Erfüllung von Urlaub - häusliche Quarantäne
Leitsatz
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht:
Sind Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis entgegenstehen, der zufolge ein vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter bezahlter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde wegen Ansteckungsverdachts angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nicht nachzugewähren ist, wobei beim Arbeitnehmer während der Quarantäne keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit besteht?
Gesetze: Art 267 AEUV, Art 31 Abs 2 EUGrdRCh, Art 7 Abs 1 EGRL 88/2003, § 275 Abs 1 BGB, § 362 Abs 1 BGB, § 7 Abs 1 BUrlG, § 9 BUrlG, § 28 Abs 1 IfSG, § 56 IfSG vom
Instanzenzug: ArbG Hagen (Westfalen) Az: 2 Ca 2784/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 5 Sa 1030/21 Urteil
Gründe
1Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta).
2Die Parteien streiten über einen Anspruch des Klägers auf Gutschrift von acht Urlaubstagen auf seinem Urlaubskonto und in diesem Zusammenhang darüber, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erfüllt wird, wenn für den bereits durch Urlaubsbewilligung festgelegten Urlaubszeitraum durch die zuständige Behörde häusliche Quarantäne wegen des Verdachts auf Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 angeordnet wird.
3Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem als Schlosser zu einem Bruttomonatsentgelt iHv. zuletzt 3.000,00 Euro beschäftigt. Auf seinen Antrag bewilligte ihm die Beklagte acht Tage Erholungsurlaub für die Zeit vom 12. bis zum . Mit Bescheid vom ordnete die Stadt H die Absonderung des Klägers in häusliche Quarantäne für die Zeit vom 9. bis zum an, weil er Kontakt zu einer mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizierten Person hatte. In dem Bescheid heißt es auszugsweise:
4Der Kläger informierte die Beklagte unverzüglich über die Quarantäne, während deren er selbst nicht arbeitsunfähig erkrankt war. Die Beklagte belastete das Urlaubskonto des Klägers für den festgelegten Urlaubszeitraum mit acht Tagen und zahlte ihm das Urlaubsentgelt.
5Mit der Klage verfolgt der Kläger das Ziel, diese Urlaubstage seinem Urlaubskonto wieder gutzuschreiben. Er vertritt die Auffassung, infolge der nachträglichen Quarantäneanordnung sei hinsichtlich des bereits bewilligten Urlaubs keine Erfüllung eingetreten. Es sei ihm nicht möglich gewesen, seinen Urlaub selbstbestimmt zu gestalten. Die Situation bei einer Quarantäneanordnung sei der infolge einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vergleichbar. Die Beklagte müsse ihm den Urlaub deshalb entsprechend § 9 BUrlG, dem zufolge ärztlich attestierte Krankheitszeiten während des Urlaubs nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden dürfen, nachgewähren.
6Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
11Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:
12In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:
13I. Nach der Rechtsprechung des Senats stehen Umstände, die im Anschluss an die Festlegung des Urlaubszeitraums eintreten und für sich gesehen die Arbeitspflicht entfallen lassen, der Erfüllung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich nur dann entgegen, wenn gesetzliche Regelungen oder Tarifbestimmungen die Nichtanrechnung von Urlaub anordnen. Für Zeiten einer während des Erholungsurlaubs behördlich angeordneten Quarantäne sieht bisher weder das nationale Gesetz noch - soweit ersichtlich - das Unionsrecht die Nachgewährung von Urlaub vor, wie sie zB für den Fall der Erkrankung im Urlaub durch § 9 BUrlG angeordnet ist. Die nach der Entscheidung des Senats durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 vom (BGBl. I S. 1454) getroffene Neuregelung in § 59 Abs. 1 IfSG findet auf den streitgegenständlichen Zeitraum noch keine Anwendung.
141. Die Erfüllung des Urlaubsanspruchs setzt voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch entsprechende Erklärung von der Arbeitspflicht freistellt (st. Rspr., - Rn. 15, BAGE 172, 66; - 9 AZR 575/15 - Rn. 11 mwN, BAGE 156, 65) und ihm das Urlaubsentgelt entweder nach § 11 BUrlG vor Antritt des Urlaubs zahlt oder dessen Zahlung vorbehaltlos zusagt (st. Rspr., - Rn. 56; - 9 AZR 615/17 - Rn. 21, BAGE 163, 72). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist die Urlaubserteilung des Arbeitgebers regelmäßig gesetzeskonform so zu verstehen, dass der Arbeitgeber damit zugleich streitlos stellt, für den gewährten Urlaub dem Grunde nach zur Zahlung von Urlaubsentgelt nach den gesetzlichen Vorgaben und etwaigen arbeitsvertraglichen Vereinbarungen verpflichtet zu sein (vgl. - Rn. 45, BAGE 165, 205).
152. Damit die Verpflichtung zur Urlaubserteilung nach § 362 Abs. 1 BGB erlischt, genügt jedoch nicht die Vornahme der erforderlichen Leistungshandlung (st. Rspr., zB - Rn. 11, BAGE 156, 65; - 9 AZR 669/12 - Rn. 16; - 9 AZR 384/92 - zu 2 a der Gründe, BAGE 77, 296). Die Freistellungserklärung des Arbeitgebers kann das Erlöschen des Urlaubsanspruchs nur bewirken, soweit der Arbeitnehmer für den Freistellungszeitraum zur Arbeitsleistung verpflichtet ist. Für das Vorliegen der für die Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub erforderlichen Arbeitspflicht ist allein die objektive Rechtslage maßgeblich (st. Rspr., - Rn. 19; - 9 AZR 612/19 - Rn. 17, BAGE 172, 66).
163. Der Arbeitgeber schuldet bezahlte Freistellung zum Zwecke der Erholung und Entspannung, jedoch keinen bestimmten „Urlaubserfolg“ (vgl. - Rn. 28, BAGE 172, 66). Mit der Festlegung des Urlaubszeitraums auf Wunsch des Arbeitnehmers (§ 7 Abs. 1 BUrlG) hat der Arbeitgeber als Schuldner des Anspruchs auf bezahlte Freistellung das zu seiner Leistung Erforderliche getan ( - Rn. 27, BAGE 114, 313; vgl. zur Entgeltkomponente des Urlaubsanspruchs - Rn. 44 f., BAGE 165, 205). Die Arbeitspflicht ist - einvernehmlich - mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Treten anschließend zusätzlich Umstände eines anderen Freistellungstatbestands ein, kann die bereits suspendierte Leistungspflicht im Urlaubszeitraum nicht noch einmal erlöschen. Aufgrund der Urlaubsbewilligung bestand bereits keine Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung mehr. Dies führt dazu, dass der zum Zwecke der Erholung und Entspannung freigestellte Arbeitnehmer im Freistellungszeitraum seine Urlaubsvergütung weiter beanspruchen kann, auch wenn er die ihm eingeräumte Freizeit infolge später eintretender urlaubsstörender Ereignisse nicht uneingeschränkt so gestalten kann, wie er sich dies eigentlich vorgestellt hatte. Entgegen der bisher vom Senat vertretenen Auffassung (vgl. - Rn. 12, BAGE 156, 65; - 9 AZR 164/08 - Rn. 38 mwN, BAGE 129, 46) geht der durch die Leistungshandlung konkretisierte Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers in einem solchen Fall nicht gemäß § 275 Abs. 1 BGB nachträglich ersatzlos unter. Es bleibt bei der bezahlten Freistellung zum Zweck der Gewährung des bezahlten Jahresurlaubs.
174. Nach Urlaubsbewilligung eintretende und vom Arbeitgeber nicht unmittelbar zu beeinflussende Umstände, die dazu führen, dass der Arbeitnehmer die Zeit der Befreiung von der Arbeitspflicht zum Zwecke des Erholungsurlaubs nicht oder nicht uneingeschränkt in der beabsichtigten Weise nutzen kann, sind regelmäßig dem persönlichen Lebensbereich des Arbeitnehmers zuzuordnen und fallen damit grundsätzlich in seine Risikosphäre ( - Rn. 29, BAGE 172, 66). Der Arbeitgeber schuldet als Leistungserfolg allein die bezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht; er hat jedoch nicht für eine bestimmte Qualität des Freistellungszeitraums einzustehen ( - Rn. 28, aaO). Dem Arbeitnehmer ist wegen nachträglichen Eintritts urlaubsstörender Umstände der „misslungene“ Urlaub nur nachzugewähren, soweit der Gesetzgeber oder die Tarifvertragsparteien das Urlaubsrisiko dem Arbeitgeber auferlegt haben.
18a) § 9 BUrlG bestimmt, dass durch ärztliches Zeugnis nachgewiesene Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den bewilligten Jahresurlaub nicht angerechnet werden. Ohne diese Bestimmung verbliebe es in Krankheitsfällen bei der urlaubsbedingten Freistellung. Die Arbeitspflicht war bereits durch die Bewilligung des Urlaubs aufgehoben. Hiervon enthält § 9 BUrlG eine - unionsrechtlich gebotene (vgl. - [Sobczyszyn] Rn. 26; - C-277/08 - [Vicente Pereda] Rn. 22) - Ausnahme zugunsten des Arbeitnehmers ( - Rn. 23). Die Bestimmung beruht auf dem Gedanken, dass der Arbeitnehmer, der während des Urlaubs erkrankt, sich nicht erholen kann. Urlaub und Krankheit schließen einander aus. Der mit der Urlaubsgewährung verfolgte Zweck wird durch den Eintritt der Krankheit vereitelt. Dies soll nicht zu Lasten des Arbeitnehmers gehen, dessen Erholungsbedürfnis weiterbesteht (so bereits - zu 3 a der Gründe). Der Urlaub wird, soweit er gemäß § 9 BUrlG unterbrochen wird, zu einem späteren Zeitpunkt gewährt. Der Arbeitnehmer hat damit in diesem gesetzlich geregelten Fall keinen Anspruch auf Urlaubsentgelt, sondern auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (vgl. - Rn. 20; - 5 AZR 247/19 - Rn. 49, BAGE 170, 311).
19b) § 10 BUrlG trifft eine entsprechende Regelung. Danach dürfen Maßnahmen der Vorsorge und Rehabilitation nicht auf den bezahlten Erholungsurlaub angerechnet werden, soweit ein Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nach den gesetzlichen Vorschriften über die Entgeltzahlung im Krankheitsfall besteht.
20c) § 24 Satz 2 MuSchG regelt die Unvereinbarkeit von Urlaub und einer (vollständigen) Arbeitsbefreiung infolge mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote mit der Folge, dass das Risiko der Leistungsstörung durch ein in den festgelegten Urlaubszeitraum fallendes mutterschutzrechtliches Beschäftigungsverbot dem Arbeitgeber zugewiesen wird ( - Rn. 15, BAGE 156, 65).
21d) Im streitgegenständlichen Zeitraum enthielt das nationale Recht keine (Ausnahme-)Bestimmung, die für den Fall einer zeitlichen Überschneidung von bewilligtem Urlaub und aufgrund Ansteckungsgefahr angeordneter häuslicher Quarantäne dessen Nachgewährung anordnet. Der Gesetzgeber hat bei den Änderungen des Infektionsschutzgesetzes im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie weder § 9 BUrlG um eine behördliche Anordnung häuslicher Quarantäne erweitert noch für die Absonderung spezielle Regelungen geschaffen, wie sie in § 24 Satz 2 MuSchG (vgl. dazu - Rn. 13 ff., BAGE 156, 65), oder § 3 Abs. 1 Satz 1 THW-Helferrechtsgesetz (vgl. dazu - Rn. 32 ff., BAGE 114, 313) normiert sind (vgl. Hein/Tophof NZA 2021, 601; Isenhardt ArbRAktuell 2022, 281, 282). Der deutsche Gesetzgeber hat erst nach der Entscheidung des Senats durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 vom (BGBl. I S. 1454) das Zusammentreffen von Urlaub und Quarantäne erstmals positvgesetzlich geregelt. Die neu in das Infektionsschutzgesetz aufgenommene Bestimmung des § 59 Abs. 1 IfSG ordnet mit ex-nunc-Wirkung an, dass in Fällen, in denen ein Beschäftigter während seines Urlaubs nach § 30 IfSG, auch in Verbindung mit § 32 IfSG, abgesondert wird oder sich aufgrund einer nach § 36 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG erlassenen Rechtsverordnung abzusondern hat, die Tage der Absonderung nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden. Die Vorschrift findet auf den streitgegenständlichen Zeitraum noch keine Anwendung.
225. Bei den geltenden Bestimmungen über die Nichtanrechnung von Urlaub handelt es sich um Ausnahmevorschriften, die sich nach nationalem Recht nicht ohne weiteres auf andere urlaubsstörende Ereignisse, aus denen sich eine Beseitigung der Arbeitspflicht des Arbeitnehmers ergibt, übertragen lassen (vgl. - Rn. 23; - 9 AZR 251/04 - Rn. 30, BAGE 114, 313; - 9 AZR 384/92 - zu 2 c der Gründe, BAGE 77, 296; NK-ArbR/Düwell BUrlG § 9 Rn. 2; ErfK/Gallner 22. Aufl. BUrlG § 9 Rn. 2). Die Regelung in § 9 BUrlG ist damit nicht unmittelbar auf in Quarantäne befindliche Ansteckungsverdächtige, die selbst nicht erkrankt sind, anzuwenden. Ein Arbeitgeber ist in einem solchen Fall nach Auffassung des Senats aber auch nicht in analoger Anwendung des § 9 BUrlG zur Nachgewährung des sich mit der Quarantäne überschneidenden Urlaubs verpflichtet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz liegt nach nationalem Recht weder eine planwidrige Regelungslücke noch eine vergleichbare Interessenlage vor.
23a) Die analoge Anwendung einer Vorschrift ist nur möglich, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält, deren Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann. Andernfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers als planwidrige Lücke aufgefasst und im Wege der Rechtsfortbildung von den Gerichten ausgefüllt werden. Die Lücke muss sich aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrundeliegenden Regelungsplan ergeben. Darüber hinaus muss der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangen wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle (vgl. - Rn. 20, BAGE 168, 204; - 8 AZR 338/16 - Rn. 42 mwN). Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass ein Gericht seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt. Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. , 1 BvL 1375/14 - Rn. 73, BVerfGE 149, 126; - Rn. 19).
24b) Für eine entsprechende Anwendung der Rechtsfolgen des § 9 BUrlG auf Fälle einer behördlichen Anordnung häuslicher Quarantäne fehlt es nach Auffassung des Senats bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Der Gesetzgeber des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz) hat mit § 56 IfSG eine abschließende Regelung über die finanziellen Folgen einer Absonderung getroffen. In der amtlichen Begründung des § 48 des Regierungsentwurfs eines Bundes-Seuchengesetzes (BT-Drs. III/1888 S. 27) - einer Vorgängerregelung des § 56 IfSG - wird ausgeführt, dass die Entschädigungsvorschrift eine Billigkeitsregelung darstelle, die keinen vollen Schadensausgleich, sondern nur eine gewisse Sicherung der von einem Berufsverbot Betroffenen vor materieller Not bezwecke. Da dieser Personenkreis vom Schicksal in ähnlicher Weise betroffen sei wie Erkrankte, sollten ihm Leistungen gewährt werden, die er als Versicherter in der gesetzlichen Krankenversicherung im Krankheitsfalle erhielte. Damit beabsichtigte der Gesetzgeber keine vollständige Gleichstellung mit arbeitsunfähig erkrankten Personen, sondern lediglich eine punktuelle Absicherung (vgl. den schriftlichen Bericht des Ausschusses für Gesundheitswesen vom , BT-Drs. III/2662 S. 3 „in etwa“). Diesem gesetzgeberischen Ziel entspricht es, dass das dem Bundes-Seuchengesetz zeitlich nachfolgende Bundesurlaubsgesetz die Nachgewährung von Urlaub in § 9 auf Fälle der Arbeitsunfähigkeit infolge der Erkrankung beschränkt hat.
25c) Selbst bei Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke stände einer analogen Anwendung des § 9 BUrlG entgegen, dass der gesetzlich ungeregelte Fall der Nichtanrechnung von Zeiten behördlich angeordneter Quarantäne auf den Urlaub weder nach Maßgabe des Gleichheitssatzes noch zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen zwingend nach der in § 9 BUrlG geregelten Rechtsfolge verlangt. Die Situationen sind dazu nicht hinreichend vergleichbar.
26aa) Krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Tätigkeit beim Arbeitgeber wegen Krankheit nicht mehr ausüben kann oder nicht mehr ausüben sollte, weil die Heilung einer vorhandenen Krankheit nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert wird ( - Rn. 25; - 5 AZR 393/07 - Rn. 19 mwN). Während der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist der Fokus des Arbeitnehmers typischerweise auf seine Genesung und die Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit gerichtet. Dies weicht vom Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ab, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Aufgrund der unterschiedlichen Zweckrichtung der Arbeitsbefreiung aufgrund von Krankheit und Urlaub ist es auch unionsrechtlich geboten, dass ein Arbeitnehmer, der während eines im Voraus festgelegten Urlaubszeitraums erkrankt, nach Wiedergenesung die Nachgewährung des Urlaubs verlangen kann ( - [Sobczyszyn] Rn. 26; - C-277/08 - [Vicente Pereda] Rn. 22).
27bb) Die Situation einer Person, die von einer behördlichen Anordnung häuslicher Quarantäne betroffen, aber nicht selbst arbeitsunfähig erkrankt ist, unterscheidet sich davon wesentlich. Es bedarf weder einer Genesungszeit noch Behandlungsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die den Arbeitnehmer erst in einen Zustand versetzen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ausüben zu können. Die betroffene Person ist zwar in ihrer Bewegungsfreiheit stark und im Einzelfall möglicherweise sogar stärker eingeschränkt als ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer. Er hat aber - wenngleich in dem durch die Umstände der Quarantäne begrenzten Umfang - die Möglichkeit, sich von der Arbeit zu erholen und über einen von den Belastungen des Arbeitsverhältnisses und dem Einfluss des Arbeitgebers unbeeinträchtigten Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen.
28d) Ungeachtet der insoweit abweichenden Auffassung des Bundesgerichthofs ( - zu I 3 c der Gründe) kann der Senat daher entscheiden, dass § 9 BUrlG auf Fälle der behördlichen Anordnung häuslicher Quarantäne nicht entsprechend anwendbar ist, ohne dazu zuvor den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG anzurufen.
29aa) Nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG ist die Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes geboten, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die zur Entscheidung vorgelegte Rechtsfrage im Anwendungsbereich derselben Rechtsvorschrift stellt oder dass sie auf der Grundlage von Vorschriften aufgeworfen wird, die zwar in verschiedenen Gesetzen stehen, in ihrem Wortlaut aber im Wesentlichen und in ihrem Regelungsinhalt gänzlich übereinstimmen und deswegen nach denselben Prinzipien auszulegen sind ( GmS-OGB 6/86 - zu II der Gründe, BVerwGE 77, 370).
30bb) Zwar hat der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit einem Entschädigungsanspruch nach dem früheren § 49 Abs. 1 BSeuchG (Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen [Bundes-Seuchengesetz] vom , BGBl. I S. 1012) erkannt, dass § 9 BUrlG entsprechend anzuwenden sei, wenn gegen einen Arbeitnehmer für Zeiten bewilligten Urlaubs ein seuchenpolizeiliches Tätigkeitsverbot verhängt worden ist. Der Bundesgerichtshof hat angenommen, Ausscheider, Ausscheidungsverdächtige und Ansteckungsverdächtige seien vom Schicksal in ähnlicher Weise betroffen wie Kranke. Die Ähnlichkeit dieser Beschränkungen mit denjenigen, die auf einer Krankheit im medizinischen Sinne beruhten, rechtfertigten es, den in § 9 BUrlG enthaltenen Rechtsgedanken auf Fälle der vorliegenden Art mit der Maßgabe anzuwenden, dass im Einzelfall zu prüfen sei, ob durch die Beschränkungen die Gestaltung, die der Betroffene seinem Erholungsurlaub üblicherweise gegeben hätte, tatsächlich erheblich beeinträchtigt worden ist. Dabei geht der Bundesgerichtshof von der Prämisse aus, zu einer echten Erholung gehöre eine Sphäre der Selbstbestimmung und des Lebensgenusses (vgl. - zu I 3 c aa der Gründe).
31cc) Es bedarf keiner Entscheidung darüber, ob diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mit der Auffassung des Senats im Einklang steht. Einer Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung bedarf es jedenfalls deshalb nicht, weil gemäß § 68 Abs. 1 IfSG idF vom für Streitigkeiten über Entschädigungsanträge nach § 56 Abs. 5 Satz 3 IfSG nunmehr der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben ist. Das Rechtsgebiet, über das der Bundesgerichtshof seinerzeit zu entscheiden hatte, liegt nunmehr außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Das - nach aktuellem Recht als Revisionsgericht zuständige - Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Rechtsfrage, ob § 9 BUrlG auf Quarantänefälle entsprechend anwendbar ist, noch nicht befasst.
32II. Nach diesen Grundsätzen des nationalen Rechts hätte die Beklagte den Anspruch des Klägers auf bezahlten Jahresurlaub durch bezahlte Freistellung in der Zeit vom 12. bis zum iSv. § 362 Abs. 1 BGB erfüllt. Der Urlaub wäre im Umfang von acht Tagen ersatzlos erloschen, obwohl der Umstand der behördlich angeordneten Quarantäne für den Arbeitnehmer nicht vorhersehbar und von seinem Willen unabhängig während der Zeit der Freistellung eingetreten ist. Der wegen Ansteckungsverdachts in Quarantäne befindliche Kläger war jedoch nicht arbeitsunfähig erkrankt, so dass ihm die Urlaubstage während dieser Zeit, in der er Urlaubsvergütung bezogen hat, nicht nach § 9 BUrlG erhalten bleiben.
33Der Senat kann nicht abschließend darüber befinden, ob diese Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG oder Art. 31 Abs. 2 der Charta im Einklang steht, ohne den Gerichtshof anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist.
34Für die Entscheidung des Rechtsstreits bedarf es einer Klärung durch den Gerichtshof, ob das Unionsrecht eine innerstaatliche Regelung oder Praxis gestattet, die den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub durch Freistellung und Fortzahlung der gewöhnlichen Vergütung auch für Zeiten als erfüllt ansieht, in denen die zuständige Behörde nach der Urlaubsbewilligung durch den Arbeitgeber wegen des Verdachts auf Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 häusliche Quarantäne angeordnet hat, oder ob der Urlaub in diesem Fall für den selbst nicht erkrankten Arbeitnehmer nachzugewähren ist.
35I. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs soll der in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (vgl. - [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 32; - C-341/15 - [Maschek] Rn. 34 mwN). Die bisherige Judikatur des Gerichtshofs deutet darauf hin, dass der Arbeitgeber grundsätzlich nur bezahlte Freistellung zur Erfüllung des Erholungsurlaubs, nicht jedoch einen darüberhinausgehenden Urlaubserfolg (Qualität des Freistellungszeitraums) schuldet, sofern dem nicht Umstände entgegenstehen, die (wie zB Krankheit, Unfall oder Mutterschutz) dem durch die Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten Mindestschutz des Jahresurlaubs zuwiderlaufen.
361. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine nationale Regelung im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG einen nach nationalem Recht vorgesehenen Sonderurlaub ausschließen kann, wenn die Bedürfnisse und Verpflichtungen, für die dieser Sonderurlaub zu gewähren ist, während des bezahlten Jahresurlaubs eintreten ( - [Fetico ua.] Rn. 42). Das vom Gerichtshof geprüfte Regelungswerk räumte Arbeitnehmern grundsätzlich einen Anspruch auf bezahlten Sonderurlaub ein, der es ihnen ermöglichte, bestimmten Bedürfnissen und Verpflichtungen (wie zB Krankenhausaufenthalt, chirurgische Operation oder beim Tod eines nahen Angehörigen sowie Erfüllung einer zwingenden im öffentlichen Interesse liegenden persönlichen Verpflichtung oder gewerkschaftlicher Vertretungsfunktionen) nachzukommen. Der Anspruch auf bezahlten Sonderurlaub bestand indessen nicht, wenn die Bedürfnisse und Verpflichtungen während des bezahlten Jahresurlaubs eintraten, obwohl diese den Urlaubsgenuss und die Gestaltung der durch die Urlaubsbewilligung eingeräumten Freizeit zu beeinträchtigen geeignet waren. Der Gerichtshof hat erkannt, dass derartige Sonderurlaubsregelungen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88/EG fallen, sondern der Ausübung der eigenen Befugnisse durch einen Mitgliedstaat unterliegen ( - [Fetico ua.] Rn. 31). Anders als bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, bei der der Arbeitnehmer berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann ( - [Fetico ua.] Rn. 34 mwN), hat der Gerichtshof für die den Eintritt der grundsätzlich zum Sonderurlaub berechtigenden Bedürfnisse und Verpflichtungen implizit erkannt, dass diese der Erfüllung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht entgegenstehen, es sei denn, dadurch würde die Inanspruchnahme eines anderen unionsrechtlich gewährleisteten Urlaubs beeinträchtigt, der einen anderen Zweck verfolgt. Mit der Begründung, „die Bedürfnisse oder Verpflichtungen, die die Gewährung eines Sonderurlaubs rechtfertigen, [müssen] in einem Arbeitszeitraum eintreten“, „so dass sich die Arbeitnehmer während … des bezahlten Jahresurlaubs nicht auf ihn berufen können“ ( - [Fetico ua.] Rn. 35 f.), bringt der Gerichtshof zum Ausdruck, dass der Eintritt der - urlaubsstörenden - Sonderurlaubstatbestände nicht zur Unterbrechung des bewilligten Erholungsurlaubs führt.
372. Stehen danach den Jahresurlaub störende Bedürfnisse und Verpflichtungen wie Krankenhausaufenthalt, chirurgische Operation oder der Tod eines nahen Angehörigen sowie die Erfüllung einer zwingenden im öffentlichen Interesse liegenden persönlichen Verpflichtung oder gewerkschaftlicher Vertretungsfunktionen der Erfüllung des Urlaubsanspruchs grundsätzlich nicht entgegen, könnte dies auch dann gelten, wenn der Arbeitnehmer infolge häuslicher Quarantäne in der Gestaltung seiner Freizeit eingeschränkt ist. Sollten nach der Auffassung des Gerichtshofs durch die urlaubsstörende Wirkung der häuslichen Quarantäne weder die unionsrechtlichen Mindestanforderungen an Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung unterlaufen noch die durch Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG bezweckte Erholung und Entspannung maßgeblich vereitelt werden, wären die damit einhergehenden Einschränkungen als Teil des persönlichen Lebensschicksals dem Risikobereich des Arbeitnehmers zuzuordnen. Dies entspräche der Wertung des Gerichtshofs, dass eine aufgrund von in der Person des Arbeitnehmers liegenden Umständen stark eingeschränkte Möglichkeit, Freizeitaktivitäten nachzugehen, der Einordnung von Bereitschaftszeiten als Ruhezeit iSv. Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2003/88/EG nicht widerspricht (vgl. - [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 42).
38II. Der Senat kann es aber nicht ausschließen, dass der Gerichtshof demgegenüber zu der Einschätzung gelangt, der durch die Richtlinie 2003/88/EG gewährleistete Mindestschutz werde durch die Absonderung wegen Ansteckungsgefahr ähnlich einer Erkrankung im Urlaub so wesentlich beeinträchtigt, dass er die Zeit der bezahlten Freizeit nicht in der unionsrechtlich gebotenen Weise nach seinen Vorstellungen gestalten kann und deshalb unionsrechtlich trotz an sich wirksamer Urlaubsfestlegung keine Erfüllung eintreten kann.
391. Für das Zusammentreffen von bezahltem Jahresurlaub und Krankheitsurlaub hat der Gerichtshof festgestellt, dass angesichts der unterschiedlichen Zwecke dieser beiden Urlaubsarten ein Arbeitnehmer, der sich während eines im Voraus festgelegten bezahlten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub befindet, berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann (vgl. - [Fetico ua.] Rn. 33 f.; - C-178/15 - [Sobczyszyn] Rn. 25 f.; - C-277/08 - [Vicente Pereda] Rn. 22).
402. Dieser unionsrechtliche Grundsatz könnte auch für den Fall des Zusammentreffens von Urlaub und einer behördlichen angeordneten häuslichen Quarantäne Geltung beanspruchen. Ebenso wie die Erkrankung ist auch die behördliche Anordnung häuslicher Quarantäne grundsätzlich nicht vorhersehbar und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig. Der Arbeitnehmer kann die behördliche Absonderung regelmäßig nicht vermeiden, es sei denn, er hat deren Voraussetzung schuldhaft (zB durch eine vermeidbare Reise in ein Risikogebiet) herbeigeführt. Zudem beeinträchtigen Krankheit und Quarantäne den Arbeitnehmer darin, die durch die Urlaubsbewilligung erlangte Freizeit selbstbestimmt zu gestalten.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:160822.B.9AZR76.22A.0
Fundstelle(n):
BB 2022 S. 2995 Nr. 51
DStR-Aktuell 2022 S. 9 Nr. 33
NWB-Eilnachricht Nr. 35/2022 S. 2460
RIW 2023 S. 163 Nr. 3
ZIP 2023 S. 51 Nr. 1
ZIP 2023 S. 51 Nr. 1
NAAAJ-27913