Strafprozessrecht: Zulässigkeit einer Ausschöpfungsrüge im Hinblick auf die Mitteilung der rügebegründenden Tatsachen
Gesetze: § 261 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO
Instanzenzug: LG Verden Az: 3 KLs 10/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Seine auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachbeschwerde gestützte Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
21. Den Verfahrensrügen bleibt aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt. Näherer Erörterung bedarf nur die Ausschöpfungsrüge (§ 261 StPO; „Verfahrensrüge 1“), mit welcher der Beschwerdeführer die unterbliebene Würdigung eines „erheblichen Beweisergebnisses“ beanstandet:
3a) Der Verfahrensgang hat sich nach dem Vortrag der Revision wie folgt dargestellt:
4Die Strafkammer hat die Vernehmung der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung ersetzt durch Vorführung einer etwa zweistündigen Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen Vernehmung (§ 255a Abs. 2 Satz 1 StPO). Aus einer vom Amtsgericht erstellten und der Revisionsbegründung beigeschlossenen Transkription der Vernehmung ergibt sich, dass sich die Nebenklägerin auf die Frage nach „irgendwelchen körperlichen Auffälligkeiten“ des Angeklagten Zeit zum Überlegen erbat und sodann nur vage Erinnerungen an „ein Muttermal“ bekundete, obwohl sie den Angeklagten nach eigenen Angaben teilweise mehrfach wöchentlich entkleidet gesehen habe. Einem hieran anschließenden Antrag der Verteidigung auf Augenscheinseinnahme des unbekleideten Oberkörpers und des Mittelfingers der rechten Hand des Angeklagten zum Beweis eines „großen Muttermals“ am linken Oberkörper und von „Vernarbungen am Mittelfinger“ hat die Strafkammer entsprochen.
5Der Beschwerdeführer beanstandet, dass weder die Äußerungen der Zeugin zu den körperlichen Auffälligkeiten noch das Ergebnis des Augenscheins in den Urteilsgründen mitgeteilt werden und keinen erkennbaren Eingang in die gerichtliche Glaubhaftigkeitsprüfung gefunden haben. Auch unabhängig vom Ergebnis des Augenscheins sei die Strafkammer verpflichtet gewesen, die nur vage Erinnerung der Nebenklägerin und damit das „zentrale Verteidigungsvorbringen“ ausdrücklich zu würdigen. Der Inhalt ihrer Aussage könne vom Revisionsgericht auch ohne Verstoß gegen das Rekonstruktionsverbot gewürdigt werden, weil dieser ihm mit der Transkription vorliege und das Ergebnis der Beweisaufnahme auch ohne Mitteilung in den Urteilsgründen daher bekannt sei.
6b) Die Rüge ist unzulässig. Der Beschwerdeführer versäumt es, die hierfür notwendigen rügebegründenden Tatsachen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) vorzutragen.
7aa) Bei der vorgelegten Urkunde, der Transkription der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung, handelt es sich nicht um das in die Hauptverhandlung eingeführte Beweismittel (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 489/18, StV 2020, 842; vom – 4 StR 58/18, Rn. 23). Dies war nach dem Revisionsvorbringen allein die Bild-Ton-Aufzeichnung selbst. Es kann dahinstehen, ob die Rüge schon deshalb unzulässig ist, weil die Revision diese Aufzeichnung nicht vorlegt (vgl. , aaO). Denn dem Rügevortrag ist schon nicht mit der notwendigen Eindeutigkeit die – dann in der Gegenerklärung naheliegender Weise zu beantwortende (§ 347 Abs. 1 Satz 3 StPO) – Behauptung zu entnehmen, dass die im Revisionsverfahren „wörtlich wiedergegebene Transkription“ mit der Audiospur der Bild-Ton-Aufzeichnung identisch ist.
8bb) Da der Beschwerdeführer nicht die Überprüfung des Aussageinhalts anhand einer in die Hauptverhandlung eingeführten Tonband- oder Videoaufzeichnung und deren zutreffende Wiedergabe in den Urteilsgründen revisionsgerichtlicher Kontrolle unterstellt hat (vgl. dazu , BGHSt 48, 268, 273; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 341; LR/Mosbacher, 27. Aufl., § 255a Rn. 26; LR/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 259; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 255a Rn. 13), sondern eine wesentliche beweisrechtliche Bedeutung der vorgetragenen Äußerungen der Zeugin zu den körperlichen Auffälligkeiten des Angeklagten – und daran anknüpfend eine sachlich-rechtliche Erörterungspflicht – geltend macht (vgl. MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 408), durfte schließlich auch das Ergebnis des durchgeführten Augenscheins dem Senat, etwa mittels Lichtbildern, nicht vorenthalten werden. Nur auf dieser Grundlage wäre eine Überprüfung der hier beanstandeten Rechtsverletzung durch das Revisionsgericht überhaupt denkbar.
9cc) Vor diesem Hintergrund braucht nicht entschieden zu werden, ob – was eingedenk der erstrebten Bewertung des nicht eindeutigen, sondern komplexen, auch bedeutsame nonverbale Reaktionen enthaltenden und damit grundsätzlich dem Tatgericht überantworteten aufgezeichneten Zeugenbeweises naheliegt (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 255a Rn. 15; § 247a Rn. 18 mwN.; Mosbacher, aaO; Bartel, Das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung, 2014, S. 348) – die erstrebte Überprüfung dem Revisionsgericht mit Blick auf das Rekonstruktionsverbot entzogen ist (vgl. dazu , BGHSt 48, 268, 273; hierzu Bartel, aaO, S. 71).
102. Die umfassende Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat Rechtsfehler weder zum Schuld- noch zum Strafausspruch zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:210922B6STR160.22.0
Fundstelle(n):
FAAAJ-29190