BGH Urteil v. - 3 StR 471/21

Instanzenzug: Az: 3 StR 471/21 Beschlussvorgehend Az: 7 Ks 2/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat zum Strafausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

I.

21. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

3a) Der bereits zuvor einschlägig in Erscheinung getretene Angeklagte verbrachte die frühen Morgenstunden des Alkohol konsumierend mit Bekannten in der D.     er Altstadt. Dort erkannte einer seiner Begleiter in der Menge eine Person, welche die Gruppe um den Angeklagten zuvor dadurch verärgert hatte, dass sie sich Onlinechats zugeschaltet und diese gestört hatte. Die Angelegenheit konnte jedoch in einem Gespräch beigelegt werden, und beide Männer gaben sich die Hand. Erst jetzt erfuhr der kampfsporterprobte Angeklagte, dass man den „Troll“ gestellt hatte. Er trat an den sich keines Angriffs versehenden Mann heran und versetzte ihm mit großer Wucht unvermittelt einen Faustschlag in das Gesicht. Der Geschädigte erlitt hierdurch einen Bruch von Jochbein und Kiefer. Außerdem verlor er zwei Zähne. Er verblieb zehn Tage im Krankenhaus, musste sich drei Operationen unterziehen, konnte einige Tage nicht sprechen und zwei Monate lang nur flüssige Nahrung zu sich nehmen. Da die Verletzungen noch nicht ausgeheilt sind, steht eine weitere Operation bevor.

4b) Sechs Wochen später feierte der Angeklagte erneut mit Freunden nachts in der D.     er Altstadt und konsumierte Alkohol. Seine Bekannten gerieten in einen Streit mit dem einer anderen Gruppe zugehörigen Nebenkläger. Der Angeklagte trat erneut erst hinzu, nachdem sich die Beteiligten bereits zur Versöhnung die Hand gereicht hatten. Er forderte gleichwohl - erfolglos - vom Nebenkläger eine Entschuldigung. Es kam zu einem Schlagabtausch, in dessen Verlauf es dem Angeklagten nicht gelang, den Nebenkläger zu treffen, wohingegen dieser ihm einen Faustschlag versetzen konnte. Aus einem Demütigungsgefühl heraus und weil er weitere Schläge befürchtete, zog der Angeklagte ein Messer aus der Tasche und stach dem Nebenkläger damit ohne Ankündigung mit Verletzungsabsicht gezielt in die linke Körperflanke. Dabei wusste er um die Lebensgefährlichkeit seines Verhaltens, billigte aber nicht den Tod des Kontrahenten. Anschließend trat er einige Schritte zurück. Der Nebenkläger entfernte sich und sackte wenig später bewusstlos zusammen. Er erlitt eine Perforation des Dünndarms, in deren Folge Stuhl in den Bauchraum austrat. Die Verletzung hätte ohne die noch in der Tatnacht eingeleitete Notoperation zum Tod geführt. Der Nebenkläger musste wegen weiterer Komplikationen 13 Tage im Krankenhaus verbringen. Die psychischen Folgen der Tat dauern an.

52. Das Landgericht hat gegen den zu den Tatzeiten 20 Jahre alten Angeklagten Jugendstrafrecht zur Anwendung gebracht. Es hat schädliche Neigungen angenommen, jedoch die Schwere der Schuld verneint.

II.

61. Die materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführten Gründen zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler ergeben. Der Strafausspruch unterliegt indessen der Aufhebung; denn die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG abgelehnt hat, begegnen durchgreifenden Bedenken.

7a) Die Jugendkammer hat ihr Ergebnis unter anderem damit begründet, ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige besonders schwere Straftat liege nicht vor; der Angeklagte habe sich in beiden Fällen keines Verbrechenstatbestandes schuldig gemacht. Die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts lassen eine zu schematisch auf den Deliktscharakter abstellende Betrachtungsweise und damit die Anlegung eines zu engen Maßstabs besorgen. Körperverletzungen im Sinne der § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 StGB sind keine Straftaten, bei denen die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG generell nicht in Betracht kommt. Ihre rechtliche Einordnung als Vergehen (§ 12 Abs. 2 StGB) ist für die Beurteilung der Schuld des Angeklagten nicht entscheidend. Im Einzelnen:

8aa) Der Schuldgehalt der Tat eines Jugendlichen oder Heranwachsenden ist jugendspezifisch zu bestimmen. Die Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG bemisst sich nicht vorrangig nach dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen, also darauf, inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit des Täters sowie dessen Tatmotivation in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben. Der Unrechtsgehalt der Tat ist aber insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die innere Tatseite und damit die Schwere der Schuld gezogen werden können. Diese ermisst sich aus dem Gewicht der Tat und der persönlichkeitsbegründenden Beziehung des Täters zu dieser (s. etwa BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 353/11, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 4 Rn. 3; vom - 5 StR 214/18, NStZ-RR 2018, 358 f.; Urteil vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 19; jeweils mwN). Welche Bedeutung dabei den einzelnen Zumessungsgesichtspunkten zukommt, hängt vom Einzelfall ab. Das Tatgericht hat dazu eine umfassende Abwägung aller relevanten Umstände vorzunehmen (, NStZ 2018, 728, 729 mwN; vom - 3 StR 436/21, juris Rn. 17; vgl. auch , NStZ 2022, 753 Rn. 25).

9bb) Bei der Beantwortung der Frage, welche Straftaten derart gewichtig sind, dass sie Schlüsse auf die innere Tatseite im Sinne einer Schuldschwere nach § 17 Abs. 2 JGG zulassen, sind folgende Maßstäbe zugrunde zu legen:

10Für den äußeren Unrechtsgehalt einer Tat ist auch im Jugendstrafrecht - neben anderem - die gesetzliche Strafandrohung des Erwachsenenstrafrechts von Belang (s. etwa BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 353/11, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 4 Rn. 3; vom - 3 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 155, 156; vom - 5 StR 214/18, NStZ-RR 2018, 358 f.; Urteile vom - 2 StR 150/18, NStZ 2018, 728, 729; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 19 und 32; jeweils mwN). Die Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG ist danach vor allem bei Kapitalverbrechen und anderen besonders schweren Straftaten zu bejahen (, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 2; Urteil vom - 3 StR 136/04, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 3; Beschluss vom - 1 StR 178/13, BGHR § 17 Abs. 2 JGG Schwere der Schuld 5 Rn. 8; Urteil vom - 4 StR 457/14, NStZ 2016, 102). Der Begriff der besonders schweren Straftat ist allerdings nicht dahin zu verstehen, dass die Qualität der Tat derjenigen von Kapitaldelikten vergleichbar sein muss (vgl. , NStZ 2016, 102 mwN). Er entspricht auch nicht demjenigen, den das Gesetz für bestimmte „besonders schwere“ Qualifikationen (etwa § 250 Abs. 2 StGB) oder „besonders schwere“ Fälle (etwa § 243 Abs. 1 StGB) gebraucht. Vergehen sind vielmehr grundsätzlich ebenfalls geeignet, die Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG zu begründen (, NStZ 2022, 753 Rn. 25; vom - 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 17 ff.). Lediglich solche mit vergleichsweise geringem (zurechenbarem) Schaden oder Gewicht können die Schwere der Schuld nicht begründen, selbst wenn sie bedenkenlos begangen werden (s. , BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 2 - hier: Beihilfe zum Diebstahl) oder sich als äußerst niederträchtig darstellen (, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 3 - hier: unterlassene Hilfeleistung). Entscheidend ist vor allem das konkrete Tatbild des Einzelfalls, insbesondere die Art und Weise der Einwirkung auf das Opfer, die Gefährlichkeit der Tathandlung, die Schwere der erlittenen Verletzungen sowie das Vor- und Nachtatverhalten (, NStZ 2022, 753 Rn. 25; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 20).

11cc) Danach begründen nach der Rechtsprechung - bei gelegentlich nicht völlig deckungsgleichen Formulierungen - regelmäßig schwere Gewaltdelikte die Schwere der Schuld (, NStZ 2018, 728, 729 mwN; vom - 3 StR 436/21, juris Rn. 17; vgl. auch , NStZ 2022, 753 Rn. 25). Diese kann auch bei gefährlichen Körperverletzungen gemäß § 224 Abs. 1 StGB anzunehmen sein (, NStZ 2022, 753 Rn. 25; vom - 2 StR 150/18, NStZ 2018, 728, 729; Beschlüsse vom - 3 StR 259/11, NStZ-RR 2011, 385, 386; vom - 5 StR 556/09, NStZ-RR 2010, 290, 291; vgl. auch MüKoStGB/Radtke/Scholze, 4. Aufl., § 17 JGG Rn. 66, 68 mwN). Raub und Erpressung können ebenfalls die Annahme von Schuldschwere rechtfertigen (, NStZ-RR 2001, 215, 216; Beschluss vom - 1 StR 291/11, NStZ 2012, 163; Urteil vom - 3 StR 436/21, juris Rn. 16 ff.; vgl. andererseits , NStZ 2018, 659, 660). Gleiches gilt für gravierende Sexualdelikte (, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 5; Urteile vom - 4 StR 457/14, NStZ 2016, 102; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 20, jeweils mwN), insbesondere den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern (, juris Rn. 33). Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG kommt außerdem etwa bei Betäubungsmitteldelikten (, StV 1998, 335) oder bei einem Landfriedensbruch nach § 125 StGB (, NStZ 2022, 749 Rn. 17 ff.) in Betracht.

12dd) Demgemäß legen die hier festgestellten Taten es zumindest nahe, die Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG anzunehmen. Bei beiden Delikten handelt es sich um schwerwiegende Gewalttaten, die gravierende Verletzungen der Opfer zur Folge hatten. Die bei der zeitlich nachfolgenden Tat - unbeschadet eines möglichen Rücktritts (vgl. , BGHSt 61, 188 Rn. 9 ff.) - mit dem Wissenselement eines Tötungsvorsatzes verwirklichte gefährliche Körperverletzung führte fast zum Tod des Nebenklägers. Hinzu kommt, dass der einschlägig vorbestrafte Angeklagte zwei solche, gemeinsame Züge aufweisende Taten innerhalb von nur sechs Wochen beging.

13b) Danach bedarf es keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob sonstige Wertungen des Landgerichts besorgen lassen, dass es das Maß der durch den Angeklagten verwirklichten Schuld in unvertretbarem Ausmaß verharmlost hat (vgl. , NStZ-RR 1996, 120, 121). Auf Bedenken könnten in diesem Zusammenhang die als strafmildernd gewürdigten Gesichtspunkte stoßen, dass der Nebenkläger „einem körperlichen Kräftemessen jedenfalls nicht abgeneigt war“ und der Angeklagte im ersten Fall „bewusst mit seiner schwächeren Hand zuschlug“. Die letztgenannte Formulierung deutet zudem zumindest darauf hin, dass die Jugendkammer die Tat an einem selbst erdachten Alternativsachverhalt gemessen hat. Der Umstand, dass eine andere Handlungsoption im Vergleich zu der vom Täter gewählten schwerer wöge, stellt jedenfalls keinen Strafmilderungsgrund dar (vgl. für das Erwachsenenstrafrecht BGH, Beschlüsse vom - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 350; vom - 4 StR 392/12, NStZ-RR 2013, 81, 82; vom - 3 StR 272/17, juris Rn. 9; jeweils mwN).

142. Der Strafausspruch beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler. Zwar hat das Landgericht ein Erziehungsbedürfnis beim Angeklagten festgestellt und eine Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen verhängt. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Jugendkammer bei Beachtung der aufgezeigten Maßstäbe die Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 JGG bejaht und im Folgenden auf eine höhere Jugendstrafe erkannt hätte. Dies gilt hier insbesondere deshalb, weil der Angeklagte die Taten in seinem 21. Lebensjahr beging. Sinn und Zweck der Jugendstrafe sind bei einem beinahe erwachsenen Straftäter regelmäßig anders zu bewerten als bei einem Jugendlichen, der das die Strafmündigkeit begründende Alter gerade erst erreicht hat. Während der Erziehungsgedanke mit zunehmendem Alter des Angeklagten typischerweise an Bedeutung verliert, rückt - insbesondere bei gravierenden Straftaten - das Erfordernis des gerechten Schuldausgleichs immer mehr in den Vordergrund. Dies gilt erst recht, wenn der Angeklagte - wie hier - im Urteilszeitpunkt bereits erwachsen ist (vgl. , NStZ 2018, 728, 729; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 20, jeweils mwN; s. auch Eisenberg/Kölbel, JGG, 23. Aufl., § 17 Rn. 49; MüKoStGB/Radtke/Scholze, 4. Aufl., § 17 JGG Rn. 65). Ob es bei einem nunmehr erwachsenen Täter, der als 20-Jähriger erhebliche Gewalttaten beging, für die Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld überhaupt noch auf einen Erziehungsbedarf ankommt, kann hier zwar dahinstehen (vgl. , BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 5; Urteile vom - 2 StR 150/18, NStZ 2018, 728, 729; vom - 2 StR 217/19, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 8 Rn. 10; vom - 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 37 mwN; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 20 und 30 ff.). Jedenfalls spielt aber das Ausmaß der individuellen, diesem Angeklagten vorwerfbaren Schuld und ihres gerechten Ausgleichs für die Höhe der hier angemessenen Strafe eine maßgebende Rolle.

153. Die dem Strafausspruch zugehörigen Feststellungen sind aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO), so dass die nunmehr zur Entscheidung berufene Jugendkammer neue, insgesamt widerspruchsfreie Strafzumessungstatsachen feststellen kann.

164. Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten (§ 301 StPO) hat die Überprüfung des Urteils im Anfechtungsumfang nicht ergeben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:011222U3STR471.21.0

Fundstelle(n):
VAAAJ-32461