Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste und Gewährung einer zusätzlichen linearen Gehaltssteigerung aus Tarifverträgen
Instanzenzug: Az: 15 Ca 6412/19 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 8 Sa 505/20 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste seit April 2019 und die Gewährung zusätzlicher Gehaltssteigerungen aus Tarifvertrag für die Zeit von Januar 2018 bis einschließlich Februar 2021.
2Der Kläger war von November 1988 bis zum bei der Beklagten, die ein Luftfahrtunternehmen betreibt, bzw. deren Rechtsvorgängerin am Stationierungsstandort D zuletzt als Flugkapitän auf dem Muster B 737 beschäftigt. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit e. V. (iF VC).
3Gemäß § 15 Abs. 14 Manteltarifvertrag Nr. 4 für das Cockpitpersonal der TUIfly GmbH vom (iF MTV Nr. 4) werden nicht abgerufene Standby-Dienste mit jeweils zwei Mehrflugstunden vergütet.
4Am schloss die Beklagte mit der VC eine „Tarifvereinbarung“ (iF TV 2017), die ua. bestimmt:
5Eine Regelung zur Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste findet sich im Manteltarifvertrag Nr. 5 für das Cockpitpersonal der TUIfly GmbH vom 4./ (iF MTV Nr. 5) nicht. Dieser bestimmt in § 17 Abs. 18, dass die Regelung unter IV. Ziff. 1 TV 2017 von der im MTV Nr. 5 geregelten Vereinbarung zur Standbyregelung unberührt und somit weiterhin bestehen bleibt.
6Die Beklagte plante den Kläger im Jahr 2019 für 20 Standby-Dienste und im Jahr 2020 für 22 Standby-Dienste ein, die sie jedoch nicht abrief.
7Die europäische Luftfahrtbehörde sperrte am den europäischen Luftraum für Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und 9. Der Flugzeughersteller Boeing lieferte die bereits im Jahr 2017 von der Beklagten bestellten Flugzeuge dieses Typs nicht planmäßig von März bis Mai 2019 aus. Die bis dahin geleasten älteren Maschinen des Typs Boeing 737 musste die Beklagte im Frühjahr 2019 an den Leasinggeber zurückgeben, eine Verlängerung der Leasingverträge war nicht möglich. Die Beklagte unterschritt in der Zeit von April bis Oktober 2019 die festgelegte Mindestanzahl von 39 Flugzeugen. Die Tarifvertragsparteien stritten darüber, ob insoweit ein Fall von höherer Gewalt vorliegt.
8Mit Schreiben vom teilte die VC ihren Mitgliedern ua. mit, dass angesichts des Groundings der Boeing 737 MAX Verhandlungen mit der Beklagten geführt würden und vereinbart worden sei, die Regelung zu den Folgen des Unterschreitens der Mindestanzahl zu betreibender Flugzeuge in IV. TV 2017 zunächst außer Kraft zu setzen. Am vereinbarten die Beklagte und die VC sodann eine „Protokollnotiz zur Tarifvereinbarung vom “ (iF Protokollnotiz vom ), wonach die Regelung in IV. Ziff. 1 TV 2017 bis zum außer Kraft gesetzt wird.
9Am schlossen die Beklagte und die VC einen „Tarifvertrag 2019“ (iF TV 2019), der ua. bestimmt:
10Zu der Regelung in Buchst. D TV 2019 vereinbarten die Tarifvertragsparteien am eine „Protokollnotiz zum Tarifvertrag 2019“ (iF Protokollnotiz vom ), die wie folgt lautet:
11Mit einer am unterzeichneten „Protokollnotiz zum Tarifvertrag 2019 `Moratorium´“ (iF Protokollnotiz Moratorium vom ) vereinbarten die Tarifvertragsparteien, die Beschlussfrist zur Etablierung einer Langstrecke bis zum zu verlängern. Im maßgeblichen Zeitraum ist kein Beschluss zur Etablierung einer Langstrecke gefasst worden.
12Die Beklagte erhob am Klage gegen die VC, um diese zur Abgabe einer Erklärung wegen des Vorliegens höherer Gewalt iSv. IV. Ziff. 2 Abs. 2 TV 2017 zu verpflichten, hilfsweise das Vorliegen höherer Gewalt gerichtlich feststellen zu lassen. Im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren vereinbarten die Beklagte und die VC am ua. eine „Protokollnotiz zur Tarifvereinbarung vom “ (iF Protokollnotiz vom ), woraufhin die Beklagte die Klage zurücknahm. Diese Protokollnotiz beinhaltet:
13Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung hat der Kläger mit seiner Klage - soweit für die Revision von Belang - zunächst für die Zeit von Januar 2018 bis September 2019 weitere Vergütung gefordert. Er hat gemeint, ihm stehe für das Jahr 2018 ein um 2,5 % und ab dem Jahr 2019 ein um 3 % erhöhtes Monatsgehalt zu. Zu vergüten seien zudem die nicht abgerufenen Standby-Dienste ab April 2019. Angesichts der geschuldeten Gehaltserhöhungen sei auch die Berechnungsbasis für die Mehrflugstunden und die Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste nach oben anzupassen. Eine rückwirkende Änderung durch Tarifvertrag sei nicht zulässig, weil sein Vertrauen schützenswert sei. Mit Klageerweiterung in der Berufungsinstanz hat der Kläger zusätzliche Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste aus der Zeit von März bis November 2020 sowie die Weitergabe von Tarifentgelterhöhungen für die Zeit von Januar 2020 bis Februar 2021 gefordert.
14Der Kläger hat - soweit für die Revision von Bedeutung - zuletzt beantragt,
15Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die Zusage einer Mindestflottengröße sei nicht tariflich regelbar. Nach dem Rechtsgedanken des § 344 BGB sei die zugesagte Vergütungserhöhung unwirksam. Zumindest seien die geltend gemachten Ansprüche wegen höherer Gewalt ausgeschlossen. Jedenfalls schließe die Protokollnotiz vom etwaige Ansprüche auch rückwirkend aus.
16Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte in Bezug auf nicht abgerufene Standby-Dienste in der Zeit von April bis September 2019 zur Zahlung von 4.431,36 Euro brutto nebst Zinsen verurteilt, im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten die Klage vollständig abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Zahlungsklage insgesamt weiter.
Gründe
17Die Revision des Klägers ist unbegründet. Er kann keine Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste und Gehaltserhöhungen verlangen. Solche Vergütungsansprüche werden durch die Protokollnotiz vom wirksam abbedungen.
18I. Die Revision ist nicht bereits deshalb teilweise erfolglos, weil der Kläger in der Berufungsinstanz seine Klage um weitere Zahlungsansprüche erweitert hat und dieser Teil der Klage unzulässig wäre. Das Landesarbeitsgericht hat über die geänderten Anträge in der Sache entschieden. Eine Überprüfung hat der Senat in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO in der Revision nicht mehr vorzunehmen (vgl. - Rn. 20 mwN).
19II. Der Kläger kann keine Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste für die Zeit seit April 2019 verlangen. Soweit ein solcher Anspruch grundsätzlich aus § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 folgen kann, ist er durch die Protokollnotiz vom abbedungen. Unabhängig davon sind für den Monat April 2019 die Anspruchsvoraussetzungen bereits nicht erfüllt.
201. Grundlage eines Anspruchs auf Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste ist § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4. Danach werden diese Dienste wertmäßig mit jeweils zwei Mehrflugstunden vergütet. Die Regelungen des MTV Nr. 4 finden auf das Arbeitsverhältnis des Klägers Anwendung.
21a) Der persönliche Geltungsbereich nach § 1 MTV Nr. 4 ist eröffnet, der Kläger ist nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts Flugkapitän und damit Arbeitnehmer des Cockpitpersonals sowie Mitglied der VC. Die Beklagte ist selbst Partei des Tarifvertrags. Damit finden die Regelungen des MTV Nr. 4 auf das Arbeitsverhältnis des Klägers aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG). Der räumliche Geltungsbereich nach § 1 MTV Nr. 4 ist ebenfalls eröffnet, nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war der Kläger am Stationierungsstandort D tätig.
22b) Der zeitliche Geltungsbereich des MTV Nr. 4 ist für die streitgegenständlichen Ansprüche eröffnet.
23aa) Das Inkrafttreten der Bestimmungen des MTV Nr. 4 lässt sich § 35 MTV Nr. 4 nicht entnehmen, obwohl dessen Überschrift ua. „Inkrafttreten“ lautet. Es folgt vielmehr aus dem Eingangssatz des Tarifvertrags, der „mit Wirkung vom “ abgeschlossen wird. Gleichermaßen bezieht sich die Überschrift von § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 mit „Bereitschaftszeit (Stand-by-Zeit) gültig ab dem “ auf dieses Datum.
24bb) Nach § 35 Abs. 1 MTV Nr. 4 endete der Tarifvertrag zum , ohne dass es einer Kündigung bedurfte. Damit begann am gemäß § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung der Inhaltsnormen des Tarifvertrags. Diese umfasst auch die Regelung des § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 und erfasst das Arbeitsverhältnis des Klägers, für das der MTV Nr. 4 zuvor iSv. § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend galt (vgl. st. Rspr., zB - Rn. 24 mwN, BAGE 160, 273).
25cc) Mit dem MTV Nr. 5 haben die Tarifvertragsparteien eine andere Abmachung iSv. § 4 Abs. 5 TVG getroffen und damit die Nachwirkung des MTV Nr. 4 beendet. Indes bleibt § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 als mögliche Anspruchsgrundlage erhalten.
26Die Regelungen des § 17 MTV Nr. 5 zur Bereitschaftszeit (Standby) traten gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 MTV Nr. 5 zum in Kraft. Diese enthalten im Gegensatz zu § 15 MTV Nr. 4 keine Bestimmung zur Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste. Jedoch bestimmt § 17 Abs. 18 MTV Nr. 5, dass IV. Ziff. 1 TV 2017 von der im MTV Nr. 5 geregelten Vereinbarung zur Standbyregelung unberührt und somit weiterhin bestehen bleibt. Daraus folgt, dass in Anwendung von IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 bei Unterschreitung der Mindestanzahl an Flugzeugen die Bestimmung zum Standby-Konzept, die mit III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 ausgesetzt wurde, mit sofortiger Wirkung wiederauflebt. Bei III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 handelt es sich um die Streichung der Bezahlung nicht abgerufener Standby-Dienste nach § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4. Somit bleibt für die geltend gemachten Zahlungsansprüche ab April 2019 der zeitliche Anwendungsbereich der Anspruchsgrundlage grundsätzlich eröffnet.
272. Die Klage auf Zahlung von Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste ist teilweise schon deshalb unbegründet, weil - unabhängig von den Protokollnotizen - für den Monat April 2019 bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 nicht erfüllt sind. Diese Regelung zur Bezahlung nicht abgerufener Standby-Dienste ist durch die Bestimmung von III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 ersatzlos gestrichen worden. Sie lebt allerdings gemäß IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 mit sofortiger Wirkung wieder auf, wenn die Mindestanzahl der zu betreibenden Flugzeuge unterschritten wird. Diese Mindestanzahl ist in I. Ziff. 1 TV 2017 geregelt. Nach dessen Satz 4 1. Spiegelstrich gilt zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen die Mindestanzahl von 39 Flugzeugen für den Zeitraum vom 1. Mai bis zum . Unbeschadet der Feststellung des Landesarbeitsgerichts, dass die Beklagte die Mindestanzahl der Flugzeuge bereits ab April 2019 unterschritten hat, kann aufgrund I. Ziff. 1 Satz 4 1. Spiegelstrich TV 2017 eine für die tarifliche Regelung zum Wiederaufleben des Zahlungsanspruchs relevante Unterschreitung der Mindestanzahl erst mit dem Monat Mai 2019 vorliegen. Damit kommt es für April 2019 nicht zu einem Wiederaufleben des Zahlungsanspruchs, dieser bleibt nach III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 „ersatzlos gestrichen“.
283. Unabhängig davon ist die Klage auf Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste unbegründet, weil der Anspruch nach § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 durch III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 ersatzlos gestrichen worden ist. Die Bestimmung zum Wiederaufleben des Anspruchs nach IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 kommt wegen der Protokollnotiz vom nicht zur Anwendung.
29a) Nach III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 wird die gemäß § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 zu gewährende Bezahlung für nicht abgerufene Standby-Dienste zum ersatzlos gestrichen. Nach den für die Auslegung von Tarifverträgen anzuwendenden allgemeinen Auslegungsgrundsätzen (vgl. hierzu st. Rspr. - Rn. 35 mwN, BAGE 164, 326) führt dies zum Wegfall des Anspruchs auf Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste.
30b) Der Vergütungsanspruch ist nicht aufgrund der Regelung in IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 wiederaufgelebt. Dem steht die Protokollnotiz vom entgegen.
31aa) Nach IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 lebt ua. die Regelung zum Standby-Konzept, die unter III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 ausgesetzt wurde, mit sofortiger Wirkung wieder auf, sobald der unter I. Ziff. 1 TV 2017 geregelte Betrieb der vereinbarten Mindestanzahl von Flugzeugen während der Laufzeit des TV 2017 unterschritten wird.
32(1) Nach I. Ziff. 1 Satz 2 TV 2017 beträgt die Mindestanzahl der von der Beklagten zu betreibenden Flugzeuge vom Typ Boeing 737 ab dem Sommerflugplan 2019 insgesamt 39. Dabei gilt nach Satz 4 der Regelung zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen die Mindestanzahl für die Zeiträume vom 1. Mai bis zum und vom 1. Mai bis zum .
33(2) Nach den in der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) hat die Beklagte die Mindestanzahl der zu betreibenden Flugzeuge in der Zeit von April bis einschließlich Oktober 2019 unterschritten.
34bb) Dem Wiederaufleben des Vergütungsanspruchs in Anwendung der Regelung in IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 steht Buchst. D TV 2019 nicht entgegen. Diese Bestimmung soll nach dem Willen der Tarifvertragsparteien, der in der Protokollnotiz vom zum Ausdruck kommt, nicht die Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste betreffen. Unabhängig davon entfällt die Regelung des Buchst. D TV 2019 rückwirkend mangels Beschlusses der Beklagten zur Etablierung einer Langstrecke.
35(1) Die Regelung in Buchst. D TV 2019 bezieht sich auf IV. TV 2017, der die Unterschreitung der Anzahl an Flugzeugen betrifft, und sieht dessen Streichung vor. Damit könnte mangels einer Bestimmung zur Unterschreitung der Mindestanzahl zu betreibender Flugzeuge der Vergütungsanspruch aus § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 weiterhin in Anwendung von III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 abbedungen sein. Die in Buchst. D getroffene Regelung soll nach Buchst. H Ziff. 2 Satz 1 Halbs. 2 iVm. Ziff. 1 TV 2019 rückwirkend entfallen, sofern die TUI AG sowie die notwendigen Aufsichtsratsgremien bis zum einen Beschluss zur Aufnahme einer Langstrecke bei der TUIfly GmbH nicht gefasst haben. Sollte ein solcher Beschluss bis zum genannten Datum nicht gefasst werden, tritt der TV 2019 nicht in Kraft und es verbleibt bei den zum Zeitpunkt der Unterzeichnung bestehenden Regelungen ua. im MTV und im TV 2017 (Buchst. H Ziff. 3 Sätze 1 und 2 TV 2019).
36(2) Buchst. D TV 2019 ist unter Berücksichtigung der Protokollnotiz vom auszulegen. Nach deren § 1 soll sich Buchst. D TV 2019 auf eine etwaige Erhöhung der Entgelttabellen aus dem TV 2017 wegen Unterschreitung der Flottengröße beziehen. Ein Bezug zur Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste aus § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 ist darin nicht enthalten.
37(a) Die Protokollnotiz hat Rechtsnormcharakter. Ob eine zwischen Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinbarung eine solche Rechtsqualität hat, hängt neben der Erfüllung des Schriftformerfordernisses (§ 1 Abs. 2 TVG iVm. §§ 126, 126a BGB) davon ab, ob darin der Wille der Tarifvertragsparteien zur Normsetzung hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt (zur Protokollnotiz - Rn. 17 mwN; zur authentischen Interpretation vgl. - 1 ABR 44/89 - zu B V a der Gründe mwN; - 4 AZR 292/83 -). Dies ist im Wege der Auslegung zu ermitteln (vgl. - Rn. 31, BAGE 170, 56). Die Auslegung der Protokollnotiz als normativer Teil des Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln (vgl. - Rn. 26, BAGE 162, 144).
38(b) Die Protokollnotiz vom ist materieller Bestandteil des TV 2019. Sie erfüllt die formellen Anforderungen einer wirksamen tarifvertraglichen Regelung, § 1 Abs. 2 TVG, § 125 BGB, denn sie ist von den tarifvertragschließenden Parteien unterschrieben. In der Protokollnotiz kommt auch der Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien hinreichend deutlich zum Ausdruck (vgl. dazu - Rn. 19; - 4 AZR 355/13 - Rn. 33 mwN). Diese haben darin den Regelungsinhalt von Buchst. D TV 2019 näher bestimmt und vorgesehen, dass die dort angeordnete Streichung von IV. TV 2017 nur die in Ziff. 1 Abs. 2 geregelte Gehaltssteigerung betrifft. Damit bezieht sich die Protokollnotiz nicht auf die Regelungen zum Standby-Konzept nach IV. Ziff. 1 Abs. 1 TV 2017. Darüber hinaus ist in § 2 der Protokollnotiz vom das rückwirkende Entfallen der Regelung in Buchst. D TV 2019 vereinbart, sofern bis zum kein Beschluss zur Aufnahme einer Langstrecke bei der TUIfly GmbH gefasst wurde. Damit gestaltet die Protokollnotiz die Regelung in Buchst. D TV 2019 eigenständig aus und erläutert sie nicht nur. Mit der Regelung des § 1 Ziff. 2 der Protokollnotiz Moratorium vom haben die Tarifvertragsparteien sodann die Frist zur Beschlussfassung zur Aufnahme einer Langstrecke bis zum verlängert.
39(3) Nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) wurde durch die TUI AG ein Beschluss zur Aufnahme einer Langstrecke bei der Beklagten nicht gefasst. Damit kommt Buchst. H Ziff. 2 Satz 1 Halbs. 2 iVm. Ziff. 1 TV 2019 zur Anwendung und die in Buchst. D TV 2019 getroffene Regelung entfällt rückwirkend. Der TV 2019 tritt nicht in Kraft (Buchst. H Ziff. 3 Satz 1 TV 2019). Auch deshalb steht Buchst. D TV 2019 dem Wiederaufleben des Vergütungsanspruchs für nicht abgerufene Standby-Dienste nach IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 nicht entgegen.
40cc) Dahinstehen kann, ob es bereits wegen der Regelung in IV. Ziff. 2 Abs. 2 Satz 1 TV 2017 nicht zum Wiederaufleben der streitgegenständlichen Ansprüche kommt. Danach kann die unter I. Ziff. 1 TV 2017 festgelegte Mindestanzahl der zu betreibenden Flugzeuge bei höherer Gewalt unterschritten werden. Die Erfüllung der Voraussetzungen des Vorliegens höherer Gewalt ist zwischen den Parteien streitig. Es bedarf hierzu jedoch keiner Entscheidung des Senats, denn der Anspruch auf Vergütung besteht in keinem Fall, weil die Protokollnotiz vom dem Wiederaufleben des durch III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 abbedungenen Vergütungsanspruchs für nicht abgerufene Standby-Dienste aus § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 in Anwendung von IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 entgegensteht. Dies hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei erkannt.
41(1) In der Protokollnotiz vom , die sich auf den TV 2017 bezieht, haben die Tarifvertragsparteien vereinbart, „dass keine Ansprüche der Arbeitnehmer für die Zeit ab dem wegen der Unterschreitung der Flottengröße aus dem TV 2017 bestehen“. Die Auslegung der normativ wirkenden Protokollnotiz vom ergibt, dass hierdurch die Vergütungsansprüche für nicht abgerufene Standby-Dienste entfallen.
42(2) Die Protokollnotiz hat Rechtsnormcharakter. Sie erfüllt die formellen Voraussetzungen für eine wirksame tarifvertragliche Regelung, § 1 Abs. 2 TVG, § 125 BGB, weil sie von den tarifvertragschließenden Parteien unterschrieben ist. In ihr kommt der erforderliche Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien zum Ausdruck, denn sie enthält eine unmittelbare Regelung des Inhalts der tariflich gebundenen Arbeitsverhältnisse, indem sie bestimmt, dass für die Zeit ab dem keine Ansprüche von Arbeitnehmern wegen Unterschreitung der Flottengröße aus dem TV 2017 bestehen. Die von der Protokollnotiz erfassten Ansprüche ergeben sich aus § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4, der Abbedingung dieses Anspruchs durch III. Ziff. 3 Satz 1 TV 2017 und schließlich dem Wiederaufleben des Anspruchs aufgrund von IV. Ziff. 1 Satz 1 TV 2017 iVm. der Mindestanzahlbestimmung in I. Ziff. 1 Satz 4 TV 2017. Die fehlende Erwähnung des Vorliegens höherer Gewalt iSv. IV. Ziff. 2 Abs. 2 TV 2017 ist dabei irrelevant. Denn die in der Protokollnotiz getroffene Vereinbarung beseitigt unabhängig von der Feststellung eines Falles höherer Gewalt aufgrund der Sperrung des europäischen Luftraums für Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und 9 sämtliche Ansprüche wegen Unterschreitung der Flottengröße.
43dd) Die Protokollnotiz vom verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot.
44(1) Tarifvertragliche Regelungen tragen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen ist allerdings durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt; es gelten insoweit die gleichen Regelungen wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (st. Rspr., vgl. - Rn. 23 mwN).
45(2) Zu unterscheiden ist danach zwischen echter und unechter Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie in einen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich eingreift ( - Rn. 38; - 6 AZR 204/12 - Rn. 42 ff., BAGE 147, 373). Um eine unechte Rückwirkung handelt es sich demgegenüber, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Das ist der Fall, wenn belastende Rechtsfolgen erst nach ihrem Inkrafttreten eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits „ins Werk gesetzten“ Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“, vgl. ua. - Rn. 55, BVerfGE 127, 1; - Rn. 24 mwN).
46(3) Eine echte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig (vgl. - Rn. 51, BAGE 142, 294). Um eine solche handelt es sich im Streitfall jedoch nicht. Die Änderung der tarifvertraglichen Regelung zur Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste greift nicht zu Lasten der Arbeitnehmer und damit des Klägers in einen abgeschlossenen Tatbestand für zurückliegende Zeiträume ein. Mit der Unterschreitung der Mindestanzahl zu betreibender Flugzeuge für die Zeit ab Mai 2019 sind Ansprüche auf Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste nicht bereits sicher entstanden. Denn die Tarifvertragsparteien haben in IV. Ziff. 2 Abs. 2 Satz 1 TV 2017 einen Vorbehalt für eine Unterschreitung der nach I. Ziff. 1 TV 2017 festgelegten Mindestanzahl zu betreibender Flugzeuge im Fall höherer Gewalt vereinbart. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Bedingung oder ein negatives Tatbestandsmerkmal handelt, entsteht jedenfalls solange kein sicherer Anspruch der Arbeitnehmer, wie auf den Einwand der Beklagten, es liege ein Fall höherer Gewalt vor, keine Einigung zwischen den Tarifvertragsparteien - und sei es aufgrund Anrufung des Arbeitsgerichts - erzielt wurde.
47(4) Die damit im Streitfall vorliegende unechte Rückwirkung ist zulässig.
48(a) Die unechte Rückwirkung ist schon dann zulässig, wenn vernünftige Gründe der Tarifpolitik die Vertrauensenttäuschung tragen. Die besondere Sachkompetenz der Tarifvertragsparteien verschafft diesen eine Einschätzungsprärogative (Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 1 Rn. 1022). Über die Zulässigkeit entscheidet eine Abwägung zwischen höherrangigen (allgemeinen) Kollektivinteressen und dem Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der gegebenen Rechtslage (Wiedemann/Thüsing TVG 8. Aufl. § 1 Rn. 151). Der zu beachtende Vertrauensschutz geht somit nicht so weit, den normunterworfenen Personenkreis vor Enttäuschungen zu bewahren (vgl. - Rn. 40). Die bloßeallgemeine Erwartung, das geltende Recht werde künftig unverändert fortbestehen, ist nicht schutzwürdig. Vielmehr müssen besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten (vgl. ua. - Rn. 57, BVerfGE 127, 1; - Rn. 25).
49(b) Gemessen daran unterliegt es keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass mit der Protokollnotiz vom die Ansprüche auf Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste abbedungen werden. Damit haben die Tarifvertragsparteien den Arbeitnehmern nicht in unzulässiger Weise rückwirkend eine Rechtsposition entzogen. Die Arbeitnehmer und damit auch der Kläger konnten nicht darauf vertrauen, dass solche Ansprüche in jedem Fall bestehen würden.
50(aa) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) haben die Beklagte und die VC durchgehend Verhandlung über die Frage geführt, welche Folgen das Unterschreiten der vereinbarten Flottengröße haben sollte. Dem Schreiben der VC vom an ihre Mitglieder lässt sich bereits entnehmen, dass schon im April 2019 und damit unmittelbar nach Verhängung des Flugverbots Gespräche mit der Beklagten über die Konsequenzen geführt wurden. Diese Verhandlungen haben den ganzen Sommer 2019 angedauert und im Abschluss des TV 2019 gemündet, der gemeinsam mit der Protokollnotiz vom die Ansprüche aus dem TV 2017 modifiziert. Auch nachdem der dort genannte Beschluss zur Aufnahme einer Langstrecke nicht gefasst wurde, haben die Tarifvertragsparteien ihre Verhandlungen fortgeführt und eine Erklärungsfrist bis zum gesetzt. Nach Verweigerung einer Fristverlängerung durch die VC hat die Beklagte noch vor Ende Dezember 2020 Klage beim Arbeitsgericht auf Abgabe einer Erklärung zum Vorliegen höherer Gewalt bzw. dessen Feststellung erhoben. Dieser Rechtsstreit ist erst durch Klagerücknahme beendet worden, nachdem die Tarifvertragsparteien die Protokollnotiz vom vereinbart hatten.
51(bb) Die normunterworfenen Arbeitnehmer und damit der Kläger besaßen Kenntnis von den maßgeblichen Umständen und Entwicklungen. Die VC informierte ihre Mitglieder mit Schreiben vom über die Verhandlungen und die wechselseitigen Standpunkte. Auch für die Zeit davor durften sich die betroffenen Kreise des Cockpitpersonals der Beklagten angesichts des seit dem geltenden Flugverbots für die Boeing 737 MAX 8 und 9 nicht der Tatsache verschließen, dass dadurch Verhandlungsbedarf zwischen den Tarifvertragsparteien über das Vorliegen eines Falles höherer Gewalt iSv. IV. Ziff. 2 Abs. 2 TV 2017 entstehen würde. Durch die Entscheidung der TUI AG, keine Langstrecke bei der Beklagten zu etablieren und dem dadurch bedingten rückwirkenden Entfallen der Geltung des Buchst. D TV 2019 (vgl. Buchst. H Ziff. 2 Satz 1 Halbs. 2 TV 2019, Protokollnotiz vom ), hat sich der Streit über die Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt nicht erledigt. Denn die Beklagte hat im Dezember 2020 Klage gegen die VC erhoben, um diese zur Abgabe einer Erklärung wegen des Vorliegens höherer Gewalt zu verpflichten, hilfsweise das Vorliegen höherer Gewalt gerichtlich feststellen zu lassen. Ein Vertrauen auf ein Ausbleiben der Feststellung eines Falles höherer Gewalt konnte auch nicht wegen des Laufzeitendes des TV 2017 mit Ablauf des entstehen. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, das Laufzeitende könne keine starre zeitliche Grenze für die Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt sein, weil die Regelung in IV. Ziff. 2 TV 2017 keine Frist hierfür enthält.
52III. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gehaltserhöhungen für die Zeit ab Januar 2018 bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses, die Klage ist auch insoweit unbegründet. Ansprüche aus IV. Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 iVm. I. Ziff. 1 TV 2017 sind durch die Protokollnotiz vom rückwirkend entfallen.
531. Nach IV. Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 TV 2017 wird bei Unterschreiten der Mindestanzahl der zu betreibenden Flugzeuge iSv. I. Ziff. 1 TV 2017 rückwirkend zum 1. Januar des jeweiligen Vorjahres eine zusätzliche lineare Gehaltssteigerung gezahlt. Da die Beklagte nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts die tariflich vereinbarte Mindestanzahl zu betreibender Flugzeuge in den Monaten April bis Oktober 2019 unterschritten hat, kommt die Regelung als Anspruchsgrundlage grundsätzlich in Betracht.
542. Die Klage ist jedoch unbegründet. Dem Anspruch auf Gehaltserhöhungen steht zwar zunächst die Regelung in Buchst. D TV 2019 nicht entgegen. Diese Bestimmung soll nach der Protokollnotiz vom die hier streitgegenständlichen Entgelterhöhungen betreffen. Jedoch entfällt die Regelung des Buchst. D TV 2019 rückwirkend mangels Beschlusses der TUI AG zur Aufnahme einer Langstrecke bei der Beklagten (vgl. Rn. 39). Ansprüche auf Gehaltserhöhungen sind allerdings durch die Protokollnotiz vom entfallen. Die Auslegung der Protokollnotiz vom ergibt, dass die Vergütungsansprüche gegenstandslos werden. Die Protokollnotiz hat Rechtsnormcharakter (vgl. Rn. 42) und verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot (vgl. Rn. 43 ff.).
55IV. Die Kosten der Revision hat der Kläger nach § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:301122.U.5AZR27.22.0
Fundstelle(n):
XAAAJ-34225