen um optionales Zubehör handelt und die Hütten unabhängig vom Vorhandensein einer Tür vollständig fertiggestellte Waren sind.
28 bb) Für die Sichtweise des HZA spricht demgegenüber, dass die in Anm. 4 zu Kap. 94 KN aufgelisteten Gebäudebeispiele —Wohngebäude, Baustellenunterkünfte, Bürogebäude, Schulen, Kaufhäuser, Schuppen, Garagen— in aller Regel allseitig umschlossene Räume bilden und eben nur diese oder diesen „ähnliche“ —und damit nicht sämtliche— Gebäude in den Anwendungsbereich der Pos. 9406 KN gehören. Es fällt auf, dass der Verordnungsgeber in seiner Auflistung keine Gebäudetypen nennt, die in der Regel keinen allseitig umschlossenen Raum formieren, wie beispielsweise Carports, Gartenpavillons oder offene Unterstände für Weidevieh.
29 cc) Der vorlegende Senat neigt zu der Auffassung, dass die erste Vorlagefrage entgegen der Rechtsmeinung des FG und des HZA zu verneinen ist. Entscheidend für die Festlegung der Eigenschaften, über die „vorgefertigte Gebäude“ i.S. der Pos. 9406 KN zwingend verfügen müssen, sind ausgehend von der unter 1. dargestellten EuGH-Rechtsprechung in erster Linie der Wortlaut der fraglichen Position der KN und der vom Verordnungsgeber dazu geschaffenen Anmerkungen. Der Wortlaut der Pos. 9406 KN liefert indes keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Bejahung der ersten Vorlagefrage. Eine derartige Anforderung lässt sich nach Meinung des vorlegenden Senats aus den seitens der Klägerin zutreffend angeführten Gründen auch nicht aus der zur Begriffsklärung gegebenen beispielhaften Warenauflistung in Anm. 4 zu Kap. 94 KN ableiten.
30 Die vom vorlegenden Senat favorisierte Sichtweise wird im Übrigen auch vom Ausschuss für den Zollkodex geteilt. In der Protokollerklärung des Ausschusses für den Zollkodex, Fachbereich Zolltarifliche und Statistische Nomenklatur (Teilbereich Textilien und Mechanik/Verschiedenes) - 227. Sitzung des Ausschusses für den Zollkodex vom 06. bis (Nationale Entscheidungen und Hinweise zu Pos. 9406 KN, Rz 08.0 bis 12.0, Stand ) heißt es betreffend die Einreihung eines überdachten Gartenhauses, das mit drei Seitenwänden aus gehärtetem Glas eingeführt wird: „Derartige Wintergärten mit Aluminiumrahmen, Glaspaneelen und Schiebetüren gelten als vorgefertigte Gebäude und sind in den KN-Code 9406 90 90 einzureihen, auch wenn sie nur drei Wände und ein Dach aufweisen und selbst dann, wenn sie so konstruiert sind, dass sie an ein anderes Gebäude angebaut werden müssen, da ein Gebäude nicht unbedingt vier Wände haben muss. Es müssen jedoch ein Dach und einige Wände vorhanden sein.“
31 b) Die zweite Vorlagefrage zielt auf eine Klärung ab, ob ein vorgefertigtes Gebäude i.S. der Pos. 9406 KN hoch genug sein muss, um einem durchschnittlich großen Menschen das Betreten zu ermöglichen, und ob dann hierfür mindestens ein Raum in Stehhöhe für einen durchschnittlich großen Menschen vorhanden sein muss oder ob auch eine Betretbarkeit in gebeugter Körperhaltung ausreichend ist. Diese Frage ist entscheidungserheblich. Würde sie hinsichtlich des Erfordernisses der Stehhöhe für durchschnittlich große Menschen bejaht, wäre die Revision der Klägerin unbegründet, weil die von ihr eingeführten Kälberhütten nicht über Stehhöhe für einen durchschnittlich großen Menschen verfügen und damit nicht als vorgefertigtes Gebäude i.S. der Pos. 9406 KN angesehen werden könnten. In gebeugter Körperhaltung sind indes selbst die kleinsten der streitgegenständlichen Kälberhütten für durchschnittlich große Menschen betretbar.
32 Die streitgegenständlichen Waren werden üblicherweise von erwachsenen Menschen bewirtschaftet, die darin Kälber unterbringen und versorgen. Die durchschnittliche Körpergröße Erwachsener in der Europäischen Union fällt regional und geschlechtsabhängig unterschiedlich aus. Sie beträgt für Männer je nach Region etwa 176 cm bis 184 cm und für Frauen etwa 163 cm bis 171 cm (vergleiche die zusammenfassende Studie der NCD Risk Factor Collaboration „Height and body-mass index trajectories of school-aged children and adolescents from 1985 to 2019 in 200 countries and territories: a pooled analysis of 2181 population-based studies with 65 million participants“, veröffentlicht in The Lancet 2020, 396, Seiten 1511 bis 1524). Die größte streitgegenständliche Kälberhütte, die „Gruppenhütte“, ist 183 cm hoch. Selbst die Dimensionen dieser Gruppenhütte (die anderen sind noch deutlich niedriger) erreichen nach Ansicht des Senats nicht eine Stehhöhe für durchschnittlich große typische Verwender der Ware, die der vorlegende Senat im vorliegenden Zusammenhang auf mindestens 190 cm festlegen würde. Denn für die Stehhöhe ist eine gewisse Kopffreiheit erforderlich und für die streitgegenständlichen Waren tritt zusätzlich der Umstand hinzu, dass ein relevanter Teil ihrer freien Höhe durch die für ihre übliche Nutzung erforderliche Einstreu verloren geht.
33 aa) Für die Sichtweise der Klägerin spricht, dass sich aus dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen nicht eindeutig ergibt, dass „vorgefertigte Gebäude“ durch Menschen betretbar sein müssen, und dass es —wie dargelegt— schwerfällt, insofern exakte Abgrenzungskriterien zu definieren.
34 bb) Für die Sichtweise des HZA spricht, dass alle in der Anm. 4 zu Kap. 94 KN beispielhaft aufgeführten vorgefertigten Gebäude der Pos. 9406 KN für durchschnittlich große Menschen betretbar und hierzu auch bestimmt sind. Sofern Menschen ein Gebäude betreten und sich in ihm aufhalten, tun sie das ganz üblicherweise in aufrechter Körperhaltung und mit Kopffreiheit nach oben, was dafür streitet, eine Betretbarkeit für den Gebäudebegriff zu fordern und eine solche zudem nur im Falle ausreichender Stehhöhe zu bejahen.
35 cc) Der vorlegende Senat neigt zu der Auslegung, dass eine Ware nur dann ein vorgefertigtes Gebäude i.S. der Pos. 9406 KN sein kann, wenn sie von durchschnittlich großen Menschen betreten werden kann und hierfür mindestens ein Raum mit Stehhöhe für solche Menschen vorhanden ist. Die Gebäudeeigenschaft der streitgegenständlichen Waren dürfte an deren hierfür zu geringer Höhe scheitern. Eine bauliche Anlage ist nach Auffassung des Senats allenfalls dann ein Gebäude, wenn sie von dem typischen menschlichen Nutzer —mithin nicht nur von Kindern oder Menschen mit unterdurchschnittlicher Körpergröße— in aufrechter Körperhaltung betreten und genutzt werden kann. Dies erfordert Stehhöhe für durchschnittlich große Menschen in mindestens einem Teilbereich. Über diese Eigenschaft verfügen Gebäude schon nach dem allgemeinen Sprachverständnis und auch die in Anm. 4 zu Kap. 94 KN genannten Gebäudebeispiele eint dieses gemeinsame Merkmal.
36 Dass die zolltarifliche Einreihung von Waren als „vorgefertigte Gebäude“ u.a. auch von ihrer Höhe und der Betretbarkeit durch Menschen abhängt, zeigt weiterhin das Beispiel von Gewächshäusern, die in sehr unterschiedlichen Dimensionen in das Zollgebiet der Union eingeführt werden. „Gewächshäuser“ der Unterpos. 9406 0031 KN und damit „vorgefertigte Gebäude“ i.S. der Pos. 9406 KN sind nur gegeben, sofern ihre Größe ausreicht, um einer Person das Betreten zu ermöglichen. Dies ergibt sich etwa aus der Verordnung (EG) Nr. 1655/2005 der Kommission vom zur Einreihung von bestimmten Waren in die Kombinierte Nomenklatur (ABlEU 2005, Nr. L 266, 50) betreffend die Einreihung eines Minigewächshauses (Abmessungen 50 cm x 24 cm x 25 cm) in die Pos. 4421 KN. Die Verordnungsbegründung stellt darauf ab, dass ein solches wegen seiner Größe nicht als ein vorgefertigtes Gebäude der Pos. 9406 KN angesehen werden könne. Darüber hinaus spricht auch die Erläuterung zur KN 02.0 zu Pos. 9406 dafür, dass vorgefertigte Gebäude eine Stehhöhe erfordern. Denn in der genannten Erläuterung heißt es in Bezug auf die Einreihung von im Gartenbau verwendeten Folientunneln als „vorgefertigte Gebäude“, dass sie groß genug sein müssen, um einer Person das Betreten zu ermöglichen.
37 Zusätzlich bedürfte dieses Kriterium in Grenzfällen noch einer näheren Ausgestaltung, konkret einer Klärung, ob die entsprechende Betretbarkeit erst ab der Dimension einer Stehhöhe für durchschnittlich große Menschen in mindestens einem Teilbereich gegeben ist oder ob es ausreicht, dass ein Aufenthalt zumindest kleineren Menschen oder aber durchschnittlich großen Menschen jedenfalls in gebeugter Körperhaltung möglich ist. Die Auslegung des für den Rechtsstreit entscheidungserheblichen Unionsrechts ist mithin nicht derart offenkundig, dass keinerlei Raum für vernünftige Zweifel verbleibt.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2022:VE.230822.VIIR25.20.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2023 S. 491 Nr. 4
BFH/PR 2023 S. 211 Nr. 6
BFH/PR 2023 S. 211 Nr. 6
DStR 2023 S. 10 Nr. 8
DStRE 2023 S. 377 Nr. 6
PAAAJ-34284