BGH Urteil v. - 6 StR 163/22

Mordmerkmal der Heimtücke: Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bei offen feindseligem Gegenübertreten des Täters; bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit

Gesetze: § 211 Abs 2 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: Az: 21 Ks 4/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Nebenklägerin, die sich mit der Sachrüge gegen die Nichtannahme von Mordmerkmalen wendet, hat Erfolg. Die ebenfalls auf die Sachrüge gestützte und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten erweist sich hingegen als unbegründet.

I.

2Nach den Feststellungen des Landgerichts trennte sich die Nebenklägerin im Dezember 2019 von ihrem Ehemann, dem Angeklagten. Sie zog mit der gemeinsamen Tochter, der am geborenen E.   , und ihrer 2014 geborenen, aus einer früheren Beziehung stammenden Tochter aus dem Einfamilienhaus der Eheleute aus. Jedes zweite Wochenende – jeweils bis 18 Uhr am Sonntag – hielt sich E.   beim Angeklagten auf, der das Haus weiterhin bewohnte, allerdings Schwierigkeiten mit dessen Finanzierung hatte und in Sorge war, die Nebenklägerin werde ihren neuen Lebenspartner heiraten und gemeinsam mit diesem das Haus übernehmen.

3Am – einem Sonntag – befanden sich der Angeklagte und E.   gegen 17 Uhr im Badezimmer des Hauses. Das Kind war unbekleidet. Der Angeklagte drückte E.   s Kopf in Tötungsabsicht so in die befüllte Badewanne, dass Wasser in ihre Luftröhre und Lunge gelangte und sie das Bewusstsein verlor. In der Annahme, der Tod des Kindes sei bereits eingetreten, trug er es sodann in ein anderes Zimmer und legte es auf ein Bett. Dort erbrach sich E.   . Als der Angeklagte dies bemerkte, holte er ein Kabel, wickelte es ihr zweimal um den Hals und zog wiederum in Tötungsabsicht an den Kabelenden, bis infolge des Drosselns der Tod des Kindes eintrat. Anschließend unternahm er einen Suizidversuch.

II.

4Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig und begründet. Sie beanstandet zu Recht, dass die Ablehnung der Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe nicht tragfähig begründet ist.

51. Die Ablehnung heimtückischen Handelns des Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

6a) Das Landgericht hat das Mordmerkmal Heimtücke mit der Begründung abgelehnt, es habe keine Feststellungen zum konkreten Tatablauf treffen können, insbesondere dazu, wie der erste Angriff auf das Tatopfer erfolgt sei. Es erscheine „zwar sehr plausibel und wahrscheinlich, dass die Geschädigte ihrem Vater vertraute und sich daher in einer Situation befand, in der sie mit keinem Angriff rechnete“; immerhin seien auch keine Abwehrverletzungen oder Kampfspuren feststellbar. „Letzte Zweifel“, dass der Angeklagte dem Tatopfer „beispielsweise offen feindselig gegenübertrat“, habe „die Kammer gleichwohl nicht zu überwinden“ vermocht.

7Darüber hinaus habe sich „auch ein bewusstes Ausnutzen einer auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit“ nicht feststellen lassen. Der Angeklagte habe sich nicht eingelassen, und „äußere Anhaltspunkte für ein bewusstes Ausnutzen“ seien „nicht ersichtlich“ (UA S. 37).

8b) Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.

9aa) Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen bzw. Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. , Rn. 11; vom – 1 StR 292/08, Rn. 24). Erweist sich eine Annahme ausschließlich als spekulativ, kann sie auch nicht als Folge des Zweifelssatzes zu Gunsten des Angeklagten den Urteilsfeststellungen zu Grunde gelegt werden (vgl. , Rn. 8, 14).

10So liegt der Fall hier. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei dem Tatopfer möglicherweise „offen feindselig gegenüber getreten“, erweist sich ausschließlich als spekulativ. Aus den Urteilsgründen ergeben sich keine Hinweise, die für ein solches Verhalten des Angeklagten im Zeitpunkt seines ersten Angriffs auf das Leben des Kindes sprechen würden. Im Gegenteil teilt das Urteil eine Reihe von Umständen mit, die gegen eine „offene Feindseligkeit“ des Angeklagten gegenüber dem Tatopfer sprechen. So hat die Schwurgerichtskammer festgestellt, dass der Angeklagte für seine Tochter E.    „bis zu ihrem Tod väterlich-liebevolle Gefühle hegte, ihr sehr nah stand“ und sich „stets sehr gut um sie kümmerte“ (UA S. 6). Auch die festgestellten objektiven Umstände, dass sich das Kind im Zeitpunkt des ersten Angriffs unbekleidet und bei befüllter Badewanne im Badezimmer befand, keine Abwehrverletzungen aufwies und der Angeklagte es nach dem Ertränkungsversuch in eines der Kinderzimmer trug, dort mit dem Rücken auf ein Bett legte und bis zum Hals mit einer Bettdecke zudeckte (UA S. 8), bieten keinen Anhaltspunkt für eine etwaige „offene Feindseligkeit“ des Angeklagten gegenüber seiner Tochter.

11bb) Darüber hinaus ist zu besorgen, dass das Landgericht an die Prüfung der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers einen unzutreffenden Maßstab angelegt hat. Denn selbst wenn sich die Unterstellung der Schwurgerichtskammer als wahr erwiese, dass der Angeklagte der Geschädigten „offen feindselig gegenübertrat“, stünde dies der Annahme von Heimtücke nicht in jedem Fall entgegen. Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers können vielmehr auch dann gegeben sein, wenn der Täter ihm feindselig gegenübertritt, das Tatopfer die drohende Gefahr aber erst im letzten Augenblick erkennt, so dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen (vgl. , NStZ 1999, 506, 507; vom – 2 StR 509/96, NStZ-RR 1997, 168). Mit einem solchen Geschehen hat sich das Landgericht rechtsfehlerhaft nicht auseinandergesetzt.

12cc) Schließlich halten die Erwägungen, mit denen das Landgericht ein „bewusstes Ausnutzen“ der Arg- und Wehrlosigkeit verneint hat, rechtlicher Prüfung nicht stand. Hierfür genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinn erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. , Rn. 9; vom – 2 StR 68/99, aaO; Beschluss vom – 3 StR 204/18, Rn. 4).

13Der Angeklagte stand zur Tatzeit weder unter Alkohol- noch unter Drogeneinfluss und war uneingeschränkt schuldfähig. Auch im Übrigen liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, ihm könnte nicht bewusst gewesen sein, dass das Kind seinem überraschenden Angriff schutzlos ausgeliefert war. Vor diesem Hintergrund hätte die Schwurgerichtskammer ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers nicht allein mit dem Hinweis ablehnen dürfen, der Angeklagte habe sich nicht eingelassen und „äußere Anhaltspunkte für ein bewusstes Ausnutzen“ seien nicht ersichtlich, zumal sich das von ihr festgestellte „sehr stringente, zweiaktige Geschehen“ (UA S. 39) mit einem fehlenden Bewusstsein bezüglich der Schutzlosigkeit der Geschädigten schwerlich vereinbaren lässt.

142. Die Ablehnung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe hält rechtlicher Prüfung ebenfalls nicht stand. Die diesbezüglichen Erwägungen des Landgerichts erweisen sich als lückenhaft.

15Der Generalbundesanwalt hat hierzu im Wesentlichen das Folgende ausgeführt:

Die Schwurgerichtskammer hat das Vorliegen sonstiger niedriger Beweggründe abgelehnt. Sie geht davon aus, dass die Tötung der Geschädigten vollkommen grundlos erfolgt sei (UA S. 35: „überhaupt kein Motiv erkennbar, weshalb der Angeklagte seine Tochter getötet hat“).

Mit dem naheliegenden Motiv, das als sonstiger niedriger Beweggrund von der Rechtsprechung anerkannt ist (vgl. mwN), die getrenntlebende Ehefrau mit der Tötung ihres Kindes zu „bestrafen“, hat sich die Schwurgerichtskammer nicht auseinandergesetzt. Dies drängte sich angesichts der getroffenen Feststellungen jedoch auf: Am Tattag sollte die stets pünktlich erscheinende Nebenklägerin ihre Tochter um 18 Uhr beim Angeklagten abholen. In der Erwartung ihres Eintreffens hatte der Angeklagte ein Auffindeszenario konstruiert, das lediglich Einblick in das Badezimmer des Hauses, im dem er selbst in der Badewanne lag, gewährte. Zuvor hatte er um 17:39 Uhr eine lange Textnachricht an die Nebenklägerin versandt, in der er unter anderem schrieb: „Schönen Dank, dass du mein Leben kaputt gemacht hast“, „(du) setzt mich unter Druck, nimmst mir die Kinder weg“ (UA S. 10).

16Dem schließt sich der Senat an.

173. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, damit das neue Tatgericht umfassende widerspruchsfreie Feststellungen treffen kann.

III.

18Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Die sachlich-rechtliche Prüfung des Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:250123U6STR163.22.0

Fundstelle(n):
LAAAJ-33591