BGH Beschluss v. - StB 36/22

Gesetze: § 120 Abs 2 S 1 Nr 3 Buchst a GVG, § 142a Abs 1 GVG

Gründe

I.

1Der Generalbundesanwalt führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des versuchten Mordes in fünf Fällen, jeweils in mehreren rechtlich zusammentreffenden Fällen, in jedem der Fälle in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, in einem der Fälle zudem in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen, sowie wegen des Verdachts der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe ohne Genehmigung in Tateinheit mit Besitz einer vollautomatischen Schusswaffe, mit unerlaubtem Besitz einer halbautomatischen Kurzwaffe, jeweils in mehreren rechtlich zusammentreffenden Fällen, und mit unerlaubtem Besitz einer Schusswaffe (§ 211 Abs. 1 und 2, § 113 Abs. 1 und 2 Satz 2 Nr. 1 und 2, § 114 Abs. 1 und 2, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a KrWaffKG i.V.m. Teil B Nr. 29 Buchst. a, b und c der Anlage zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG, § 51 Abs. 1, § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a, § 1 Abs. 2 Nr. 1, § 2 Abs. 3 WaffG i.V.m. Anlage 1 Abschnitt 1 Nr. 2.1, 2.2, 2.3 und 2.5 zum WaffG, §§ 22, 23 Abs. 1, §§ 52, 53 StGB).

2Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, am auf 14 Polizeibeamte, die einen Durchsuchungsbeschluss zur Auffindung einer halbautomatischen Kurzwaffe vollstrecken wollten, mittels eines vollautomatischen Gewehrs mehrere dutzendmal aus fünf verschiedenen Schusspositionen geschossen zu haben, um sie zu töten, wobei er zwei Beamte verletzte.

3Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat am mit Einverständnis des Beschuldigten Rechtsanwältin C.    als Pflichtverteidigerin bestellt. Am hat der zwischenzeitlich vom Beschuldigten als Verteidiger gewählte Rechtsanwalt S.    beantragt, ihn als (weiteren) Pflichtverteidiger beizuordnen. Diesen Antrag hat der Ermittlungsrichter des zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Beschuldigte mit der sofortigen Beschwerde.

II.

4Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg, da kein Grund für eine Bestellung des Wahlverteidigers als (weiterer) Pflichtverteidiger besteht.

51. Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO, § 304 Abs. 5, § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO; vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, StraFo 2022, 285; vom - StB 23/20, NJW 2020, 3736 Rn. 8 f. [insoweit in BGHSt 65, 120 nicht abgedruckt]).

62. Das Rechtsmittel hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

7a) Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs war zur Entscheidung über den Antrag auf Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers befugt (§ 142 Abs. 3 Nr. 1, § 169 Abs. 1 StPO; vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 42). Die Strafgerichtsbarkeit des Bundes ergibt sich aus § 142a Abs. 1 i.V.m. § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG.

8aa) Der Beschuldigte ist unter anderem des versuchten Mordes in fünf Fällen (§§ 211, 22, 23 StGB), mithin der mehrfachen Verwirklichung eines in § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GVG genannten Katalogdelikts dringend verdächtig.

9bb) Die Taten sind ferner nach den Umständen geeignet, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG). Der spezifisch staatsgefährdende Charakter eines Katalogdelikts im Sinne von § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Tat der Feindschaft des Täters gegen das freiheitlich-demokratische Staats- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland entspringt und er seine Opfer nur deshalb auswählt, weil sie dieses System als Amtsträger oder in sonstiger Weise repräsentieren, oder ohne jeden persönlichen Bezug lediglich deshalb angreift, weil sie Bürger oder Einwohner der Bundesrepublik Deutschland sind oder sich im Bundesgebiet aufhalten (BGH, Beschlüsse vom - AK 27/22, juris Rn. 28; vom - StB 21/19, juris Rn. 37; vom - 3 StR 327/09, BGHR GVG § 120 Abs. 2 Nr. 3a Sicherheit 4).

10Gemessen an diesen Maßstäben haben die Taten des Beschuldigten staatsgefährdenden Charakter, denn sie beruhen auf seiner Ablehnung des freiheitlich-demokratischen Staats- und Gesellschaftssystems der Bundesrepublik in seiner Ausprägung als Demokratie. Der Beschuldigte wählte die verletzten Polizeibeamten als Opfer aus, weil sie dieses System als Amtsträger repräsentieren.

11cc) Die besondere Bedeutung der Tat im Sinne von § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG, die die Zuständigkeit des Bundes und damit die Evokationsbefugnis des Generalbundesanwalts begründet, ist gegeben. Dies ist grundsätzlich dann anzunehmen, wenn es sich bei der Tat unter Beachtung des Ausmaßes der eingetretenen Rechtsgutsverletzung um ein staatsgefährdendes Delikt von erheblichem Gewicht handelt, das die Schutzgüter des Gesamtstaats in einer derart spezifischen Weise angreift, dass ein Einschreiten des Generalbundesanwalts und eine Aburteilung durch ein die Bundesgerichtsbarkeit ausübendes Gericht geboten sind. Die Beurteilung der Bedeutung des Falles erfordert dabei eine Gesamtwürdigung der Umstände und Auswirkungen der Tat unter besonderer Berücksichtigung ihres Angriffs auf das jeweils betroffene Rechtsgut des Gesamtstaats, hier der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (vgl. BGH, Beschlüsse vom - AK 27/22, juris Rn. 31; vom - StB 21/19, juris Rn. 40; vom - AK 20/08, BGHSt 53, 128 Rn. 37; Urteil vom - 3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 253 f.). Allein die Schwere der Tat und das Ausmaß der von ihr hervorgerufenen Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter vermögen dabei für sich die besondere Bedeutung nicht zu begründen; allerdings können die konkrete Tat- und Schuldschwere den Grad der Gefährdung bundesstaatlicher Belange mitbestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - AK 47/16, juris Rn. 23; vom - AK 20/08, BGHSt 53, 128 Rn. 37). Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung sind daneben die konkreten Auswirkungen für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihr Erscheinungsbild gegenüber Staaten mit gleichen Wertvorstellungen in den Blick zu nehmen. Auch ist zu beachten, welche Signalwirkung von der Tat für potentielle Nachahmer ausgeht (BGH, Beschlüsse vom - AK 27/22, juris Rn. 31; vom - StB 21/19, juris Rn. 40; vom - AK 47/16, juris Rn. 23 mwN).

12Daran gemessen hat der Generalbundesanwalt die besondere Bedeutung der Tat zu Recht bejaht. Der Beschuldigte ist Anhänger der Ideologie der sog. "Reichsbürger", die sich auf ein angebliches Fortbestehen des Deutschen Reiches berufen, das juristisch niemals untergegangen sei, und die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland sowie ihrer Organe in Abrede stellen. So bezeichnete er die Bundesrepublik in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Ellwangen als "Firma", der angeblich keine Hoheitsrechte eines Staates zuständen. Zudem berief er sich in diesem Schreiben auf das Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (S.H.A.E.F.), das während des Zweiten Weltkrieges ab 1943 das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Nordwest- und Mitteleuropa war, und forderte ein "S.H.A.E.F. Mandat" und eine "notariell beglaubigte Gründungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Baden-Württemberg" sowie eine "Kontrollnummer", verliehen durch die Alliierten. In einem anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung sichergestellten Dokument unter der Überschrift "S.H.A.E.F." heißt es, dass "die Bundesrepublik in Deutschland auch nach der Einigung weiterhin unter Besatzung der Alliierten steht" und "alle militärischen Vorbehaltsrechte" weiterhin "volle Rechtskraft" besitzen. Beamte, Richter, Rechtsanwälte und "Medienbetreiber" benötigten "eine Lizenz der Alliierten zur Ausübung ihrer Tätigkeit". Auf einen Verstoß gegen die heute noch geltenden "SHAEF Gesetze" stehe die "Todesstrafe".

13Nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis wählte der Beschuldigte am Tattag die von ihm verletzten Polizeibeamten bewusst als Repräsentanten des Staates aus und griff diese an, während sie in ihrer amtlichen Funktion zur Vollstreckung eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses handelten. So äußerte er nach seiner Festnahme gegenüber den polizeilichen Einsatzbeamten, diese seien selbst schuld daran, dass er geschossen habe, da sie zuvor sein Grundstück betreten hätten. Er sehe, dass sie zwar "gute Jungs" seien, aber leider auf der "falschen Seite kämpfen" würden. Weiter äußerte er ihnen gegenüber, dass sie "endlich aufwachen" sollten; schließlich könnten sie ja auch mit ihm "Seite an Seite kämpfen". Die Taten sind damit Ausdruck einerseits seiner Feindschaft gegen das demokratische Staats- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland und andererseits seiner Missachtung von Hoheitsrechten. Die verübten Gewaltdelikte sind damit geeignet, das staatliche Gewaltmonopol und das darauf beruhende gewaltfreie Zusammenleben der Bevölkerung zu beeinträchtigen. Ihnen kommt damit eine über die Verletzung individueller Rechtsgüter hinausgehende gesamtstaatliche Bedeutung zu.

14Daneben sind die verübten Taten geeignet, eine erhebliche Gefahr für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland zu begründen und eine Signalwirkung für Nachahmungstäter auszulösen. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der in der Vergangenheit immer wieder von Reichsbürgern verübten Mordanschläge auf Polizisten und Gerichtsvollzieher, bei denen die Täter ihre Opfer bewusst als Repräsentanten des Staates auswählten, um sich dem Staat als solchem und dem staatlichen Gewaltmonopol zu widersetzen.

15b) Es liegen keine Gründe für die Bestellung des Wahlverteidigers als zusätzlicher Pflichtverteidiger vor.

16aa) Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger "bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich" bestellt werden, "wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist".

17Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche - "vom Willen des Beschuldigten unabhängige" (BT-Drucks. 19/13829 S. 49) - Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss sie zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (, BGHSt 65, 129 Rn. 13).

18Soweit der Gesetzeswortlaut "Umfang oder Schwierigkeit" des Verfahrens anführt, benennt er lediglich exemplarisch ("insbesondere") Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf ist bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne einen weiteren (bzw. zwei weitere) Verteidiger gefährdet wäre (BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, StraFo 2022, 285; vom - StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).

19Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür - etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache - ein "unabweisbares Bedürfnis" besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.

20bb) Es kann dahinstehen, ob dem Ermittlungsrichter bei der Entscheidung über die Bestellung eines weiteren Verteidigers ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht (vgl. zum Vorsitzenden im Zwischen- und Hauptverfahren BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, StraFo 2022, 285, 286 mwN; vom - StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 15 ff. mwN). Darauf kommt es vorliegend nicht an, da der angefochtene Beschluss in jedem Fall nicht zu beanstanden ist.

21Die Bestellung eines weiteren Verteidigers ist hier nicht im Sinne von § 144 Abs. 1 StPO erforderlich. Insoweit wird auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen. Die zügige Durchführung des Verfahrens erfordert die beantragte Beiordnung nicht. Weder ist der Verfahrensstoff, der gegenwärtig 17 Bände, einen Sonderband und sieben Beiakten umfasst, besonders umfangreich, noch sind die aufgeworfenen Rechtsfragen besonders schwierig. Auch liegen keine konkreten Umstände vor, die ein arbeitsteiliges Vorgehen zweier Pflichtverteidiger während des weiteren Ermittlungsverfahrens erforderlich machen. Die Frage der Verfahrenssicherung stellt sich in diesem Verfahrensstadium nicht in gleicher Weise wie im Hauptverfahren. Im Übrigen ist das Recht des Beschuldigten an einer effektiven Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) durch die Beiordnung von Rechtsanwältin C.    als Pflichtverteidigerin - zumindest derzeit - hinreichend gewahrt.

Berg                   Paul                   Voigt

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:060922BSTB36.22.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-30754