Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: Widerstandshandlung durch Flucht vor der Polizei
Gesetze: § 113 Abs 1 StGB
Instanzenzug: Az: 34 KLs 20/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr, vorsätzlicher Körperverletzung, vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichem Gebrauch eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges, wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichem Gebrauch eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Nötigung, vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichem Gebrauch eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges und wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Es hat zudem bestimmt, dass dem Angeklagten vor Ablauf einer Sperrfrist von drei Jahren keine Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen zu erteilen ist. Ferner hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und einen Vorwegvollzug bestimmt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat im aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die Verurteilung im Fall II. 3 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Feststellungen nicht ergeben, dass sich der Angeklagte eines Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB schuldig gemacht hat.
3a) Nach den Feststellungen befuhr der Angeklagte mit einem nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug ohne die erforderliche Fahrerlaubnis öffentliche Straßen in Hamm. Als ihn zwei Polizeibeamte, die sich auf einer Streifenfahrt mit einem als Polizeifahrzeug gekennzeichneten Dienstfahrzeug befanden, einer Kontrolle unterziehen wollten, weil eine Mitfahrerin des Angeklagten gegen die Gurtpflicht verstoßen hatte, und deshalb ein Haltesignal gaben, versuchte der Angeklagte mit hoher Geschwindigkeit davon zu fahren und sich der Kontrolle zu entziehen. Bei seiner Fluchtfahrt geriet er mit seinem Fahrzeug auf eine Straße, die sich zu einem schmalen Feldweg verengte. Auch hier fuhr er mit überhöhter Geschwindigkeit, sodass sich mehrere Fußgänger auf dem Seitenstreifen in Sicherheit bringen mussten, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm. Am Ende des Weges musste er anhalten, weil Betonsteine die Weiterfahrt verhinderten. Die Polizeibeamten, die ihn verfolgt hatten, gingen davon aus, dass ein Wenden des Fahrzeugs des Angeklagten in dieser Position nicht möglich war. Der sich auf dem Beifahrersitz befindliche Beamte öffnete die Beifahrertür, um aus dem Dienstfahrzeug auszusteigen und auf den Angeklagten zuzugehen. In diesem Moment setzte der Angeklagte, dem bewusst war, dass die Beamten ihn zum Anhalten aufgefordert hatten, seinen Pkw zurück, um der Kontrolle zu entgehen. Dabei „touchierte“ er mit seinem Fahrzeug die geöffnete Beifahrertür. Ob er den herausgesetzten Fuß des Beamten zu diesem Zeitpunkt bereits bemerkt hatte, konnte das Landgericht nicht feststellen. Dem Polizeibeamten gelang es gerade noch rechtzeitig, seinen Fuß wieder zurück ins Fahrzeug zu bringen, bevor die Beifahrertür durch den Anstoß zuschlug. Bei der weiteren Rückwärtsfahrt fuhr der Angeklagte seinen Pkw fest und wurde von den Polizeibeamten überwältigt.
4Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Nötigung, vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichem Gebrauch eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges gewertet.
5b) Diese Feststellungen ergeben nicht, dass der Angeklagte vorsätzlich Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB geleistet hat.
6aa) Eine Widerstandshandlung im Sinne dieses Tatbestands kann durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt erfolgen. Der Begriff der Gewalt ist dabei als eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftäußerung zu verstehen, die gegen den Amtsträger gerichtet und geeignet ist, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern oder zu erschweren (vgl. , BGHSt 18, 133, 134; Beschluss vom – 4 StR 497/12, NStZ 2013, 336, 337; Rosenau in LK-StGB, 13. Aufl., § 113 Rn. 23 mwN). Die Tathandlung braucht allerdings nicht unmittelbar gegen dessen Person gerichtet zu sein; es genügt vielmehr auch eine nur mittelbar gegen die Person des Beamten, unmittelbar aber gegen Sachen gerichtete Einwirkung, wenn sie nur von dem Beamten körperlich empfunden wird (vgl. , NStZ 2015, 388, 389; Urteil vom , aaO; Bosch in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 113 Rn. 21 mwN). Ein Widerstandleisten durch Gewalt kann daher in dem Zufahren mit einem Kraftfahrzeug auf einen Polizeibeamten liegen, um ihn zum Wegfahren oder zur Freigabe der Fahrbahn zu nötigen (vgl. , NStZ-RR 1997, 261, 262). Die bloße Flucht vor der Polizei erfüllt diese Voraussetzungen hingegen nicht, auch wenn dabei andere Verkehrsteilnehmer behindert oder gefährdet werden (vgl. aaO; Beschluss vom – 4 StR 497/12, NStZ 2013, 336, 337; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 113 Rn. 23 mwN). In subjektiver Hinsicht ist dabei Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt (vgl. bereits RG, Urteil vom – II 1123/12, RGSt 47, 270, 279; Bosch, aaO, Rn. 54).
7bb) Gemessen daran tragen die Feststellungen nur die Annahme des äußeren Tatbestands einer Widerstandshandlung im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB. Denn durch das Zurücksetzen in Richtung des Dienstwagens und das hierdurch bewirkte Zuschlagen der Tür wurde der Polizeibeamte dazu genötigt, sein Vorhaben, auszusteigen und auf den Angeklagten zuzugehen, um ihn zu kontrollieren, aufzugeben und seinen Fuß wieder in den Innenraum des Fahrzeugs zu ziehen. Damit hat der Angeklagte eine mittelbare Zwangswirkung auf den Beamten ausgeübt, die die Durchführung der Vollstreckungshandlung erschwert hat. Dass der Angeklagte insoweit auch vorsätzlich handelte, ergeben die Urteilsgründe dagegen nicht. Denn das Landgericht vermochte nicht festzustellen, dass der Angeklagte den herausgesetzten Fuß des Beamten wahrgenommen hatte, als er seinen Pkw zurücksetzte, um sich der Kontrolle zu entziehen. Die Urteilsausführungen verhalten sich auch nicht dazu, dass der Angeklagte zumindest die Möglichkeit einer Berührung seines Fahrzeugs mit der geöffneten Fahrertür und der Folge ihres Zuschlagens erkannt hatte, so dass es auch insoweit an dem für die Annahme eines bedingten Vorsatzes erforderlichen kognitiven Element fehlt.
8c) Damit kann auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen Nötigung (zum Nachteil der wegspringenden Fußgänger), vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichen Gebrauchs eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges keinen Bestand haben, denn die Strafkammer ist insoweit von Tateinheit ausgegangen (vgl. , StV 2006, 60, 61; Beschluss vom – 3 StR 135/01 Rn. 18; Franke in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 8; Gericke in KK-StPO, 8. Aufl., § 353 Rn. 18, jeweils mwN).
92. In den verbleibenden Fällen II. 1, II. 2 und II. 4 hält der Strafausspruch revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
10a) Die Strafzumessung in Fall II. 1 der Urteilsgründe begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
11aa) Das Landgericht hat die Strafe für diese Tat unter Anwendung von § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB dem Strafrahmen der § 250 Abs. 2 Nr. 1, §§ 252, 21, 49 Abs. 1 StGB entnommen. Dazu hat es ausgeführt, dass die Tat zwar nicht auf der Grundlage der allgemeinen Milderungsgründe, wohl aber unter Berücksichtigung des vertypten Strafmilderungsgrundes der „eingeschränkten“ Schuldfähigkeit als minder schwerer Fall gewertet werden „könnte“. Der Sonderstrafrahmen des § 250 Abs. 3 StGB sei aber gleichwohl nicht anzuwenden, weil eine Milderung des Regelstrafrahmens nach § 21, § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB zu einem Strafrahmen führe (Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis elf Jahren und drei Monaten), der „offener und zur Findung einer tat- und schuldangemessenen Strafe besser geeignet“ sei als der Strafrahmen des § 250 Abs. 3 StGB (ein bis zehn Jahre Freiheitsstrafe).
12bb) Diese Erwägung ist rechtsfehlerhaft. Denn es ist nicht erkennbar, in welcher Hinsicht der Strafrahmen nach § 250 Abs. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB „offener“ sein sollte als derjenige des § 250 Abs. 3 StGB. Stattdessen hätte die Strafkammer im Rahmen einer Gesamtabwägung prüfen und darlegen müssen, welchen Strafrahmen sie nach den konkreten Umständen des Einzelfalls für angemessen hält (vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 1 StR 10/14, NStZ 2014, 510, 511). Zwar ist der Tatrichter nicht gehalten, in Fällen, in denen mehrere Strafrahmen zur Verfügung stehen, den jeweils für den Angeklagten günstigeren zugrunde zu legen (vgl. ). Ist die Strafe im unteren Bereich des Strafrahmens anzusiedeln, liegt jedoch im Allgemeinen die Anwendung des Strafrahmens nahe, der die geringere Untergrenze vorsieht (vgl. von Heintschel-Heinegg in BeckOK-StGB, 55. Edition, § 46 Rn. 21.1).
13cc) Dies führt zur Aufhebung der in Fall II. 1 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafe. Denn der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Anwendung des Sonderstrafrahmens des § 250 Abs. 3 StGB eine mildere Freiheitsstrafe gegen den Angeklagten verhängt hätte.
14b) Auch die Bemessung der weiteren Einzelstrafen weist einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom ausgeführt hat:
„In den Fällen II. 2 bis 4 der Urteilsgründe hat es das Landgericht versäumt, die Milderungsmöglichkeit gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB zu erörtern (UA S. 48 f.), obgleich es in sämtlichen Fällen von einer verminderten Schuldfähigkeit infolge Kokain- und Heroinabhängigkeit des Angeklagten ausgegangen ist (UA S. 45). Aus dem Urteil muss sich die Prüfung der Milderungsmöglichkeit ergeben (vgl. Senat, Beschluss vom – 4 StR 443/12 –, juris).
Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die Strafkammer bei Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens von der Milderungsmöglichkeit der §§ 21, 49 Abs. 1 StGB Gebrauch gemacht und auf mildere Einzelstrafen erkannt hätte.“
15Dem schließt sich der Senat an.
16c) Die Aufhebung der Verurteilung in Fall II. 3 der Urteilsgründe und der übrigen Einzelstrafen entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage. Die zum Strafausspruch getroffenen Feststellungen in den Fällen II. 1, II. 2 und II. 4 der Urteilsgründe werden von diesen Rechtsfehlern nicht berührt und können bestehen bleiben.
173. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Satz 1 StGB hat keinen Bestand, weil die hinreichende Erfolgsaussicht der Behandlung nicht belegt ist.
18a) Das sachverständig beratene Landgericht hat dazu ausgeführt, dass sich das Alter des zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 63 Jahre alten, langjährig betäubungsmittelabhängigen Angeklagten nicht negativ auf die Erfolgsaussicht auswirke. Je älter ein Patient sei, desto besser sei er regelmäßig zu beeinflussen. Letztlich gebe es keine Anhaltspunkte, die gegen den Erfolg einer Therapie sprächen, insbesondere da sich auch der Angeklagte nicht gegen eine solche ausgesprochen habe.
19b) Diese Begründung ist rechtsfehlerhaft.
20aa) Gemäß § 64 Satz 2 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur angeordnet werden, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Angeklagten innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 StGB zu heilen oder eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen. Sofern sich dies nicht von selbst versteht, ist es dazu erforderlich, unter Berücksichtigung der Art und des Stadiums der Sucht sowie bereits eingetretener physischer und psychischer Veränderungen und Schädigungen in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Beschuldigten konkrete Anhaltspunkte zu benennen, die dafür sprechen, dass es innerhalb eines zumindest erheblichen Zeitraums nicht (mehr) zu einem Rückfall kommen wird (vgl. Rn. 15; Beschluss vom – 4 StR 144/20 Rn. 12 mwN). Dabei dürfen nicht allein die prognosegünstigen Umstände angeführt werden. Bestehen gewichtige negative Faktoren, die gegen die Erfolgsaussicht der Behandlung sprechen können, sind diese abzuhandeln und in eine Gesamtwürdigung einzustellen (vgl. , NJW 2015, 2898, Rn. 15 mwN).
21bb) Diesem Maßstab werden die knappen Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht. Denn die Strafkammer hat gewichtige prognoseungünstige Umstände nicht in den Blick genommen. Dies gilt insbesondere für den langjährigen, verfestigten Drogenmissbrauch des Angeklagten (vgl. , NStZ-RR 2009, 48, 49; Beschluss vom – 5 StR 464/14 Rn. 3) und das Fehlen ernsthafter Versuche, das eigene Konsumverhalten grundlegend zu ändern, was sich unter anderem in drei abgebrochenen bzw. gar nicht erst angetretenen Therapieversuchen im Rahmen von Zurückstellungen der Strafvollstreckung gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG gezeigt hat (vgl. Rn. 2; van Gemmeren in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 64 Rn. 65 mwN).
22c) Mit der Aufhebung des Maßregelausspruchs nach § 64 Satz 1 StGB entfällt auch die Bestimmung des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB (vgl. , BeckRS 1999, 30054513; Maier in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 67 Rn. 161 mwN).
234. Schließlich kann auch die Anordnung der isolierten Sperrfrist nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB keinen Bestand haben. Denn die Kammer hat bei ihrer Prognose, wann der Angeklagte voraussichtlich wieder zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sein wird (vgl. § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB), allein auf den erfolgreichen Abschluss der Drogenentzugsbehandlung abgestellt und damit die Entscheidung über die Dauer der Sperrfrist vom Vollzug der Maßregel abhängig gemacht. An einer darüber hinausgehenden, einzelfallbezogenen Darlegung zur voraussichtlichen Dauer der Ungeeignetheit fehlt es (vgl. Rn. 19 mwN).
24Das Landgericht wird daher über die Anordnung der Sperrfrist erneut zu entscheiden und dabei das Verschlechterungsverbot aus § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO zu beachten haben.
255. Im Übrigen hat die auf die Sachrüge gebotene Nachprüfung des Urteils keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:091122B4STR272.22.0
Fundstelle(n):
HAAAJ-29279