Energiewirtschaftliche Verwaltungssache: Festlegung des generellen sektoralen Produktivitätsfaktors für Betreiber von Gasversorgungsnetzen durch die Bundesnetzagentur
Gesetze: § 21a Abs 2 S 1 EnWG, § 9 Abs 3 ARegV
Instanzenzug: Az: VI-3 Kart 711/18 (V)
Gründe
1A. Mit Beschluss vom hat die Bundesnetzagentur den generellen sektoralen Produktivitätsfaktor für Betreiber von Gasversorgungsnetzen gemäß § 9 Abs. 3 ARegV (nachfolgend: Produktivitätsfaktor) für die dritte Regulierungsperiode auf 0,49 % festgelegt.
2Vor der Entscheidung holte die Bundesnetzagentur zur Ermittlung des Produktivitätsfaktors ein Gutachten ein, das die Anwendung zweier unterschiedlicher Methoden empfahl. Auf Grundlage dieses Gutachtens und nach Erhebung von Daten bei den Netzbetreibern aus der Gewinn- und Verlustrechnung, zum Sachanlagevermögen und zum Personalaufwand für die Jahre 2006 bis 2016 ermittelte die Bundesnetzagentur mithilfe eines Törnqvist-Indexes, der die Produktivität von Unternehmen als Verhältnis zwischen Ausbringungsmengen (Output) und den hierfür benötigten Produktionsfaktoren (Input) auf der Grundlage von Daten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung abbildet, einen Produktivitätsfaktor von 0,49 %. Nach einem weiteren, als Malmquist-Methode bezeichneten Verfahren, bei dem die Änderungen statischer Effizienzwerte von Unternehmen für unterschiedliche Perioden verglichen werden, ermittelte die Bundesnetzagentur anhand der Daten der für die ersten drei Regulierungsperioden durchgeführten Effizienzvergleiche einen Produktivitätsfaktor von 0,92 %. Da die Bundesnetzagentur keine der beiden Methoden als überlegen ansah, setzte sie zugunsten der Netzbetreiber den niedrigeren Wert fest.
3Die Betroffene, die ein Gasversorgungsnetz betreibt, hat - wie auch zahlreiche weitere Netzbetreiber - die Festlegung mit der Beschwerde angegriffen.
4Das sachverständig beratene Beschwerdegericht hat den Beschluss der Bundesnetzagentur aufgehoben und die Bundesnetzagentur zur Neubescheidung verpflichtet. Dagegen wendet sich die Bundesnetzagentur mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde und strebt die Zurückweisung der Beschwerde der Betroffenen an.
5B. Die zulässige Rechtsbeschwerde der Bundesnetzagentur ist begründet.
6I. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die angefochtene Festlegung sei rechtswidrig, da die Bundesnetzagentur die Höhe des Produktivitätsfaktors rechtsfehlerhaft ermittelt habe.
7Allerdings sei die von der Bundesnetzagentur zur Ermittlung der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung mithilfe des Törnqvist-Indexes angewandte Residualbetrachtung mit § 9 Abs. 1 und 3 Satz 1 ARegV vereinbar. Die Bundesnetzagentur habe fehlerfrei den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt und die Änderung der gesamtwirtschaftlichen Einstandspreise durch den vom Statistischen Bundesamt ermittelten Verbraucherpreisgesamtindex abgebildet. § 9 Abs. 1 ARegV verlange keine getrennte Ermittlung von vier Einzelwerten zum gesamtwirtschaftlichen und netzwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt sowie zur gesamtwirtschaftlichen und netzwirtschaftlichen Einstandspreisentwicklung. Der Verordnungsgeber gehe vielmehr davon aus, dass die Inflationsrate die Differenz zwischen der Inputpreis- und der Produktivitätsentwicklung in der Gesamtwirtschaft ausdrücke.
8Die Bundesnetzagentur habe den Index der durchschnittlichen Netzentgelte rechtmäßig als Deflator der Umsatzerlöse zur Ermittlung preisbereinigter Ausbringungsmengen ausgewählt. Die Bestimmung des Produktivitätsfaktors sei jedoch rechtswidrig, weil der von der Bundesnetzagentur ermittelte Wert nicht robust gegenüber Veränderungen des betrachteten historischen Zeitraums (Stützintervalls) sei. Die Einschätzung der Bundesnetzagentur, der der Ermittlung des Produktivitätsfaktors bei Anwendung des Törnqvist-Indexes zugrundeliegende Zeitraum von 2006 bis 2016 gewährleiste zuverlässige Ergebnisse, beruhe auf einem Ermittlungs- und Ermessensdefizit. Die Bundesnetzagentur habe fehlerhaft die Ursachen der starken Schwankungen der sich für verschiedene, von ihr in Betracht gezogene kürzere Stützintervalle ergebenden sektoralen Produktivitätsfaktoren nicht untersucht. Für die Einbeziehung des Jahres 2006 in die Betrachtung fehle es an einer hinreichenden Begründung, da die Bundesnetz-agentur dieses Jahr wegen einer unzuverlässigen Datenbasis zunächst nicht berücksichtigt habe. Die Bundesnetzagentur habe sich außerdem zu wenig mit den Auswirkungen des Jahres 2006 als erstem Jahr der Entgeltregulierung und dem in diesem Jahr durch die Verschiebung von Investitionen durch Netzbetreiber in das Basisjahr aufgetretenen Sondereffekt (Basisjahreffekt) auseinandergesetzt. Sie habe schließlich nicht ausreichend begründet, weshalb sie bei der (später erfolgten) Festlegung des Produktivitätsfaktors für den Strombereich die Plausibilisierung abweichend vom Gasbereich vorgenommen habe.
9Rechtswidrig sei es ferner, dass die Bundesnetzagentur bei der Berechnung der Abschreibungen als Bestandteil der Einstandsfaktoren handelsrecht-liche anstatt der in §§ 6, 6a GasNEV vorgegebenen kalkulatorischen Grundsätze angewendet habe. Sie habe grundsätzlich keinen Entscheidungsspielraum, ob sie handelsrechtliche oder kalkulatorische Grundsätze heranziehe, sofern der Verordnungsgeber bei bestimmten Kostenanteilen wie den Abschreibungen mit §§ 6, 6a GasNEV einen kalkulatorischen Ansatz vorgegeben habe; diese Vorgaben seien vielmehr nicht nur im Rahmen der Kostenprüfung, sondern auch bei der Berechnung des Produktivitätsfaktors maßgeblich.
10Ferner sei die Ermittlung des Produktivitätsfaktors anhand des Törnqvist-Indexes deshalb zu beanstanden, weil die Bundesnetzagentur einen jährlich aktualisierten Zins für das Fremdkapital herangezogen habe. Obwohl § 9 ARegV keine ausdrückliche Beschränkung auf kalkulatorische Werte vorsehe, fuße die Ermittlung des Produktivitätsfaktors als Bestandteil der Regulierungsformel auf den einschlägigen Vorgaben der Anreizregulierungsverordnung und der Netzentgeltverordnungen. Daher bestünden zwar keine Bedenken, dass die Bundesnetzagentur für die Entwicklung des Inputfaktors "Zinsen und ähnliche Aufwendungen" die in § 7 Abs. 7 GasNEV aufgeführten Zinsreihen herangezogen habe. Fehlerhaft sei es aber, dass sie einen jährlichen Durchschnitt dieser Zinsreihen anstatt eines auf mehrere Kalenderjahre bezogenen Durchschnitts (rollierenden Mittelwerts) gebildet habe.
11Bei der Berechnung des Malmquist-Indexes, den die Bundesnetzagentur zur Plausibilisierung des durch den Törnqvist-Index ermittelten Werts herangezogen habe, habe sie es ermessensfehlerhaft unterlassen, entsprechend § 12 Abs. 3 und 4a ARegV eine Bestabrechnung vorzunehmen. Das Prinzip der Bestabrechnung sei auf die Festlegung des Produktivitätsfaktors anzuwenden, um den berechtigten Interessen der Netzbetreiber an einer rechtssicheren und nachvollziehbaren Berechnung des Faktors zu entsprechen.
12II. Diese Bewertung hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde der Bundesnetzagentur nicht stand. Der Senat hat bereits entschieden, dass die angefochtene Festlegung der Bundesnetzagentur entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht zu beanstanden ist (BGH, Beschlüsse vom - EnVR 7/20, BGHZ 228, 286 Rn. 14 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; - EnVR 101/19, ZNER 2021, 392 Rn. 14 ff.; - EnVR 72/19, juris Rn. 14 ff.; vom - EnVR 17/20, RdE 2022, 119 Rn. 12 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II; EnVR 12/20, juris Rn. 21 ff.). Das Vorbringen der Betroffenen im vorliegenden Fall führt zu keiner abweichenden Beurteilung.
131. Nach § 21a Abs. 2 Satz 1 EnWG werden in der Anreizregulierung für eine Regulierungsperiode unter Berücksichtigung von Effizienzvorgaben Obergrenzen für die Höhe der Netzzugangsentgelte oder die Gesamterlöse aus Netzzugangsentgelten vorgegeben. Die Vorgaben für die Entwicklung oder Festlegung der Obergrenze innerhalb einer Regulierungsperiode müssen nach § 21a Abs. 4 Satz 7 EnWG den Ausgleich der allgemeinen Geldentwertung unter Berücksichtigung eines Produktivitätsfaktors vorsehen. Dieser ist nach der auf der Grundlage von § 21a Abs. 6 EnWG von der Bundesregierung erlassenen Regulierungsformel in Anlage 1 zu § 7 ARegV ein Korrekturfaktor für den durch das Statistische Bundesamt veröffentlichten Verbraucherpreisgesamtindex. Durch ihn soll gewährleistet werden, dass bei der Bestimmung der Erlösobergrenzen berücksichtigt wird, ob und gegebenenfalls in welchem Maße sich die Produktivität der Netzbetreiber abweichend von der Gesamtwirtschaft entwickelt. Der Produktivitätsfaktor wird gemäß § 9 Abs. 1 ARegV ermittelt aus der Abweichung des netzwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritts vom gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt und der gesamtwirtschaftlichen Einstandspreisentwicklung von der netzwirtschaftlichen Einstandspreisentwicklung. Die Bundesnetz-agentur hat den Produktivitätsfaktor gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 ARegV ab der dritten Regulierungsperiode jeweils vor Beginn der Regulierungsperiode für die gesamte Regulierungsperiode nach Maßgabe von Methoden, die dem Stand der Wissenschaft entsprechen, zu ermitteln. Die Ermittlung hat unter Einbeziehung der Daten von Netzbetreibern aus dem gesamten Bundesgebiet für einen Zeitraum von mindestens vier Jahren zu erfolgen (§ 9 Abs. 3 Satz 2 ARegV).
14Diese Regelungen finden auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (nachfolgend: Unionsgerichtshof) vom (C-718/18, RdE 2021, 534 Rn. 112 ff.) weiterhin Anwendung (BGH, RdE 2022, 119 Rn. 13 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II; vgl. auch , RdE 2020, 78 Rn. 60 ff., 70 ff. - Normativer Regulierungsrahmen). Das stellen weder die Betroffene noch die Bundesnetzagentur in Frage. Allerdings fordert das Unionsrecht eine Auslegung der Anreizregulierungsverordnung dahin, dass der Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur soweit als möglich Geltung verschafft wird. Dem entspricht die Entscheidung des Senats vom (BGHZ 228, 286 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I), dass die Festlegung des Produktivitätsfaktors auch unter Berücksichtigung der dazu in der Anreizregulierungsverordnung enthaltenen und nach dem Ausgeführten im Grundsatz weiterhin anwendbaren Regelungen inhaltlich nicht vollständig rechtlich determiniert ist. Eine von der Bundesnetzagentur bei der Wahl der Methode oder bei der Anwendung der gewählten Methode getroffene Auswahlentscheidung kann von Rechts wegen nur dann beanstandet werden, wenn sich feststellen lässt, dass der gewählte methodische Ansatz von vornherein ungeeignet ist, die Funktion zu erfüllen, die ihm nach dem durch die Entscheidung der Regulierungsbehörde auszufüllenden gesetzlichen Rahmen zukommt, oder wenn ein anderes methodisches Vorgehen unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände so deutlich überlegen ist, dass die getroffene Auswahlentscheidung nicht mehr als mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbar angesehen werden kann (BGHZ 228, 286 Rn. 28 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; vgl. auch , ZNER 2020, 234 Rn. 33, 36 bis 38 - Eigenkapitalzinssatz III mwN; u.a., juris). An diesem Prüfungsmaßstab hält der Senat unter Berücksichtigung des Vorbringens der Betroffenen auch im vorliegenden Verfahren fest (vgl. BGH, RdE 2022, 119 Rn. 17 f. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II). Zusätzlich ist lediglich auf folgendes hinzuweisen:
15a) Ohne Erfolg macht die Betroffene geltend, das methodische Vorgehen der Bundesnetzagentur müsse sich im Rahmen dessen bewegen, was nach aktuellen fachlichen Erkenntnissen zu den geeignetsten Wegen zur Ermittlung eines Produktivitätsfaktors zähle und sie dürfe sehenden Auges allenfalls auf eine bessere Methodik verzichten, wenn absehbar sei, dass der damit verbundene zusätzliche Aufwand in keinem Verhältnis zum erwarteten Erkenntnisgewinn stehe; die Beschwerdegegnerin mache jedoch von ihrem Beurteilungsspielraum keinen rechtmäßigen Gebrauch, wenn sie (nur) für den fachfremden Betrachter prima facie nachvollziehbare Erwägungen nennen könne. Das ist nicht geeignet, der Beurteilung des Senats entgegenzutreten. Der Senat hat festgestellt, dass die Bundesnetzagentur mit sachverständiger Unterstützung wissenschaftlich anerkannte Methoden zur Ermittlung von Produktivitätsentwicklungen gewählt (BGHZ 228, 286 Rn. 32 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I) und in nicht zu beanstandender Weise angewendet hat (BGH, BGHZ 228, 286 Rn. 33 ff.; 45 ff.; 62 ff.; 70 ff.; 100 ff.; 107 ff.; 113 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I).
16b) Soweit die Betroffene eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, Art. 47 GrCh) rügt und geltend macht, es gebe keinen hinreichenden Grund, von dem bisherigen etablierten Prüfungsmaßstab abzuweichen, wonach die eingeschränkte richterliche Kontrolle der Ausübung behördlicher Beurteilungsspielräume sich jedenfalls auf die Prüfung einer zutreffenden und vollständigen Sachverhaltsermittlung erstreckt, greift das zu kurz.
17aa) Die Betroffene lässt außer Acht, dass es bei der Anwendung der hier in Rede stehenden komplexen ökonometrischen Methoden nicht um eine Tatsachenfeststellung geht. Ein für die Zukunft abzuschätzender Produktivitätsfaktor kann von vornherein nicht dahin überprüft werden, ob er "richtig" oder "falsch" ist (BGHZ 228, 286 Rn. 18 f. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I). Je nach Wahl der verwendeten ökonometrischen Methode(n) und der bei ihrer Anwendung getroffenen zahlreichen weiteren Entscheidungen unter anderem über die betrachteten Zeiträume, die verwendeten Datengrundlagen und deren etwaige Bereinigung kann der Produktivitätsfaktor methodisch einwandfrei in verschiedener Weise bestimmt werden und verschiedene Werte annehmen. Vor diesem Hintergrund sind auch bei der Auswahl, Bewertung und Anwendung der Datengrundlagen methodische Entscheidungen zu treffen, bei denen der Bundesnetzagentur ein (weiter) Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht (BGHZ 228, 286 Rn. 20 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I).
18bb) Dem stehen die von der Rechtsbeschwerde angeführten Entscheidungen des Unionsgerichtshofs und des Gerichts der Europäischen Union nicht entgegen, weil ihnen andere Fallgestaltungen zugrunde liegen.
19(1) Die Urteile des Unionsgerichtshofs vom (C-630/13, juris Rn. 46 - Abouba) und des Gerichts der Europäischen Union vom (T-331/14, juris Rn. 43 - Azarov) beziehen sich auf die Aufnahme von Personen in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen. Eine solche Aufnahmeentscheidung hat der Unionsrichter im Hinblick darauf zu überprüfen, ob sie auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht (EuGH, aaO; EuG, aaO). Das setzt eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die dieser Entscheidung zugrunde liegen. Insoweit geht es darum, ob die Behörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist. Das unterliegt nach den maßgeblichen Grundsätzen immer der gerichtlichen Überprüfung (vgl. , BVerfGK 16, 418 [juris Rn. 52, 58 f.]).
20(2) Die Entscheidungen des Unionsgerichthofs vom (C-12/03, WuW/E EU-R 875 Rn. 39, 46 - Kommission/Tetra Laval) und vom (C-295/12, WuW/E EU-R 3115 Rn. 54 - Telefónica) betreffen die Beurteilung, welche Auswirkungen ein Zusammenschlussvorhaben haben werde, sowie die Festsetzung eines Bußgelds durch die Kommission wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. In diesem Zusammenhang hat der Unionsgerichtshof ausgesprochen, dass der Unionsrichter nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren muss, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse untermauern können (EuGH, ebenda). Auch insoweit handelt es sich jeweils um tatsächliche Sachverhalte, auf die eine Entscheidung gestützt ist und die daher der Überprüfung darauf unterliegen, ob sie zutreffend und vollständig ermittelt worden sind. Das kann aber nicht auf die Anwendung einer komplexen ökonometrischen Methode zur Abschätzung eines prognostischen Werts auf der Grundlage von allgemeinen Wirtschaftsdaten und branchenweit erhobenen Daten übertragen werden. Es handelt sich insoweit schon nicht um eine auf der Grundlage eines Sachverhalts getroffene Entscheidung im obigen Sinn, sondern um ein methodisches Vorgehen, wobei die Methoden gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 ARegV dem Stand der Wissenschaft zu entsprechen haben.
21c) Nicht durchgreifend ist die Ansicht der Betroffenen, bei nicht behebbaren Erkenntnisdefiziten sei die einzig im Lichte von Art. 12 Abs. 1 GG zulässige Entscheidung, den Produktivitätsfaktor auf null oder gar nicht festzusetzen. Dem liegt ein Fehlverständnis von der Stellung und den Aufgaben der Bundesnetzagentur bei der Netzentgeltregulierung zugrunde.
22aa) Nach Art. 41 Abs. 1 Buchst. a GasRL ist die Bundesnetzagentur als nationale Regulierungsbehörde (§ 54 Abs. 1, 3 EnWG) dafür verantwortlich, anhand transparenter Kriterien die Fernleitungs- oder Verteilungstarife und die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen. Die Bestimmung der Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der anwendbaren Tarife, gehört zu den Zuständigkeiten, die der Bundesnetzagentur unmittelbar aufgrund der Gasrichtlinie vorbehalten sind (EuGH, RdE 2021, 534 Rn. 103 ff.). Sie übt diese Zuständigkeiten gemäß Art. 39 Abs. 4 und 5 GasRL unabhängig aus, kann völlig frei handeln und ist vor jeglicher Weisung und Einflussnahme von außen geschützt. Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung bedeutet, dass die Bundesnetzagentur im Rahmen der genannten Regulierungsaufgaben und -befugnisse ihre Entscheidungen selbständig und allein auf der Grundlage des öffentlichen Interesses trifft, um die Einhaltung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele zu gewährleisten, ohne externen Weisungen anderer öffentlicher und privater Stellen unterworfen zu sein. Die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur - auch gegenüber Trägern der exekutiven oder legislativen Gewalt - ist notwendig, um zu gewährleisten, dass die von der Bundesnetzagentur getroffenen Entscheidungen unparteiisch und nicht diskriminierend sind. Zudem gibt die vollständige Trennung von der politischen Macht der Bundesnetzagentur die Möglichkeit, bei ihrem Handeln eine langfristige Perspektive zu verfolgen, die erforderlich ist, um die Ziele der Gasrichtlinie zu verwirklichen (EuGH, RdE 2021, 534 Rn. 107 ff.).
23Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Gasrichtlinie keine hinreichend genauen materiellen Vorgaben zur Ausgestaltung der Netzzugangs- und Tarifierungsmethoden enthielte. Die Fernleitungs- und Verteilungstarife und die entsprechenden Berechnungsmethoden sind gemäß Art. 41 Abs. 1 GasRL anhand transparenter Kriterien zu bestimmen, sowie gemäß Absatz 6 Buchst. a dieser Vorschrift unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, dass die Lebensfähigkeit der Netze durch die notwendigen Investitionen zu gewährleisten ist. Nach Absatz 10 müssen die Tarife oder Methoden angemessen sein und in nicht diskriminierender Weise angewandt werden. Des Weiteren müssen nach Art. 41 Abs. 6 Buchst. b GasRL die Ausgleichsleistungen möglichst wirtschaftlich sein und den Netzbenutzern geeignete Anreize bieten, die Einspeisung und Abnahme von Gas auszugleichen; sie müssen auf faire und nicht diskriminierende Weise erbracht und auf objektive Kriterien gestützt werden. Nach Absatz 8 der Vorschrift muss die Bundesnetzagentur bei der Festsetzung oder Genehmigung der Tarife oder Methoden und der Ausgleichsleistungen sicherstellen, dass für die Übertragungs- und Verteilernetzbetreiber angemessene Anreize geschaffen werden, sowohl kurzfristig als auch langfristig die Effizienz zu steigern, die Marktintegration und die Versorgungssicherheit zu fördern und entsprechende Forschungsarbeiten zu unterstützen. Diese Kriterien werden durch die Verordnung Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen (Art. 13 ErdgasZVO) und die auf dieser Grundlage erlassene Verordnung (EU) 2017/460 der Kommission vom (NC TAR) ergänzt.
24Den beschriebenen normativen Rahmen hat der Gerichtshof als derart detailliert angesehen, dass sich keine Notwendigkeit ergebe, Kriterien für die Berechnung der Tarife auf nationaler Ebene aufzustellen (EuGH, RdE 2021, 534 Rn. 123). Die gemäß Art. 41 Abs. 17 GasRL vorgesehene Kontrolle durch die zuständigen Gerichte hat anhand dieses normativen Rahmens stattzufinden, um dem in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zu genügen (BGH, RdE 2022, 119 Rn. 15, 49 f. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II).
25bb) Der Senat hat bei der Auslegung der zwar unionswidrigen, gleichwohl aber weiterhin anwendbaren Vorschrift des § 9 Abs. 3 ARegV den beschriebenen Aufgaben und der Stellung der Bundesnetzagentur soweit als möglich Rechnung zu tragen (BGH, RdE 2022, 119 Rn. 15 mwN - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II). Vor diesem Hintergrund kommt die von der Betroffenen für richtig gehaltene Auslegung des § 9 Abs. 3 Satz 1 ARegV nicht in Betracht, wonach die Bundesnetzagentur entgegen der Ansicht des Senats (BGHZ 228, 286 Rn. 23 f. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I) tatsächliche Unsicherheiten bei der Prognosegrundlage keinesfalls hinnehmen dürfe, weitere Alternativen zu prüfen und sich um eine zusätzliche Absicherung des gefundenen Ergebnisses durch Robustheitsanalysen zu bemühen, sowie schließlich bei nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand aufzuklärenden tatbestandlichen Erkenntnisdefiziten den Produktivitätsfaktor auf null zu setzen habe. Eine solche Auslegung würde - wie das vorliegende Verfahren eindrücklich zeigt - angesichts der niemals vollständig zu vermeidenden tatsächlichen Unsicherheiten, die mit der Auswahl und Anwendung einer komplexen ökonometrischen Methode bei der hier vorzunehmenden schwierigen Abschätzung eines prognostischen Werts verbunden sind, die regulatorische Aufgabe verfehlen. Sie müsste stets dazu führen, dass der Produktivitätsfaktor auf null zu setzen wäre. Das wäre unionsrechtswidrig. Dadurch würde die durch die richtlinienwidrige aber gleichwohl (noch) anzuwendende Vorschrift des § 9 Abs. 3 ARegV bereits eingeschränkte Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur zusätzlich beschnitten und sie daran gehindert, in einem komplexen Akt wertender Erkenntnis von ihr für angemessen gehaltene Tarife festzulegen.
26cc) Entgegen der Ansicht der Betroffenen ist die von ihr für richtig gehaltene Auslegung auch durch Art. 12 Abs. 1 GG im Lichte von Art. 16 GrCh (vgl. , BVerfGE 158, 1 Rn. 46, 56 ff., 81) nicht geboten. Es kann dabei unterstellt werden, dass ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit, mithin die Freiheit, das Entgelt für berufliche Leistungen selbst festzusetzen oder mit den Interessenten auszuhandeln, vorliegt (BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 2738/08, BVerfGK 16, 449 [juris Rn. 21]; vom - 1 BvR 1932/08, BVerfGK 19, 229 [juris Rn. 45]. Dieser Eingriff ist aber gerechtfertigt. Die Regulierung des Erdgasbinnenmarkts verfolgt mit den Zielen der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versorgung mit Elektrizität und Gas und der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen gewichtige Gemeinwohlziele (§ 1 Abs. 2 EnWG). Diesen Zielen dient, wie oben dargelegt, auch die unabhängige Stellung der Bundesnetzagentur. Kann sie im Hinblick auf die Grenzen der rechtlichen Determinierung und Determinierbarkeit der Aufklärung und Bewertung komplexer ökonomischer Zusammenhänge ihre regulatorischen Aufgaben nicht erfüllen, werden die regulatorischen Ziele verfehlt. Die Betroffene zeigt nicht auf, dass die von der Bundesnetzagentur für die dritte Regulierungsperiode Gas (2018 bis 2022) festgelegten Erlösobergrenzen dazu führen, dass ihre Entgelte hinter einem gemäß Art. 41 GasRL, § 21 Abs. 2 EnWG angemessenen Netzentgelt zurückbleiben oder sie notwendige Investitionen in die Netze nicht mehr vornehmen kann. Aus den gleichen Gründen liegt die von der Betroffenen geltend gemachte Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG im Lichte von Art. 17 GrCh nicht vor.
272. Nach den danach anzuwendenden Maßstäben hält die Beurteilung des Beschwerdegerichts rechtlicher Nachprüfung nicht stand, der von der Bundesnetzagentur anhand eines Törnqvist-Indexes festgesetzte Produktivitätsfaktor in Höhe von 0,49 % sei nach einem grundsätzlich rechtmäßigen Verfahren bestimmt, im Ergebnis jedoch rechtswidrig, weil das zugrunde liegende Stützintervall (der für die Prognose betrachtete Zeitraum der Jahre 2006 bis 2016) zu wenig robust sei, die Bundesnetzagentur die Ursachen der Schwankungen im Vergleich zu anderen möglichen Stützintervallen nicht untersucht habe und das Jahr 2006 auf der gegebenen Grundlage nicht hätte in die Betrachtung einbezogen werden dürfen, wie der Senat bereits in seinen Entscheidungen vom 26. Januar und ausgeführt hat (BGHZ 228, 286 Rn. 30 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; BGH, RdE 2022, 119 Rn. 19 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II). Auf die Begründung dieser Entscheidungen wird verwiesen (zur als unzureichend gerügten Begründung: BGHZ 228, 286 Rn. 62 bis 67 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; BGH, RdE 2022, 119 Rn. 30 f. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II; zum Stützintervall 2006 bis 2016: BGHZ 228, 286 Rn. 77 bis 91 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; BGH, RdE 2022, 119 Rn. 41 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II; zum Basisjahreffekt, zur Mehrerlösabschöpfung und zum Strukturbruch: BGHZ 228, 286 Rn. 68 bis 76 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; BGH, RdE 2022, 119 Rn. 32 bis 39 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II; zum Deflator: BGH, BGHZ 228, 286 Rn. 53 ff. - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; zum Ansatz von Fremd- und Eigenkapitalzinssätzen: BGHZ 228, 286 Rn. 127, 128 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; zur Bereinigung um Aufholeffekte: BGHZ 228, 286 Rn. 139 bis 148 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I); zur Malmquist-Methode: BGHZ 228, 286 Rn. 149 bis 158 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; BGH, RdE 2022, 119 Rn. 47, 56 bis 59 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II). Zusätzlich ist im Hinblick auf das Vorbringen der Betroffenen lediglich auf folgendes hinzuweisen:
28a) Soweit die Betroffene geltend macht, es stehe fest, dass der nach der Törnqvist-Methode ermittelte Wert den "wahren" Produktivitätsfaktor überschätze und der vom Gesetzgeber festgelegte Produktivitätsfaktor sei - wie die Festlegung von 0,49 % für die dritte Regulierungsperiode ergeben habe - in den ersten beiden Regulierungsperioden "zu hoch" gewesen, trifft das nicht zu. Der Wert des "wahren" Produktivitätsfaktors ist unbekannt und nicht ermittelbar (BGHZ 228, 286 Rn. 18 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I; BGH, RdE 2022, 119 Rn. 17 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II). Er kann (deutlich) höher sein als 0,49 % oder auch darunterliegen. Die Bundesnetzagentur hat berücksichtigt, dass die Törnqvist-Methode nicht erlaubt, individuelle Aufholeffekte und die Verschiebung der sektoralen Effizienzgrenze zu unterscheiden (Festlegung S. 33). Sie hat aus diesem Grund zusätzlich die Malmquist-Methode angewendet, die dies zulässt, aber einen höheren Produktivitätsfaktor ergeben hat. Weitere Überprüfungen oder Absicherungen waren nach den für die Abschätzung geltenden Maßgaben nicht erforderlich.
29b) Aus den gleichen Gründen greift das Vorbringen der Betroffenen zu kurz, schon allein weil eine jahresscharfe Gewichtung der Subindizes bei der Deflationierung der Umsatzerlöse "schlicht richtig" sei, sei diese einer konstanten Gewichtung greifbar überlegen und hätte daher angewendet werden müssen und zu einem um etwa 0,45 Prozentpunkte geringeren Produktivitätsfaktor geführt. Dass die Veränderung eines einzelnen Rechenschritts im Rahmen der Anwendung einer komplexen ökonometrischen Methode - was im Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen ist - zu einem niedrigeren Produktivitätsfaktor führt, sagt nichts darüber aus, ob der sich sodann ergebende Wert "richtiger" ist (BGHZ 228, 286 Rn. 56 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I). Der Würdigung der Bundesnetzagentur ist es vielmehr überlassen, welche Kriterien heranzuziehen und in welcher Weise diese anzuwenden und zu anderen Kriterien ins Verhältnis zu setzen sind, wobei ihr Vorgehen auch nach Ansicht des Beschwerdegerichts insoweit methodisch zulässig war (BGH, RdE 2022, 119 Rn. 23 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor II).
30c) Soweit die Betroffene schließlich geltend macht, die Bundesnetz-agentur habe sich nicht ausreichend mit dem Strukturbruch, der im Beginn der Netzentgeltregulierung 2006 liege, sowie mit der Mehrerlösabschöpfung auseinandergesetzt, und der in der Auswahl des Stützintervalls 2006 bis 2016 liegende Ansatz sei methodisch "schlicht falsch und unvertretbar", weil er zu einer Verzerrung führe, stellt sie nicht in Abrede, dass der Basisjahreffekt als solcher eine tatsächliche Entwicklung widerspiegelt und auf einer unternehmerischen Entscheidung der Netzbetreiber beruht. Die Bundesnetzagentur ist nicht zwingend gehalten, diesen Effekt zu neutralisieren oder auszugleichen. Eine mögliche Ergebnisverzerrung ist nur ein Aspekt, der bei der Auswahl des Stützintervalls von Bedeutung sein und gegebenenfalls ein anderes Stützintervall als greifbar überlegen erscheinen lassen kann (BGHZ 228, 286 Rn. 75 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I). Bei einer Heranziehung etwa des Stützintervalls von 2009 bis 2016, das jeweils das Jahr vor und nach einem Basisjahr einbezieht, ergab sich aber ein Produktivitätsfaktor von 2,14 % und damit ein wesentlich größerer Produktivitätsfortschritt. Dieses Stützintervall kann daher dem von der Bundesnetzagentur herangezogenen nicht unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Überschätzung überlegen sein (BGHZ 228, 286 Rn. 74, 75 - Genereller sektoraler Produktivitätsfaktor I). Entgegen der Ansicht der Betroffenen ist die Bundesnetzagentur nicht verpflichtet, sämtliche in Betracht kommenden Zeiträume zu überprüfen und die für die Netzbetreiber günstigsten (etwa das Stützintervall 2008 bis 2016 mit einem Wert von - 2,6 %) auszuwählen. Plausibel erscheint demgegenüber die Bewertung, dass bei einem Mittelwert von 0,51 % der acht betrachteten Zeiträume ein Wert von 0,49 % vertretbar und ausreichend gesichert ist (Festlegung, S. 20).
31C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 90 EnWG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:280622BENVR10.20.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-27131