Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat als den ihrer Gründung
Leitsatz
Art. 49 AEUV steht einer nationalen Steuervorschrift nicht entgegen, nach der Wertzuwächse bei Aktien oder Gesellschaftsanteilen, die von einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nach der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes in diesen Mitgliedstaat verbucht wurden, als aufgezeichnete, aber nicht verwirklichte Mehrwerte behandelt werden, ohne dass berücksichtigt wird, ob diese Aktien oder Anteile zu einer Verbuchung von Wertminderungen durch diese Gesellschaft zu einem Zeitpunkt geführt haben, zu dem sie in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ansässig war.
Gesetze: AEUV Art. 267, AEUV Art. 49, AEUV Art. 54
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der VP Capital NV und der belgischen Steuerverwaltung über die steuerliche Behandlung von Umsätzen aus der Rücknahme von Wertminderungen durch diese Gesellschaft, die vor der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes von Luxemburg nach Belgien verbucht wurden.
Rechtlicher Rahmen
3 In Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 des Code des impôts sur les revenus 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: EStGB 92) heißt es:
„Gewinne sind Einkünfte von Industrie‑, Handels- oder Landwirtschaftsunternehmen aus:
…
2. Wertsteigerungen der Aktiva, die zur Ausübung der Berufstätigkeit genutzt werden, und Wertminderungen der Passiva, die aus dieser Tätigkeit hervorgehen, wenn diese Mehr- oder Minderwerte verwirklicht oder in der Buchhaltung oder dem Jahresabschluss aufgezeichnet wurden“.
4 Art. 44 § 1 EStGB 92 bestimmt:
„In Abweichung von den Artikeln 24 Absatz 1 Nr. 2, 27 Absatz 2 Nr. 3 und 28 Absatz 1 Nr. 1 und letzter Absatz und unbeschadet der Bestimmungen von Artikel 24 Absatz 1 Nr. 3 sind steuerfrei:
1. aufgezeichnete, aber nicht verwirklichte Mehrwerte mit Ausnahme der Mehrwerte auf Bestände und auf die in Ausführung befindlichen Bestellungen,
…“
5 Art. 184ter § 2 Abs. 2 EStGB 92 sieht vor:
„Wenn eine ausländische Gesellschaft ihre Hauptniederlassung oder ihren Geschäftsführungs- oder Verwaltungssitz nach Belgien verlegt, werden – was die Bestandteile betrifft, die in den ausländischen Niederlassungen oder den im Ausland gelegenen Bestandteilen genutzt werden, über die diese Gesellschaft verfügt – zu einem späteren Zeitpunkt verwirklichte Mehr- und Minderwerte, die sich auf diese Aktiva beziehen, auf der Grundlage des Realwertes, den sie zum Zeitpunkt des Vorgangs haben, bestimmt.“
6 Art. 190 Abs. 2 EStGB 92 lautet wie folgt:
„In Bezug auf den steuerfreien oder vorläufig nicht besteuerten Anteil der in den Artikeln 44 §§ 1 und 3, 44bis, 44ter und 47 erwähnten Mehrwerte ist diese Mehrwertregelung nur anwendbar in dem Maße, wie dieser Anteil auf einem oder mehreren getrennten Passivkonten gebucht ist und dort belassen wird und nicht als Grundlage für die Berechnung der jährlichen Zuführung an die gesetzliche Rücklage oder für die Berechnung von Entlohnungen oder Zuerkennungen dient.“
7 Art. 198 Nr. 7 EStGB 92 bestimmt:
„Werbungskosten umfassen nicht:
…
7. Wertminderungen und Minderwerte auf Aktien oder Anteile, ausschließlich der Minderwerte, die anlässlich der Gesamtverteilung des Gesellschaftsvermögens einer Gesellschaft bis höchstens zum Verlust des eingezahlten Kapitals, das durch diese Aktien oder Anteile vertreten wird, gebucht werden“.
8 Art. 206 EStGB 92 sieht vor:
„§ 1 Vorherige berufliche Verluste werden nacheinander von den Berufseinkünften jedes folgenden Besteuerungszeitraums abgezogen.
Die Verrechnung von in einer ausländischen Niederlassung der Gesellschaft in einem Staat, mit dem Belgien ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen hat, erlittenen beruflichen Verlusten mit belgischen Gewinnen ist davon abhängig, dass die Gesellschaft nachweist, dass diese Verluste nicht von den Gewinnen dieser ausländischen Niederlassung abgezogen wurden. Außerdem wird der Betrag dieser beruflichen Verluste, den die Gesellschaft in einem beliebigen Besteuerungszeitraum mit ihren belgischen Gewinnen verrechnet hat, für den proportionalen Teil dieser Verluste, hinsichtlich dessen die Gesellschaft für den Besteuerungszeitraum nicht mehr nachweist, dass er nicht von den Gewinnen dieser ausländischen Niederlassung abgezogen wurde, oder wenn die betreffende ausländische Niederlassung im Laufe des Besteuerungszeitraums im Rahmen einer Einbringung, einer Fusion, einer Spaltung oder eines ähnlichen Vorgangs verlegt wird, dem steuerpflichtigen Einkommen dieses Zeitraums hinzugerechnet.
…
§ 3 Wenn eine ausländische Gesellschaft ihren Gesellschaftssitz, ihre Hauptniederlassung oder ihren Geschäftsführungs- oder Verwaltungssitz nach Belgien verlegt, ist die Bestimmung von § 1 Absatz 1 anwendbar in Bezug auf berufliche Verluste, die diese Gesellschaft in einer belgischen Niederlassung hatte, über die sie vor dieser Verlegung verfügte.“
9 Schließlich bestimmt Art. 74 des Königlichen Erlasses zur Ausführung des EStGB 92 in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausführungserlass):
„Im Hinblick auf die Festlegung des Ergebnisses, das der Gesellschaftssteuer unterliegt, wird das Ergebnis des Besteuerungszeitraums – Wertminderungen, Rückstellungen oder Mehrwerte ausgenommen, die nach den Art. 48, 190, 191 und 194 bis 194quater [EStGB 92] steuerfrei sind – entsprechend seines Verwendungszwecks aufgeschlüsselt nach:
1. Rücklagen;
2. nicht zugelassenen Ausgaben;
3. Dividenden.
Für die Anwendung von Absatz 1 versteht man unter:
1. ‚Rücklagen‘: die Ergebnisrücklage, verringert um:
…
– Mehrwerte auf Aktien oder Anteile, die aufgrund der Artikel 192 und 521 [EStGB 92] steuerfrei sind, und während des Besteuerungszeitraums zurückgenommene Wertminderungen auf Aktien oder Anteile, die vorher aufgrund von Artikel 198 Nr. 7 [EStGB 92] als nicht zugelassene Ausgaben besteuert worden sind, in dem Maße, wie diese Wertminderungen am Ende dieses Besteuerungszeitraums nicht mehr gerechtfertigt sind,
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 VP Capital, eine ursprünglich in Luxemburg gegründete Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in diesem Mitgliedstaat, verbuchte Wertminderungen für verschiedene Beteiligungen, die sie an anderen Gesellschaften hielt. Sie zog diese Wertminderungen von ihren Steuerergebnissen in Luxemburg ab, was zu einer Erhöhung ihrer vortragsfähigen Verluste führte. Aufgrund ihrer defizitären Lage konnte VP Capital diese vortragsfähigen Verluste in Luxemburg nicht geltend machen.
11 Nach diesen Vorgängen verlegte VP Capital ihren satzungsmäßigen Sitz im Mai 2009 von Luxemburg nach Belgien. Sie wurde in eine Gesellschaft belgischen Rechts umgewandelt.
12 Nach dieser Verlegung nahm VP Capital einen Teil der Wertminderungen zurück, die sie verbucht hatte, als sich ihr satzungsmäßiger Sitz noch in Luxemburg befand. Sie berief sich auf die belgische Befreiungsregelung für Rücknahmen von Wertminderungen auf Aktien oder Gesellschaftsanteile gemäß Art. 74 des Ausführungserlasses, wonach diese Umsätze steuerfrei seien, da die entsprechenden Wertminderungen gemäß Art. 198 Nr. 7 EStGB 92 grundsätzlich nicht als Werbungskosten von den steuerpflichtigen Einkünften abgezogen werden könnten.
13 Nach den Bestimmungen von Art. 184ter § 2 Abs. 2 EStGB 92 in Verbindung mit dessen Art. 190 Abs. 2 werden jedoch im Fall der Verlegung des Gesellschaftssitzes, der Hauptniederlassung oder des Geschäftsführungs- oder Verwaltungssitzes einer ausländischen Gesellschaft nach Belgien, hinsichtlich der Bestandteile, die in den ausländischen Niederlassungen oder den im Ausland gelegenen Bestandteilen genutzt werden, über die diese Gesellschaft verfügt, nach dieser Verlegung verwirklichte Mehr- und Minderwerte, die sich auf diese Aktiva beziehen, auf der Grundlage des Realwertes zum Zeitpunkt dieser Verlegung bestimmt. Aufgezeichnete, aber nicht verwirklichte Mehrwerte (im Folgenden: nicht verwirklichte Mehrwerte) sind steuerbefreit, sofern sie auf einem gesonderten Passivkonto verbucht werden. Da die Rücknahme von durch VP Capital nach der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes nach Belgien verbuchten Wertminderungen nicht auf einem gesonderten Passivkonto verbucht worden war, war die belgische Steuerverwaltung der Ansicht, dass dieser Vorgang steuerpflichtig sei.
14 Im Rahmen des Rechtsstreits zwischen VP Capital und dieser Steuerverwaltung über die steuerliche Behandlung der in Rede stehenden Umsätze hat der Hof von Cassatie (Kassationshof, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegen die in Art. 49 AEUV gewährleistete Niederlassungsfreiheit, wenn sie zur Folge hat, dass eine luxemburgische Gesellschaft, die Wertverluste bei Aktien in Luxemburg verbucht und diese zwar von ihrem steuerpflichtigen Ergebnis in Abzug bringt, jedoch wegen des Vorhandenseins einer steuerlichen Verlustposition nicht tatsächlich von diesem Ergebnis abziehen kann, nach Verlegung ihres satzungsgemäßen Sitzes nach Belgien im Zusammenhang mit der Rücknahme dieser Wertverluste in Belgien besteuert wird, es sei denn, die Wertzuwächse, die sich hinter dieser Rücknahme verbergen, werden auf einem unverfügbaren Passivkonto verbucht, während eine belgische Gesellschaft, die Wertverluste bei Aktien in Belgien verbucht hat, im Zusammenhang mit der Rücknahme dieser Wertverluste nicht besteuert wird, sofern die Wertverluste nicht vorher vom belgischen steuerpflichtigen Ergebnis abgezogen worden sind, und zwar ohne dass die Wertzuwächse, die sich hinter dieser Rücknahme verbergen, auf einem unverfügbaren Passivkonto verbucht werden müssen?
Zur Vorlagefrage
15 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 49 AEUV einer nationalen Steuervorschrift entgegensteht, nach der Wertzuwächse bei Aktien oder Gesellschaftsanteilen, die von einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nach der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes in diesen Mitgliedstaat verbucht wurden, als nicht verwirklichte Mehrwerte behandelt werden, ohne dass berücksichtigt wird, ob diese Aktien oder Anteile zu einer Verbuchung von Wertminderungen durch diese Gesellschaft zu einem Zeitpunkt geführt haben, zu dem sie in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ansässig war.
16 Nach Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV genießen diejenigen Gesellschaften Niederlassungsfreiheit, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union haben (Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 24). Diese Freiheit umfasst das Recht einer solchen Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
17 Außerdem sollen die Bestimmungen des Unionsrechts über die Niederlassungsfreiheit insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen (Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 27 und 31).
18 In diesem Zusammenhang kann sich eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, auf Art. 49 AEUV berufen, um gegen die steuerlichen Folgen dieser Verlegung in den Aufnahmemitgliedstaat vorzugehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 26 und 28).
19 Art. 49 AEUV garantiert jedoch nicht, dass eine solche Verlagerung steuerneutral ist. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich kann diese Verlegung je nach dem Einzelfall steuerlich mehr oder weniger vorteilhaft oder nachteilig sein. Die Niederlassungsfreiheit bedeutet nicht, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, seine Steuervorschriften an die anderer Mitgliedstaaten anzupassen, um in allen Situationen eine Besteuerung zu gewährleisten, die jede Ungleichheit, die sich aus den nationalen Steuerregelungen ergibt, beseitigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass Wertminderungen auf Aktien oder Gesellschaftsanteile nach Art. 198 Nr. 7 EStGB 92 grundsätzlich nicht als Werbungskosten vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden können. Art. 74 des Ausführungserlasses befreit hingegen die spätere Rücknahme dieser Wertminderungen von der Körperschaftsteuer.
21 Den Akten ist aber auch zu entnehmen, dass nach Art. 184ter § 2 Abs. 2 EStGB 92 nach der Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft nach Belgien verwirklichte Mehr- und Minderwerte auf der Grundlage ihres Realwerts zum Zeitpunkt dieser Verlegung ermittelt werden. In diesem Zusammenhang werden Wertzuwächse bei Aktien oder Gesellschaftsanteilen, die von einer Gesellschaft verbucht werden, die ihren satzungsmäßigen Sitz nach Belgien verlegt hat, als nicht verwirklichte Mehrwerte angesehen, die von der in Art. 74 des Ausführungserlasses vorgesehenen Steuerbegünstigung ausgeschlossen sind, und zwar auch dann, wenn die Verbuchung dieser Zuwächse der Rücknahme der Wertminderungen entspricht, die vor dieser Verlegung verbucht wurden und hinsichtlich deren im Herkunftsmitgliedstaat kein Abzug als Werbungskosten vom steuerpflichtigen Ergebnis erfolgt ist.
22 Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende schafft eine Ungleichbehandlung zulasten von Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und die ihre Niederlassungsfreiheit ausüben, durch die sie davon abgehalten werden können, ihren satzungsmäßigen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, um dort ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten auszuüben. Diese Ungleichbehandlung ist nur statthaft, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und im Hinblick auf diesen verhältnismäßig ist (Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen (Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Im Hinblick auf Maßnahmen, die ein Mitgliedstaat getroffen hat, um die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren, wie dies – vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht – bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung der Fall ist, befinden sich eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat Wertminderungen auf Aktien oder Gesellschaftsanteile verbucht hat, und eine Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz in diesen Mitgliedstaat verlegt hat, nachdem sie solche Wertminderungen in einem anderen Mitgliedstaat verbucht hatte, grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation.
25 Eine Gesellschaft, die eine solche Verlegung vornimmt, unterliegt nämlich nacheinander der Steuerhoheit zweier Mitgliedstaaten, und zwar zum einen des Herkunftsmitgliedstaats für den Zeitraum, in dem Wertminderungen verbucht wurden, und zum anderen des Aufnahmemitgliedstaats für den Zeitraum, in dem der Rücknahme dieser Wertminderungen entsprechende Wertzuwächse verbucht werden.
26 Aufgrund der fehlenden Besteuerungsbefugnis des Aufnahmemitgliedstaats für den Zeitraum, in dem Wertminderungen auf Aktien oder Gesellschaftsanteile verbucht wurden, befindet sich eine Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz in diesen Mitgliedstaat verlegt hat und die dort anschließend Wertzuwächse bei diesen Aktien oder diesen Gesellschaftsanteilen verbucht, nicht in einer Situation, die mit der einer Gesellschaft vergleichbar ist, die der Besteuerungsbefugnis dieses Mitgliedstaats bereits für den Zeitraum unterlag, in dem diese Wertminderungen verbucht wurden.
27 Aus demselben Grund ist die Situation einer Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einen Mitgliedstaat verlegt hat, bevor sie vor dieser Verlegung verbuchte Wertminderungen zurücknimmt, entgegen dem Vorbringen von VP Capital auch nicht mit der Situation einer Holdinggesellschaft mit Sitz in diesem Mitgliedstaat, die sich in einer steuerlichen Verlustposition befindet, mit der Situation einer Gesellschaft, die in diesem Mitgliedstaat Wertminderungen verbucht hat, während sie der Körperschaftsteuer unterlag, oder mit der Situation einer Gesellschaft im selben Mitgliedstaat vergleichbar, die eine Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat schließt, in dem Wertminderungen verbucht wurden.
28 Im vorliegenden Fall ist außerdem festzustellen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens nach den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben in Luxemburg, ihrem Herkunftsmitgliedstaat, die Wertminderungen geltend gemacht hat, die sie vor der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes verbucht hatte, was aufgrund ihrer defizitären Lage zu einer Erhöhung ihrer vortragsfähigen Verluste geführt hat. Der Umstand, dass sie diese Minderungen nicht tatsächlich von ihrem steuerpflichtigen Ergebnis abziehen konnte, ergibt sich aus ihrer anschließenden Entscheidung, durch diese Verlegung ihre Niederlassungsfreiheit auszuüben.
29 Die vorstehenden Erwägungen können nicht durch das Urteil vom , Bevola und Jens W. Trock (C‑650/16, EU:C:2018:424), in Frage gestellt werden. Die in jenem Urteil getroffene Entscheidung fügt sich nämlich in den Rahmen der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Berücksichtigung der endgültigen Verluste einer Tochtergesellschaft oder einer – im Laufe desselben Besteuerungszeitraums – in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Niederlassung in dem Mitgliedstaat, in dem die Muttergesellschaft ansässig ist, ein. Sie ist nicht auf die Situation einer Gesellschaft übertragbar, die ihren satzungsmäßigen Sitz von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat und im zweiten Mitgliedstaat die Berücksichtigung von Umsätzen geltend macht, die vor dieser Verlegung im ersten Mitgliedstaat verbucht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , AURES Holding, C‑405/18, EU:C:2020:127, Rn. 44 bis 48).
30 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 49 AEUV einer nationalen Steuervorschrift nicht entgegensteht, nach der Wertzuwächse bei Aktien oder Gesellschaftsanteilen, die von einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nach der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes in diesen Mitgliedstaat verbucht wurden, als nicht verwirklichte Mehrwerte behandelt werden, ohne dass berücksichtigt wird, ob diese Aktien oder Anteile zu einer Verbuchung von Wertminderungen durch diese Gesellschaft zu einem Zeitpunkt geführt haben, zu dem sie in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ansässig war.
Kosten
31 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 49 AEUV steht einer nationalen Steuervorschrift nicht entgegen, nach der Wertzuwächse bei Aktien oder Gesellschaftsanteilen, die von einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nach der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes in diesen Mitgliedstaat verbucht wurden, als aufgezeichnete, aber nicht verwirklichte Mehrwerte behandelt werden, ohne dass berücksichtigt wird, ob diese Aktien oder Anteile zu einer Verbuchung von Wertminderungen durch diese Gesellschaft zu einem Zeitpunkt geführt haben, zu dem sie in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ansässig war.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2022:871
Fundstelle(n):
XAAAJ-27295