BGH Beschluss v. - VI ZR 68/21

Einrede der mangelnden Prozesskostensicherheit: Zulässigkeit in einer höheren Instanz; Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit für Kläger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich und in der Schweiz

Leitsatz

1. In einer höheren Instanz ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist.

2. Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom .

3. Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 32, 38 ff. des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom .

Gesetze: § 110 Abs 2 Nr 1 ZPO, § 110 Abs 2 Nr 2 ZPO, § 532 S 2 ZPO, § 565 S 1 ZPO, Art 9 Abs 1 EuNiederlAbk vom , Art 32 VollstrZustÜbk 2007, Art 38 VollstrZustÜbk 2007, Art 38ff VollstrZustÜbk 2007

Instanzenzug: Az: 3 U 2445/18 Beschlussvorgehend LG Nürnberg-Fürth Az: 11 O 9597/16 Urteilnachgehend Az: VI ZR 68/21 Beschluss

Gründe

I.

1Der Kläger, der jedenfalls bis Ende des Jahres 2020 im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (im Folgenden: Vereinigtes Königreich) lebte, nimmt die Beklagten auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Zeitungsartikels in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers.

2Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde haben die Beklagten vor dem Hintergrund, dass das Vereinigte Königreich seit dem nicht mehr als Mitglied der Europäischen Union zu behandeln ist, die Anordnung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 1 ZPO für die Kosten aller Instanzen beantragt. Der Kläger rügt den Antrag als verspätet. Er macht darüber hinaus geltend, gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung befreit zu sein, da er seinen Wohnsitz zum in die Schweiz verlegt habe.

II.

3Dem Antrag der Beklagten bleibt der Erfolg versagt. Er war durch Beschluss zurückzuweisen (vgl. , juris; zum Antrag auf Anordnung einer ergänzenden Prozesskostensicherheit gem. § 112 Abs. 3 ZPO: BGH, Beschlüsse vom - I ZR 9/20, juris Rn. 3 und vom - XI ZR 549/17, WM 2018, 2242 Rn. 5).

41. Das erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit ist verspätet (§ 565 Satz 1, § 532 Satz 2 ZPO).

5a) Die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten gehört zu den die Zulässigkeit der Klage betreffenden verzichtbaren Rügen, die grundsätzlich vor der ersten Verhandlung zur Hauptsache, und zwar für alle Rechtszüge, erhoben werden muss (§ 532 Satz 2, § 282 Abs. 3 ZPO; BGH, Beschlüsse vom - I ZB 21/21, WM 2021, 2295 Rn. 19; vom - X ZR 54/19, juris Rn. 9; vom - IX ZR 150/05, juris Rn. 9; Urteil vom - XI ZR 243/00, NJW 2001, 3630, juris Rn. 7). Gemäß § 111 ZPO kann der Beklagte allerdings auch dann wegen der Prozesskosten Sicherheit verlangen, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung erst im Laufe des Rechtsstreits eintreten und nicht ein zur Deckung ausreichender Teil des erhobenen Anspruchs unbestritten ist. Da über die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nur einmal und nicht in jeder Instanz erneut entschieden werden soll, ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung in einer höheren Instanz nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom - I ZB 21/21, WM 2021, 2295 Rn. 19; vom - X ZR 54/19, juris Rn. 9; vom - IX ZR 150/05 Rn. 9; Urteil vom - XI ZR 243/00, NJW 2001, 3630, juris Rn. 7).

6b) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

7aa) Wie die Beklagten nicht in Zweifel ziehen, trat der Umstand, auf den sie ihr Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit stützen, bereits in der Berufungsinstanz ein. Die Übergangszeit nach Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft vom (ABl. 2020, L 29 vom , S. 7 ff. - im Folgenden: Austrittsabkommen), während derer das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der Europäischen Union gemäß § 1 BrexitÜG noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist am abgelaufen. Das Berufungsverfahren ist aber erst mit Erlass des Beschlusses des Berufungsgerichts vom abgeschlossen worden. Bis zum Erlass dieses Beschlusses eingehende Schriftsätze hätte das Berufungsgericht zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung sowie der Bestimmung in § 111 ZPO berücksichtigen müssen (vgl. , ZMR 2017, 74 Rn. 12 f.). Dem steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt des Ablaufs der Übergangszeit keine den Beklagten gesetzte Frist lief und im Berufungsverfahren nicht mündlich verhandelt worden ist. Maßgeblich ist allein, dass der behauptete Zulässigkeitsmangel bereits in der Berufungsinstanz bestand (vgl. Rimmelspacher in MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 532 Rn. 13; Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 532 Rn. 3).

8bb) Die Beklagten haben auch keine Entschuldigungsgründe für die Versäumung des Antrags im Berufungsverfahren vorgebracht. Dass der Antrag nur mit einer "geringfügigen" Verzögerung von weniger als vier Monaten gestellt worden ist, ist - anders als die Beklagten meinen - ohne Bedeutung. Entscheidend ist, dass er nicht - wie geboten - in der Berufungsinstanz, sondern erst in der Revisionsinstanz gestellt worden ist.

92. Abgesehen davon liegen die Voraussetzungen des § 110 ZPO für die Anordnung einer Prozesskostensicherheit nicht vor; dies gilt unabhängig von der Frage, ob der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Vereinigten Königreich (dazu nachstehend a) oder, wie von ihm geltend gemacht, mittlerweile in der Schweiz (dazu nachstehend b) hat.

10a) Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Vereinigten Königreich, sind die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO zwar erfüllt. Denn das Vereinigte Königreich ist am aus der Europäischen Union ausgetreten; die Übergangszeit nach Art. 126 des Austrittsabkommens, innerhalb derer das Vereinigte Königreich nach § 1 BrexitÜG noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist abgelaufen.

11Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom (BGBl. II 1959 S. 998), das für das Vereinigte Königreich am in Kraft getreten ist (BGBl. II 1970 S. 843), von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit (vgl. Schütze in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 110 Rn. 48, 54; OLG Koblenz RIW 1990, 753 zu § 110 ZPO in der bis zum geltenden Fassung vom ). Das Abkommen gilt für alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitzen (Art. 30 Abs. 1 iVm Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens). Da die Befreiung von der Pflicht zur Sicherheitsleistung in § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO - anders als in der bis zum geltenden Fassung - nicht von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig ist (vgl. dazu , NJW 2001, 1219, juris Rn. 7), wirkt sich der von der Regierung des Vereinigten Königreichs zu Art. 9 des Abkommens erklärte Vorbehalt, die Absätze 1 und 2 so anzuwenden, als seien die Worte "oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland" im Absatz 1 nicht enthalten (vgl. BGBl. II 1970 S. 843), nicht aus (vgl. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, S. 1437, 1442 [(Anhang: Hinweise zur Befreiung von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Prozesskosten (§ 110 II Nr. 1 und 2 ZPO) und zur Verbürgung der Gegenseitigkeit (§ 328 I Nr. 5 ZPO bzw. § 109 IV FamFG)]).

12b) Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz, gilt im Ergebnis nichts Anderes. Dann sind zwar die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO ebenfalls erfüllt, da es sich bei der Schweiz weder um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union noch um einen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum handelt.

13Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit. Die Entscheidung über die Erstattung der Prozesskosten der Beklagten würde, wie in dieser Bestimmung vorausgesetzt, auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags - des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom (LugÜ II, Abl. L 147 vom S. 5, ABl. L 138 vom S. 1) - in der Schweiz vollstreckt. Dieses Übereinkommen sichert auch die Wirkungserstreckung von Kostentiteln; gemäß Artikel 32 LugÜ II ist unter "Entscheidung" im Sinne des Übereinkommens, die nach dessen Art. 38 ff. zu vollstrecken ist, auch der Kostenfestsetzungsbeschluss eines Gerichtsbediensteten zu verstehen (vgl. Gottwald in Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, Ausländer als Verfahrensbeteiligte, Rn. 5.97, 5.115 sowie , NJW 2001, 1219, juris Rn. 13; Schütze, RIW 1999, 10, 14; jeweils zum Luganer Übereinkommen vom ).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:270922BVIZR68.21.1

Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 10 Nr. 49
RIW 2023 S. 162 Nr. 3
ZIP 2022 S. 2463 Nr. 48
YAAAJ-27046